Lust, Spannung und Depression

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

„Ich weiß auch nicht: wenn ich etwas anderes will, als meine Partnerin, schluck ich das ganz lange runter, bis ich explodiere. Dann knallt’s, ich entschuldige mich und es wird wieder ruhig. Dann merke ich aber, dass es wieder so wird wie vorher und ich einfach nicht aus dem Quark komme. Ich will das nicht, denn es wiederholt sich jetzt schon viel zu lange immer wieder so, aber ich weiß mir nicht zu helfen. Können Sie mir sagen, was ich tun soll?“

So oder so ähnlich klingen viele meiner KlientInnen, wenn sie in meine Praxis kommen. Ich stehe dann jedes Mal vor dem Dilemma, dass ich den Auftrag gern erfüllen würde, diese Art von Problemen aber nicht durch Instruktionen lösen kann. Es gibt sicher viele How-to-Ansätze, die in einer Abfolge von Schritten Orientierung geben wollen, wie sich im Leben Konflikte und Entscheidungsprobleme lösen lassen. Und wäre es nicht wunderbar und erleichternd, wenn das einfach funktionieren würde? Wenn wir glauben dürften, dass etwas sicher und erprobt ist und wir blind folgen könnten, ohne enttäuscht zu werden? Aber Situationen im Leben ändern sich schnell und selbst bei erprobten Ansätzen müssen wir jedes Mal neu schauen, wie deren Grundannahmen in der aktuellen Situation auftauchen und wirken.

Da das Anliegen hinter der Frage jedoch Orientierung ist, möchte ich hier einen Ansatz vorstellen, der in der letzten Zeit in der Arbeit mit Klienten und aus der Synthese all meiner vorherigen Erfahrung und gelernten Modelle entstanden ist. Die Kriterien dafür sind die einer guten Landkarte: genug Genauigkeit und Detailliertheit, um eine allgemeine Richtung und Ansatzpunkte zur inneren Erforschung zu liefern, bei gleichzeitigem Freiraum für die Komplexität des Lebens, die sich weder reduzieren noch festlegen lässt.

Spektrum der Spannung

Als Grundproblem möchte ich Folgendes definieren: immer, wenn ich etwas will und die Situation gibt es nicht her, entsteht Spannung. Im obigen Zitat sind es unterschiedliche Wünsche zwischen dem Klienten und seiner Partnerin. Es kann aber auch ein praktisches Problem sein, für das ich noch keine Lösung habe. Oder eine Sehnsucht nach etwas anderem im Leben, das noch nicht da ist.

„Spannung“ ist ein Begriff, den wir sowohl für Angenehmes als auch Unangenehmes verwenden, das heißt, es gibt eine Art Spektrum dafür, wie wir Spannung erleben. Und je nachdem, wo wir auf dem Spektrum sind, gehen wir unterschiedlich damit um… oder bleiben stecken und kommen nicht weiter, wie der zitierte Klient. Im folgenden Schaubild will ich dieses Spektrum anhand des Yin/Yang-Symbols illustrieren:

Schaubild 1

Das Symbol aus dem Taoismus steht für Wandel, der sich aus dem Spiel zwischen Yin und Yang ergibt. Yang (weiß) repräsentiert die Ordnung und Yin (schwarz) das Chaos. Ordnung und Chaos verstehe ich weder als gut noch schlecht, denn Chaos kann sowohl zerstörerisch als auch fruchtbar sein und Ordnung kann stabilisieren, aber auch ersticken. Aus diesem Grund gibt es keinen Endzustand im Leben, der einfach perfekt wäre, sondern es ist immer ein Balanceakt, der Liebe, Wachheit und Klarheit erfordert, wenn er gelingen soll.

Die Linie in der Mitte soll das Spektrum der Spannung bezeichnen, eingeteilt in drei Zonen: eine Stabilitätszone, eine Lernzone, in der wir auch Sinn erleben, und eine Panikzone. Wenn wir etwas „spannend“ nennen, sprechen wir in der Regel von der Lernzone. Die Panikzone drückt sich in Worten wie „zu viel“, „Albtraum“ oder „höllisch“ aus. Die Stabilitätszone zeichnet sich durch Ruhe und Entspannung aus, kann aber auch als langweilig und erdrückend erlebt werden.

Übertragen auf das Leben heißt das, dass wir drei verschiedene Arten von Situationen haben. In der Stabilitätszone (1) wissen wir z.B. wo wir wohnen, wie wir den Kühlschrank voll kriegen und zu wem wir gehen, wenn wir uns unterhalten wollen. Wir haben Überblick und leben in bekannten Gefilden. Das kann wunderbar und erholsam sein, wenn wir zuvor lange ohne diese Ruhe ausgekommen sind, aber auch deprimierend und einengend. In der Lernzone (2) beschäftigen wir uns mit Problemen, die uns weiterbringen oder unser Leben verbessern, ohne die Sicherheit zu haben, dass es funktioniert. Es ist aufregend und „spannend“: ein angenehmes Kitzeln, die Lust etwas zu beeinflussen oder zu meistern. Hier erleben wir auch „Flow“ und Sinn – was wir tun ist bedeutsam und nicht egal. Wir sind am Rande unserer bekannten Welt, ohne diese jedoch komplett zu verlassen. Die Panikzone (3) schließlich taucht immer da auf, wo wir völlig im Unbekannten sind. Plötzliche Veränderungen wie der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust von Arbeit, Wohnung oder Gesundheit, die Zerstörung eines Traums oder lebensbedrohliche Situationen können so viel Spannung erzeugen, dass wir überfordert oder völlig am Ende sind. Und wenn wir überfordert sind, versuchen wir die Spannung auf alle erdenkliche Art und Weise zu reduzieren.

Das heißt, wie wir mit Spannung umgehen können, hängt von unserer Fähigkeit ab, mit Komplexität umzugehen. Wann immer ich etwas will, bekomme ich es mit verschiedenen Bedingungen, Ressourcen und den Grenzen und Wünschen anderer Menschen zu tun. Mein Leben wird also komplexer und chaotischer, wenn ich mehr will. Und unter Umständen so komplex, dass ich die Spannung nicht aushalte und sie um jeden Preis reduzieren will. Das ist nur menschlich, verständlich und geschieht meistens unbewusst, aber der Preis kann hoch sein und in sehr schmerzhafte Situationen führen, aus denen Menschen nur noch mit professioneller Hilfe herausfinden.

Spannung reduzieren vs. halten

Ich sehe im Prinzip zwei unreife und eine reife Art, Spannung zu reduzieren. Die unreifen Arten entwickeln wir, wenn wir klein sind. Und ohne Korrektur oder Reflexion kann es sein, dass wir darüber auch nie hinauswachsen. Die reife Art braucht Aufmerksamkeit und Bewusstsein und wird wahrscheinlich nie zur Gewohnheit, weswegen wir achtsam dran bleiben müssen, um nicht in die Unreife abzurutschen.

Wenn Spannung entsteht, weil zwei Menschen etwas Unterschiedliches wollen, kann ich Spannung reduzieren, indem ich Unterschiede ausmerze und das, was jemand will, für unwichtig erkläre. Das kann ich mit mir selber machen (Depression) oder mit meinem Gegenüber (Druck ausüben). Dafür gibt es Myriaden von unterschiedlichen Strategien und manchmal ist dieses Motiv sehr versteckt, aber das Grundprinzip ist immer das gleiche: Der Raum reicht nur für einen Willen, also muss einer der beiden seinen Willen aufgeben. Wenn z.B. ein 3jähriger Lust hat, mit der Mama zu spielen und sie will sich ausruhen, passt das nicht zusammen und erzeugt Spannung. Der Junge kann nun wütend auf seine Mama sein und sie doof finden (Druck in Form von Entwertungen, Vorwürfen und Forderungen ausüben), sich selbst für seine Lust zum Spiel beschimpfen (Depression, Selbst-Entwertung) oder versuchen, eine wirkliche Lösung zu finden. Für Letzteres muss er die Spannung aber halten, damit genug Zeit da ist, etwas anderes passendes zu finden (reifer Umgang).

Da wir als Kinder in der Regel nicht in der Lage sind, uns unabhängig von den Eltern zu versorgen oder uns Alternativen zur elterlichen Versorgung vorzustellen, kann die Spannung schnell zu viel werden und uns in die Panik-Zone katapultieren. „Was wenn die Mama mich nicht mehr will? Wo komm ich dann unter, wo krieg ich was zu essen, wer passt auf mich auf?“ Das heißt, der Druck kann sehr groß sein, auf das eigene Wollen zu verzichten, um die Beziehung nicht über ein bestimmtes Maß hinaus zu gefährden. Da das Wollen des Jungen zu Spannung in der Beziehung zur Mutter führt, kann er sich davon distanzieren und es in sich runterdrücken, also deprimieren. Das stabilisiert die Beziehung, kostet ihn aber den Ausdruck von Lebensenergie.

Hat der 3jährige eine Mutter, die ihre eigenen Wünsche für unwichtig erklärt, kann es aber auch sein, dass er sie mit Druck dazu bewegen kann, sich nicht auszuruhen, sondern mit ihm zu spielen. Das sieht wie ein Sieg aus, ist aber keiner, wenn wir bedenken, wie es sich anfühlt, wenn jemand aus Druck heraus etwas für uns tut: der Junge wird kaum Freude am Spiel mit der Mutter haben, wenn sie dafür ihr Wollen aufgegeben hat. Es kann dennoch sein, dass das besser ist als keine Interaktion und der Junge lernt, dass er mit Wutausbrüchen dafür sorgen kann, dass andere sich seinem Willen fügen, ohne dass er in den Genuss echter gemeinsamer Erfüllung kommt.

Denn für diese Erfüllung braucht es die Bereitschaft, die Spannung zu halten, alle Wünsche darin gelten zu lassen und einen Raum für neue Möglichkeiten zu öffnen. Hat die Mutter diese Kapazität entwickelt, kann sie mit dem Jungen so in Kontakt gehen, dass der Junge in seinem Wunsch gesehen wird, ohne dass sie ihren eigenen Wunsch aufgibt. Allein dieses „gesehen werden“ kann die Spannung sehr reduzieren, weil dadurch spürbar wird, dass die Beziehung durch die unterschiedlichen Wünsche nicht in Gefahr gerät und immer noch Potential besteht, gemeinsam zur Erfüllung zu kommen. Dafür muss die Mutter ihren eigenen Wunsch nach Erholung aufschieben können, ohne ihn aufzugeben, den Beziehungsraum halten und andere Möglichkeiten der Erfüllung auftauchen lassen, die konkret in eine Verabredung münden können. Diese Erfahrung kann den Jungen dazu ermutigen, auszudrücken, was er sich wünscht und gleichzeitig wahrzunehmen, was seine Mutter möchte, ohne dass einer dafür zurückstecken muss.

Oft genug jedoch haben Eltern diese Kapazität nicht, sind selber überfordert und haben keine Ressourcen, um den Raum so zu halten. Das heißt, das fordert uns als Kindern eine feine Abstimmung dessen ab, was die Beziehung aushält und was nicht. Und aus dieser Abstimmung bilden sich die unbewussten unreifen Strategien, Spannung zwischen Menschen so zu reduzieren, dass wir irgendwann in genau so einer Situation landen, wie mein Klient.

Lust

Wenn ich sage, dass etwas zu wollen das Leben komplexer macht, ist das nur eine Seite davon. Die andere Seite ist, dass das Wollen an sich unserem Leben Saft, Energie und Würze gibt. Sind wir in Kontakt damit, dass wir Lust auf etwas haben (sowohl sexuell, als auch ganz allgemein auf alles Schöne im Leben), belebt uns das, die Stimmung wird lustiger und dynamischer. Unser inneres Feuer, unsere Kraftquelle ist davon abhängig, dass wir es uns erlauben, etwas zu wollen. Fehlt uns dieses Feuer, fehlt uns der Grund, morgens aufzustehen, uns ins Unbekannte vorzuwagen oder etwas anzugehen, was wir noch nicht kennen. Außerdem fehlt uns die Kraft, dem Wollen anderer Menschen zu widerstehen und unseren eigenen Weg zu gehen, was sich in Angst und Erstarrung ausdrücken kann, aus der heraus wir uns anderen Menschen anpassen oder sie lieber meiden, uns isolieren und vereinsamen.

Erst in diesem Licht wird mir klar, warum Sigmund Freud die Sexualität so wichtig fand. Im historischen Kontext sehe ich, dass die sexuelle Aufklärung zu seiner Zeit hoffnungslos unterentwickelt war. Manche Frauen in den Schichten, die sich Psychoanalyse leisten konnten, hatten bis zur Hochzeitsnacht keine Ahnung, was Sexualität überhaupt ist, weil sie für die gesellschaftliche Stabilität systematisch davon ferngehalten wurden. Entsprechend riskant war es eben auch, dass Freud dieses Tabu brach. Eine der wichtigsten Begründungen für dieses Vorgehen war, dass er eine Verbindung zwischen Körper und Seele suchte, die seine Psychoanalyse auf legitimen medizinischen Boden stellte. Die Sexualität war diese Verbindung.

Wichtiger erscheint mir allerdings, dass die Lebensenergie der Lust unabdingbar dafür ist, dass das Leben Freude macht. Sie ist Treibstoff und Anlass für Chaos zugleich, weil sie in Bewegung bringt, ohne dass man wissen kann, wo einen das hinführt. Auch in Freuds Triebtheorie ist von dem ewigen Konflikt zwischen den Trieben und der Gesellschaft die Rede, der sich nicht reduzieren, höchstens umwandeln und sublimieren (veredeln) lässt. Ich habe nicht den Eindruck, dass Freud wusste, wie er in diesem Konflikt gut für sich sorgen konnte, denn er soll gesagt haben, dass er sich von der Psychoanalyse nicht mehr verspreche, als unneurotisches Unglück. Das klingt für mich auch wieder wie ein deprimierender Versuch, Spannung zu reduzieren, statt offen für erfüllende Möglichkeiten zu bleiben, mit der entsprechenden Unwissenheit, nicht zu wissen, ob und wie das gelingen kann.

Ich habe meinem Lehrer Gustl Marlock die Erfahrung zu verdanken, wie lustig Lust sein kann. In der Supervision mit ihm habe ich regelmäßig schallend gelacht, wenn er mich auf versteckte Lust und Versuche hingewiesen hat, wie Menschen vor sich selbst verstecken, dass sie etwas oder jemanden wollen. Das finde ich besonders komisch, wenn jemand aus der Depression heraus den Eindruck zu erwecken versucht, er/sie sei gar nicht da und sei total harmlos. Das ist menschlich verständlich (Spannung reduzieren) und einfach nicht wahr. Und auch mit meinen KlientInnen mache ich immer wieder die Erfahrung, dass das lustig ist. Es macht irgendwie unheimlich Spaß, aufzudecken, dass wir alle sexuelle Wesen sind, die Freude daran haben, Lust zu fühlen und auszudrücken und zu spielen, selbst wenn wir unheimliche Angst vor der Komplexität haben, mit der wir es dann zu tun bekommen. Allein das reicht mir schon, um spüren zu können, wie wichtig Lust für ein gesundes und gelungenes Leben ist.

Erfüllung finden

Da das Leben komplexer wird, wenn wir bemerken, wie wir unsere Lust für unwichtig erklären und wirklich zulassen, dass wir uns Erfüllung in Beziehung mit anderen Menschen wünschen, ohne, dass diese sich aufgeben, wird genau hier der Ruf nach Rezepten besonders laut. Das Chaos wird größer, die Kriterien für gelungenes Handeln nehmen zu, es kann uns schnell zu viel werden und uns in die Panik-Zone katapultieren. Aber Rezepte und How-to-Ansätze haben die Neigung, die Komplexität zu reduzieren und nicht wirklich zu erfassen, was gerade passiert. Deswegen will ich mich hier nur auf Bedingungen konzentrieren, die die Erfüllung wahrscheinlicher machen, aber mitnichten garantieren können.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich für mich, dass Erfüllung nur dann gelingt, wenn wir unsere unreifen Strategien zur Spannungsreduktion erkennen, so dass wir überhaupt eine Wahlfreiheit zu neuen Möglichkeiten wahrnehmen können. Diese Strategien werden klassisch-psychoanalytisch Abwehr genannt und können sehr verschiedene Formen haben (hier ein Übersicht), laufen aber im Kern immer auf „was ich will ist nicht wichtig“ bzw. „was du willst ist nicht wichtig“ hinaus. Und hier ist mitunter wirklich viel Zeit und Reflexion mit einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten erforderlich, um diesen Mustern auf die Spur zu kommen, weil sie manchmal erstaunlich gut versteckt sind und sich als etwas ganz anderes tarnen, was uns unreflektiert vollkommen normal vorkommt.

Erkennen wir unsere Abwehr, wird das Leben vermutlich erstmal schwieriger, weil wir mehr bedenken müssen. Die Angst und Spannungen, die dabei auftauchen, brauchen gewissermaßen einen Raum, in dem sie sich ausbreiten können, damit wir unter ihrem Druck nicht um uns schießen oder uns gleich wieder deprimieren. Um diesen Raum zu schaffen und zu erweitern meditiere ich täglich und halte den Fokus darauf, zu fühlen, was in meinem Körper passiert, ohne dass ich etwas tu oder darüber nachdenke. Das erlaubt mir die Erfahrung zu fühlen, ohne Handeln zu müssen. Und je öfter ich das erlebe, desto mehr Kapazität habe ich, in wirklich wichtigen Momenten inne zu halten und einen bewussten Umgang mit Lust und Spannung zu wählen. Außerdem spreche ich gerne offen mit Freunden und Kollegen über meine Erfahrung, was ihr Raum verschafft und das Halten von Spannung erleichtert.

Ebenfalls wertvoll erscheint mir die Klarheit, dass Spannung zu halten notwendig ist, wenn ich neue Möglichkeiten im Unbekannten erforschen will. Ich denke an eine Klientin, die single ist und sich wünscht, Sexualität zu leben. Dieser Wunsch und die Abwesenheit eines geeigneten Partners erzeugen Spannung. Die Spannung kann sie sofort reduzieren, indem sie sich sagt „Einen Mann zu finden ist sowieso nix, da fällt man nur rein.“ Oder „Ich bin sowieso nicht so attraktiv, mich will ja niemand.“ Außerdem „Diese Dating-Portale ziehen einem nur das Geld aus der Tasche. Ich lese lieber Liebesromane, die bringen auch Gefühle.“ Ganz egal, ob diese Sätze wahr sind oder nicht, sie haben den Effekt, dass die Spannung kollabiert, weil entweder der Wunsch unwichtig ist oder die Möglichkeiten entwertet werden. Unterm Strich entfernt sich die Klientin von ihrer Lust und bleibt in einer stabilen, aber deprimierten Position. Ist sie in der Lage, die Spannung zu halten, kann sie sagen „Ich wünsche mir erfüllenden Sex mit einem Mann, der mir gefällt, auch wenn ich noch nicht weiß wie, mit wem, wann und ob ich das erleben kann.“ Das ist aufregend und die Angst vor Enttäuschung ist gleich mit an Bord, aber mit einiger Zeit können ihr Phantasien kommen oder Gelegenheiten entstehen, in denen sie eine Möglichkeit zur Erfüllung erkennt und diese verfolgen kann. Das ist nicht möglich, wenn sie die Spannung nicht hält.

Einsatz in der Praxis

Anhand des Beispiels des Klienten vom Anfang möchte ich nun nochmal demonstrieren, wie die verschiedenen Aspekte von Spannung, Lust und Erfüllung in der Praxis zum Vorschein kommen können.

Der Konflikt des Klienten hing sich vor allem an der Wahl des Urlaubsortes auf. Er wollte in die Berge, seine Frau an’s Meer. Darunter liegend ging es darum, ob wirklich Raum für die Wünsche beider da war, ohne, dass einer nachgeben musste. In der Regel gab er nach, weil ihm die interpersonelle Spannung schneller zu viel wurde als seiner Frau und er lieber Stabilität und Frieden wollte. Dann aber gab es Momente, in denen er so unter innerer Spannung stand, dass er explodieren und seine Frau anschreien konnte. Das tat ihm danach wieder leid, er entschuldigte sich, aber alles blieb beim Alten. Um aus dieser Spirale herauszukommen, war es vor allem wichtig herauszuarbeiten, wie der Klient es schaffte, seinen Willen für unwichtig zu erklären. Das war relativ einfach, denn er erwischte sich bei fatalistischen Gedanken wie „Ja, wenn man zusammen ist, muss halt immer einer wegstecken.“ oder „Sie braucht ja auch ihre Erholung und es ist besser für mich, wenn sie erholt ist, als wenn ich mich durchsetze und sie nörgelt.“ Diese Gedanken wirkten sofort deprimierend und es war befreiend, das wahrzunehmen und Abstand dazu zu gewinnen, aber der Hintergrund war noch tiefer.

Hinzu kam nämlich, dass seine Frau ihm vorwarf, er hätte nicht genug Zeit für sie. Und da er einen zeitintensiven Job hatte, konnte er das auch verstehen. Gleichzeitig hatte er Angst vor der intimen Begegnung mit seiner Frau, weil ihm seine eigenen Gefühle nicht geheuer waren und er seinen Tag lieber so plante, dass dafür kein Platz war. Als ihm das klar wurde, fiel der Groschen. Ihm wurde bewusst, dass er Zeit seines Lebens geglaubt hatte, er hätte liebevollen Kontakt nicht verdient und müsste dafür schuften und Aufgaben erfüllen. Auch diese Überzeugung erkannte er als Abwehr, denn so lange er schuftete, hatte er keine Zeit zu merken, dass er sich diesen Kontakt wünschte. Sich dessen bewusst zu werden war einerseits eine große Befreiung, andererseits konfrontierte es ihn mit dem Chaos seiner totalen Ahnungslosigkeit darüber, wie emotionaler Kontakt für ihn erfüllend sein könnte. Die Versuchung war groß, die Spannung auch hier wieder zu reduzieren, indem er sich oder die Möglichkeit auf Erfüllung entwertete. Aber er blieb dran und konnte seiner Frau mitteilen, dass auch ihm der emotionale Kontakt fehle, er sich aber unklar darüber sei, wie das ginge. Wider sein Erwarten nahm die Frau seinen Selbstausdruck dankbar und wohlwollend auf, erleichtert darüber, authentischen Kontakt zu ihm zu bekommen.

Diese Erfahrung war völlig neu für ihn und nach einer Weile hatte er Gelegenheit, seine Entwicklung am Urlaubsthema zu erproben. Wie gewohnt spürte er, dass seine Frau wirklich gerne an’s Meer wollte und bemerkte die Tendenz in sich, sich aus der Gleichung zu nehmen und ja zu sagen, obwohl er nicht wollte. Statt das zu tun, sprach er sie an und sagte, er wisse noch nicht, wie das ginge, aber er wolle sehr gern mit ihr an einem Ort Urlaub verbringen, den sowohl er als auch sie gerne ansteuern würden. Dafür sei ihm wichtiger, dass sie nicht schnell zu einer Einigung kämen, sondern dass zunächst einmal Möglichkeiten auftauchen und gefühlt werden könnten, damit keiner der beiden vorschnell in Versuchung käme, seines/ihres aufzugeben. Tatsächlich war seine Frau erstaunt und ebenfalls sehr herausgefordert, in diesem Moment, da auch sie es schwer fand, diese Offenheit auszuhalten. Gleichzeitig konnte sie aber spüren, dass er wirklich an einer gemeinsamen Lösung interessiert war, die sie beide genießen könnten. Das hatte sie zuvor vermisst, ohne dass sie es hätte formulieren können. Für beide entstand zum ersten Mal Raum dafür, zu erzählen, was sie an ihren Präferenzen liebten und zu erfahren, was die Lust des anderen war.

Die Lösung war letztlich recht einfach: sie fuhren in die Berge. Nicht, weil er sie dazu überredet hatte, sondern weil im Kontakt so spürbar war, dass beide mit ihren Wünschen Raum bekommen hatten und letztlich in’s Gewicht fiel, dass sie die letzten Jahre nicht in den Bergen gewesen waren. Darüber entstand in der Frau der Wunsch, dem Klienten seinen Wunsch zu erfüllen und Wege zu finden, auch dort entspannt zu sein.

Inspirationsquellen

Die Gedanken in diesem Artikel sind eine Verdichtung von vielen Betrachtungen, die ich in den letzten Jahren kennenlernen durfte. Und in den letzten Wochen hatte ich immer wieder Gelegenheit, KlientInnen von mir davon zu erzählen, um ein Framework dafür zu schaffen, was uns bei einer gemeinsamen Sprache und Perspektive helfen könnte. Ich sehe dabei viele Parallelen zu anderen Quellen, die mich sehr beeinflusst haben und von denen ich drei hier erwähnen möchte.

Allen voran die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg, die den unreifen und reifen Umgang mit Spannung sehr schön beschreibt, wenn auch in anderen Worten. Die Erfahrung, dass ich mich auf das Wagnis einlassen kann, nicht zu wissen, was die Lösung ist und dennoch erfüllt daraus hervorzugehen, habe ich im Kontext der GFK sehr oft machen dürfen. Rosenberg hat hier Grandioses geleistet. Gleichzeitig hat er für meinen Geschmack zu wenig herausgearbeitet, wie schwierig es sein kann, mit dieser Spannung umzugehen und was ihr Bezug zur Lust ist. Ich vermute, dass er selbst gut mit seiner Lust in Kontakt war, denn in all seiner Friedfertigkeit und Leidenschaft für Verbundenheit wirkte er nie „kastriert“, während andere das gleiche sagen konnten und völlig zahnlos wirkten. Ich schätze, dass ihm das selber nicht so bewusst war. Kritisch sehe ich auch, dass er sich die unreifen Umgangsformen als Konsequenz gesellschaftlicher Strukturen erklärt hat, die man reformieren müsste, damit Menschen flächendeckender in der Lage wären, miteinander Erfüllung zu finden. Ich glaube eher, dass die gesellschaftlichen Strukturen zunächst Ausdruck der menschlichen Not mit Spannung sind und nicht umgekehrt, aber dennoch teile ich seine Vision eines intelligenteren Umgangs damit. Ich kann die GFK nur wärmstens empfehlen, um mehr Licht in’s Unbewusste zu bringen und Räume zu erschließen, in denen keiner nachgeben muss.

Den Gedanken von Chaos und Ordnung habe ich in der Form von Jordan B. Peterson. In zahlreichen Vorlesungen und seinem Buch 12 Rules for Life beschreibt er, wie Chaos und Ordnung als archetypische Prinzipien in allen Lebensbereichen auftauchen und eine ganz grobe Orientierung dafür bieten können, wie wir mit dem Horror im Leben umgehen können. Ist klar, dass das Chaos nicht zu vermeiden ist, kann uns das Mut geben, uns dem zu stellen und etwas Bedeutsames zu tun, auch im kleinen Bereich unseres eigenen Lebens. Ich mag Peterson für seine Aufrichtigkeit und Klarheit, auch wenn ich mir manchmal mehr Freundlichkeit und Wärme wünschen würde – für ihn selbst und andere.

Und wie schon weiter oben erwähnt, bin ich sehr dankbar für den Einfluss von Gustl Marlock. In der Arbeit mit ihm habe ich immer wieder erlebt, wie er weite Räume entstehen lässt, indem er Fragen stellt, die bestimmte fixe Vorstellungen auf die Probe stellen. In einem Moment fühlt sich die Situation völlig verfahren an, im nächsten geht ein weiter Raum der Möglichkeiten auf, der noch überhaupt nicht zu füllen ist, aber zu fühlen. Oft habe ich gerätselt, wie er das fertig bringt. Entscheidend scheint mir zu sein, dass ihm die Spannung, nicht zu wissen wie und ob etwas gelingen kann, kaum anzumerken ist, während er sehr sensibel für ungenutztes Potential ist, das er mit seinen Fragen antippt. Ich kenne niemanden sonst, der in der Arbeit so bereit zu sein scheint, offen zu lassen, wo ein Prozess hingeht und sich nicht drängt, eine Lösung zu finden, bevor sie nicht von sich aus auftaucht. Und auch das erfordert die Fähigkeit und Bereitschaft, die Spannung zu halten.

Ich hoffe dieser Artikel kann Grundlage für viele fruchtbare Gespräche sein.

8 Kommentare zu „Lust, Spannung und Depression

  1. Lieber Niklas, vielen Dank für die Zusendung dieses Artikels, der ein sehr emotionales Thema zum Gegenstand hat. Die Lust etwas zu tun, zu vollbringen, einem Menschen sehr nahe zu sein, irgend etwas auszudrücken erst einmal voll und ganz zu spüren, sich das zu erlauben ist ein bedeutender Faktor in unser aller Leben. Was wir dann damit tun ist etwas anderes.- Gerade beschäftigen wir uns im ZIST mit dem Übergriff eines Therapeuten, der eine PiA am Ende einer wohl recht intensiven Arbeit auf die Wange geküßt hat. Ein weites Feld von Lust bis hin zur Erarbeitung von Ethikregeln im ZIST.
    In jedem Fall geht es bei Dir mit „Yalom“ schon los.
    Mit sehr herzlichen Grüßen
    Dieter

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    1. Lieber Dieter,
      vielen Dank, ich freue mich sehr über diese Rückmeldung! Ja, von diesem Anlass für die Erarbeitung von Ethikregeln im ZIST hab ich gehört. Wie gesagt, ausgedrückte Lust macht das Leben komplexer, darum ist es ja so spannend 😉 Bin gespannt, wie ihr das löst.
      Herzliche Grüße
      Niklas

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