Selbstfürsorge

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

Manchmal werde ich gefragt, wie ich es aushalte in meiner Position als Psychotherapeut von so viel persönlichem Leid, Elend und Schmerz zu erfahren. Ich höre in meinem Arbeits-Alltag von Zeit zu Zeit von heftigen Geschichten, in denen von Gewalt, Gemeinheiten, Grausamkeit und Einsamkeit die Rede ist. Nicht selten sind diese Erfahrungen so verinnerlicht, dass sich meine KlientInnen inzwischen (meist unbewusst) längst selbst antun, was ihnen angetan wurde. Und um ehrlich zu sein, manchmal halte ich es nicht aus. Manchmal verdränge ich, werde taub oder rette mich in rationale Distanz. Ich versuche die Übersicht zu behalten, tröste mich mit den Möglichkeiten der Entwicklung und Heilung und hoffe auf Besserung über die Zeit hinweg. Aber im gegenwärtigen Moment bin ich manchmal überwältigt.

Das mitzubekommen finde ich gar nicht so einfach. Zuweilen merke ich es erst nach Wochen, manchmal schon direkt nach einer Stunde, in der etwas sehr Intensives zur Sprache kam. Es kann sich anfühlen, als sei die Welt etwas weiter entrückt, meine Sinne benebelt oder verschlossen. Innerlich sage ich mir, das zu halten sei meine Rolle, dafür sei ich ausgebildet und würde dafür bezahlt. Ich sage mir, ich dürfe nicht davor einknicken. Damit einher kann die bange Frage gehen, wie ich diese Aufgabe erfüllen sollte, wenn ich mir eingestünde, dass mich der Schmerz so einnimmt. Solch ein Zweifel kann nicht nur mein Einkommen bedrohen, sondern auch das Sinn-Erleben in der Arbeit, für das ich im Allgemeinen sehr dankbar bin.

Aber zuweilen nimmt der Schmerz mich ein. Und wie soll er das auch nicht tun, wenn ich wirklich offen für das bin, was meine KlientInnen mir erzählen? Es prallt nicht an mir ab, wenn ich erfahre, wie einsam, wütend, traurig und verletzt Menschen sein können. Wie festgefahren in Situationen, die unbefriedigend oder existenziell bedrohlich sind. Wie Menschen ein Leben führen können, bei dem der Tod wie eine Erleichterung erscheint: endlich Freiheit von der Last des Schmerzes über innere und äußere Konflikte und der Verantwortung, sie lösen zu müssen, wenn etwas anderes, besseres passieren soll. Zuweilen erfahre ich, wie erbarmungslos Menschen einander (und auch sich selbst) benutzen, um ihre eigenen Abgründe, tiefsten Ängste und Verletzungen nicht fühlen zu müssen. Wie eingeschränkt die Sicht sein kann, völlig entrückt von jeglichem Mitgefühl, weder für sich selbst noch andere. All dies kann schwer auf meinem Herzen liegen und fragt nach einem reifen Umgang.

Im Artikel zum Thema Auftrag habe ich beschrieben, wie wichtig ich es in helfenden Berufen wie dem meinen finde, klar zu unterscheiden, was meine KlientInnen in der Therapie erreichen möchten und können, gegenüber dem, was ich für möglich oder richtig halten könnte. Dass es zum einen zu einem ethischen Umgang, aber auch zur Selbstfürsorge gehört, zu erkennen, ob ich als Therapeut meine Kindheitserfahrungen auf mein Gegenüber projiziere und versuche, den Jungen, der ich war, stellvertreten durch eine Klientin oder einen Klienten, indirekt zu trösten. Erkenne ich das nicht, kann ich mich in diesem Versuch verausgaben und sowohl meinen Klienten als auch den Jungen in mir verfehlen. Denn wirklich trösten kann ich mich nur, wenn ich Kontakt zu mir habe. Und mein Gegenüber braucht vielleicht etwas ganz anderes, als der Junge, der ich war.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich darüber schreiben, dass zur Selbstfürsorge noch etwas anderes gehört: Raum für den Schmerz, der im Mitgefühl und in der Anteilnahme am Schicksal anderer in mir selbst ausgelöst werden kann, ganz ohne dass es direkt etwas mit meiner Biographie zu tun hätte. Pro forma will ich erwähnen, dass an dieser Stelle im Psycho-Jargon von „Psycho-Hygiene“ die Rede ist. Diesen Begriff mag ich jedoch nicht, da er etwas sehr Steriles hat und die Seele damit wie zum Badezimmer wird, welches man mit Meister Proper zum Glänzen kriegen könnte. Bei der Selbstfürsorge, von der ich spreche, geht es eben nicht darum, dass etwas glänzt, sondern dass es beachtet wird, genau wie es gerade ist – egal wie unordentlich, durcheinander, schmutzig oder bedrohlich es wirken mag.

Die Macht der Aufmerksamkeit

Dieser Raum für den Schmerz, von dem ich dabei spreche, hat etwas sehr einfaches, etwas sehr herausforderndes und auch etwas sehr mysteriöses und wunderbares. Ich erinnere mich an einen Klienten, der in einer Gruppentherapiesession sagte „Der Schmerz ist im Leben nicht vermeidbar, aber es ist die Solidarität miteinander, die ihn erträglich macht.“ Und genau dieses Erleben von bewusster Beachtung für das, was so weh tut, macht diesen Raum aus. Dabei ist heraufordernd dafür zu sorgen, dass es keinen Druck gibt, dass die Dinge anders sein sollten, als sie sind – kein Ziehen, Verzerren, Aufhübschen oder Dramatisieren. Da wir Druck-machen in der Regel unbewusst gewohnt sind, bedarf dies oft einiger Bewusstwerdung und Übung. Reines Gewahrsein für das, was ist, wirkt wie Sonnenstrahlen bei einer Blüte: Die Wärme kann die Lust in ihr wecken, sich von innen her zu öffnen und das Licht zu empfangen.

Wenn ich darüber schreibe, spüre ich, wie mir die Qualität dieses Raumes mit jedem Wort zu entrinnen droht. Es ist ein körperlich sinnliches Gewahrsein dessen, was in genau diesem Moment in meinem Erleben und in meinem Körperempfinden geschieht. Worte können wie Boten sein, die meine Aufmerksamkeit an den Platz schicken, der genau jetzt lebendig ist. Wenn ich diesen Raum in mir aufsuche, geht es jedoch nicht darum, die richtige Sprache zu finden. Es geht um die reine Aufmerksamkeit. Beachte ich mein lebendiges Empfinden genau dort, wo es gerade wahrnehmbar ist, können Worte auch im Weg sein.

Diese Präsenz mit einem anderen Menschen zu erleben, der in dieser Weise anwesend, interessiert und offen ist, ist ein großes Geschenk und kann sehr heilsam sein. Es war Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), der mir darin das erste Vorbild war. Er sprach von Empathie, Mitgefühl, dem Fokus auf dem, was in unserem Inneren lebendig ist und davon ausgehend kreative Ideen darüber, was das Leben wundervoll machen könnte. Und wenn ich ihn in diesem Sinne mit anderen Menschen arbeiten sah und hörte, ist mein Herz sehr schnell warm geworden. Er war sehr treffsicher darin, intuitiv einzuschätzen, worum es seinem Gegenüber gerade gehen könnte, was es wohl fühlen mag und was ihm wichtig sein könnte. Und selbst der intensivste Schmerz konnte auf diese Weise Raum bekommen, sich ausdehnen und dann einer körperlich spürbaren Erleichterung weichen.

Überflutet

Auch Rosenberg hat mit vielen Menschen gearbeitet, die tiefes Leid erlebten oder in bedrohlichen Konflikten steckten. Dabei kam er mit dem gleichen Elend in Berührung, das auch mich immer wieder mal einzunehmen droht: Gewalt, Grausamkeit, Einsamkeit, Verzweiflung, Leere, Hoffnungslosigkeit. An einem bestimmten Punkt auf seinem Weg wurde er auf Joanna Macy aufmerksam, die mit der Entmutigung von politischen Aktivisten befasst war, die aufkam, wenn die Sache, die ihnen am Herzen lag, auswegslos und der Schmerz über die Lage der Welt unüberwindbar zu sein schien. Sie prägte den Begriff der Verzweiflungsarbeit, die anerkennt, dass unser Herz Raum für das Erleben und den Ausdruck von dem Schmerz braucht, den wir fühlen, wenn wir mit schwierigen Problemen und Leid befasst sind. Wenn wir von diesem Schmerz nicht beherrscht werden wollen, brauchen wir einen Bewusstseinsraum, der größer ist, als der Schmerz darin. Der Unterschied lässt sich mit der Frage beschreiben: „Habe ich den Schmerz oder hat der Schmerz mich?“

Ohne diesen Raum für Beachtung und Empathie mit dem Schmerz, kann er sehr mächtig und handlungsleitend werden. Meistens taucht er zunächst unbewusst auf, in passiver Aggression und ich spüre einen Widerstand dagegen, wirklich für jemanden da zu sein oder bürokratische Aufgaben zu erledigen (mehr noch als sonst). Vielleicht spüre ich in Sitzungen auch Druck, etwas erreichen zu müssen und werde ungeduldig mit KlientInnen, wenn sich augenscheinlich nichts bewegt. Wenn ich nicht in Kontakt mit meiner eigenen Lebendigkeit bin, fällt es mir schließlich auch schwer, konzentriert und offen für die Lebendigkeit in meinen KlientInnen zu sein. Der Schmerz kann sich aber auch in Leere äußern, an Stellen, an denen ich mich normalerweise freue. Diese Leere ist das Resultat von Depression, also wortwörtlich das unbewusst aktive Wegdrücken von Schmerz.

Auch der Begriff des Traumas verweist auf einen Zustand, in welchem der Schmerz eher mich hat, als dass ich den Schmerz habe. Einfachere Mechanismen, die wir gegen intensive Bedrohungen mobilisieren können, haben Vorrang vor bewussten, feinsinnigen Antworten auf komplexe Situationen. Wenn ich den Drang spüre, zu kämpfen oder zu flüchten, wenn ich von innen her Nebel spüre, der mich (manchmal angenehm) betäubt oder wenn ich alles in mir mobilisiere, um Frieden in eine Beziehung zu bringen, koste es was es wolle, hat der Schmerz eher mich, als dass ich ihn habe. In seltenen Fällen mag das eine rettende Antwort sein, aber meistens richten wir damit mindestens ebenso viel Schaden an.

Auftauchen und Auftauen

Rosenberg schuf einen Rahmen für den Bewusstseinsraum, der größer als der Schmerz ist, indem er von „Feiern und Bedauern“ sprach und dafür in seinen Intensiv-Workshops ein Ritual vorstellte, das jeden Tag ein fester Programmteil war. In vielen Trainings, Seminaren und Festivals für Gewaltfreie Kommunikation gibt es dieses Ritual auch heute noch. Es lädt dazu ein, ganz im Einklang mit dem eigenen Erleben auszudrücken, was mich heute gefreut und was mich geschmerzt hat. Dabei geht es nicht um eine Veränderung des Zustandes oder der Situation, um eine Wiedergutmachung oder Lösung eines Problems, weil all diese Absichten von dem gegenwärtigen Erleben wegführen können. Es geht darum, dass ich es fühlen und ausdrücken kann und mein Bewusstsein für die Gefühle dadurch größer in mir wird, als meine Gefühle selbst es sind. Auf diese Weise komme ich aus einem Zustand des „überflutet-seins“ heraus, wie als wenn ich endlich den Kopf über Wasser strecken und atmen könnte. Ich werde weiter unten konkrete Hinweise darauf geben, wie das gehen kann.

Rosenberg sprach dabei nicht nur vom Bedauern und von Schmerz, sondern auch vom Feiern, also der Beachtung erfüllenden Erlebens. Ich denke hierbei an das Buch Verletzlichkeit macht stark von Brené Brown, in dem die Autorin darauf hinweist, wie verletzlich wir sind, wenn wir Freude empfinden. Ich bin ihr dafür dankbar, weil ich zuweilen übersehe, wie schwierig ich es finde, ganz bewusst wahrzunehmen, wie wertvoll mir bestimmte Menschen, Dinge und Umstände sind. Und wie schrecklich es wäre, sie zu verlieren! Ich schätze, mehr oder weniger leben wir alle nach dem Motto „Wer auf dem Boden schläft, kann nicht aus dem Bett fallen.“ und meiden von daher die Intensität schöner Gefühle genauso, wie die Wahrnehmung von Schmerz. Nehme ich die Einladung zum Feiern und Bedauern aber wirklich an, werde ich mir bewusst, wie sensibel, feinfühlig, genau, berührbar und verletzlich ich bin. Und die Intensität dieser Erkenntnis kann überwältigend sein.

Gehe ich dieser Überwältigung bis zum tiefsten Grund nach, komme ich fast immer bei der Frage an, wie ich überleben soll, wenn ich wirklich so sensibel bin. Wie soll ich irgendetwas hinbekommen? Ist es nicht offensichtlich, dass ich nur unter der Brücke landen kann, wenn es mir wirklich so geht? Bis zum Ende verfolgt komme ich bei diesem Strang also bei einer Angst vor dem Sterben an – was ihre Intensität erklärt. Aber genau genommen ist das kein Gefühl, sondern ein Gedanke, eine Geschichte, Befürchtung oder Einschätzung meiner Situation. Vielleicht haben andere Menschen mir das vermittelt, vielleicht habe ich es auch selbst einmal so erlebt, daraus diesen Schluss gezogen und ihn verallgemeinert.

Bei vollem Bewusstsein habe ich noch nie erlebt, dass die Intensität von Gefühlen mich wirklich bedroht oder außer Gefecht setzt. Es ist eher das unbewusste Erleben, bei dem ich nicht erkenne, welche Bedeutung die Intensität hat, die mich und meine Fähigkeit, für mich zu sorgen, bedroht hat. Auch darum ist der Bewusstseinsraum, den Feiern und Bedauern schaffen können, so kostbar: er stabilisiert ohne zu betäuben.

Empathie und Selbst-Empathie

Wie schon erwähnt kann es sehr kostbar sein, wenn ich mit jemandem sprechen oder sein kann, der in dieser interessierten und offenen Art präsent mit mir ist. Der GFK-Trainer Kelly Bryson verglich es in seinem Buch Sei nicht nett, sei echt! mit folgendem Bild: Möchte ich wahrnehmen, was in meinem Inneren passiert, sitze ich am Steuer eines Segelbootes, das über das Meer der inneren Erforschung fährt. Kommt jemand in präsenter Haltung hinzu, ist er wie eine leichte Brise, die mir die Bewegung erleichtert. Ich kann es auch alleine machen, aber der erweiterte Bewusstseinsraum kann enorm dabei helfen, so lange kein Druck von diesem Wind ausgeht und ich nach wie vor das Steuer in der Hand habe. Ist letzteres der Fall, macht es eher Stress. Aber eine sanfte Brise kann wie Rückenwind beim Fahrradfahren sein.

Ich erinnere mich, wie ich zu meiner Studienzeit oft einsam war, ebenso oft jedoch eine dumpfe Taubheit darüber lag. Betrat ich einen öffentlichen Bus mit vielen Menschen konnte es sein, dass ich meine Traurigkeit direkt viel deutlicher wahrnahm. Mir kam es vor, dass allein die Anwesenheit von Menschen das Gefühl intensivierte, ganz ohne, dass sich irgendwer mit mir beschäftigt hätte. Ich glaube, dass es mein eigenes Inneres war, das sich regte und angesichts der Anwesenheit eine Chance sah, zum Ausdruck zu kommen und gesehen zu werden.

So wertvoll das Geschenk von Empathie auch sein mag, einfordern können wir es nicht. Selbst bei einer Therapeutin, einem Therapeuten haben wir keine direkte Macht darüber, dass wir diese Art der Begleitung bekommen. Es gibt zwar Netzwerke in der Subkultur der GFK, in denen Menschen über Messenger-Gruppen um Empathie bitten können und nur antwortet, wer gerade wirklich kann und möchte. Auch hat Marshall Rosenberg dazu ermutigt, Beziehungen zu kultivieren, in denen der Austausch von Empathie zum festen Bestandteil gehört – eine Empathie-Hotline sozusagen. Denn Empathie ist ein Bedürfnis, das wir täglich haben. Aber dennoch kann es sein, dass gerade keine Unterstützung zur Verfügung steht, oder dass ich mich selbst um mich kümmern möchte.

In diesem Fall hilft es, das eigene Gewahrsein als Rückenwind erfahren zu können. Dies geht vor allem dann gut, wenn das, worum es gerade geht, einigermaßen bewusst ist. Oft ist es auch teilbewusst und die aufmerksame Wendung nach innen kann es aufdecken.

Feiern und Bedauern

Das Ritual schafft durch die Art der Fragen eine geistige Orientierung, die auch bei teilbewussten Prozessen weiterhelfen kann. Ich kann mich dafür mit jemandem verabreden, mit dem ich im Wechsel teile, was mir wichtig ist. Oder ich kann es auch alleine für mich machen, entweder schriftlich oder geistig im Kopf. Zu schreiben hat den Vorteil, dass ich nicht zu viele Inhalte auf einmal im Kopf behalten muss. Wie auch immer das Setting ist, die Fragen sind folgende:

  • Was genau ist geschehen? Beschreibe eine Handlung, Situation, Wahrnehmung, die heute wichtig für dich war. Sei dabei möglichst genau und unterscheide zwischen konkreten Beobachtungen und deiner inneren Verarbeitung. Das erhöht die Realitätsschärfe.
  • Was spürst und fühlst du dabei in deinem Körper? Dabei ist nicht das „richtige“ Wort entscheidend, sondern ob du mit der Aufmerksamkeit ganz an der Stelle in deinem Körper bist, wo es intensiv und lebendig ist. Bleibe dabei, bis es ruhiger wird.
  • Mit welchem Wert und welcher Lebensqualität verbindest du das Erlebte? Hierbei geht es um das Bewusstsein dafür, wie wir leben wollen, was das Leben wundervoll macht bzw. wie traurig es sein kann, wenn die Qualität in der erlebten Situation gefehlt hat.
  • Nun, da dir Werte und Qualitäten in Bezug auf das Erlebte bewusst sind, wie nimmst du deinen Körper jetzt wahr? Kannst du eine Veränderung, einen Wechsel bemerken?

Ob ich alles erfasst habe, was mit der Situation zu tun hat, merke ich daran, dass ich ruhiger werde und sich ein gewisser Trost und Erleichterung einstellen. Ist das nicht der Fall, habe ich etwas übersehen.

Zur Demonstration möchte ich zwei Dinge aufschreiben, ein Beispiel zum Feiern und eines zum Bedauern, bei denen ich die Fragen in dem Sinne beantworte, wie ich sie meine. Zunächst das Bedauern.

  • Beschreibung der Situation, des Kontextes: Ich erinnere mich daran in einer der letzten Sitzungen erfahren zu haben, dass eine Klientin mit dem Wunsch zu tun hat, sich das Leben zu nehmen. Sie wüsste auch, wie sie das machen könnte, auch wenn sie aktuell keine konkreten Pläne dazu hat. Grundsätzlich wolle sie leben, aber die aktuellen Konflikte in ihrem Leben kämen ihr überwältigend und unlösbar vor.
  • Gefühle im Körper: Ich empfinde dabei Anspannung und eine Art Schrecken. Meine Brust fühlt sich schwer an. Auch eine Betroffenheit macht sich breit. In meinem Kopf bemerke ich Geschichten darüber, welche Verantwortung ich gerade trage. Damit verbunden sind auch Ängste um meine eigene Existenz. Was, wenn sie das wirklich tut? Was geschieht dann mit mir und meiner Zulassung? Ganz abgesehen davon, wie es mich persönlich treffen würde und was mit meiner Freude am Beruf passieren könnte. In meinem Herzen spüre ich Angst um mein Leben und die Art, wie ich es jetzt führe.
    Nach einem kleinen Moment taucht aber auch Traurigkeit auf, tiefe Traurigkeit. „Wie kann das sein!?“ möchte ich fragen. Wieso müssen Menschen so leiden, dass ihnen der Tod wie eine Erleichterung vorkommt? Was ist das für eine Welt, die Menschen in solche Einsamkeit und Verzweiflung treibt?
  • Werte und Lebensqualitäten: Wende ich mich der dritten Frage zu, taucht der Wert auf, Menschen mögen in ihrem Leid nicht alleine sein. Ich möchte, dass Menschen wissen, dass sie von einer tiefen Verbundenheit untereinander getragen sind. Und ich wünsche mir, dass Menschen das ausdrücken und einander wissen lassen. O wie schlimm ich es finde, wenn das fehlt! Und wie kostbar und lebensrettend es sein kann, wenn wir jemanden haben, der in dieser Weise da ist! Auch bemerke ich, dass mir die Unversehrtheit des Körpers kostbar ist. Dass ich möchte, dass der Körper liebevoll gesund erhalten wird. Und dann spüre ich, dass ich gerne meine Arbeit in dieser Weise weitermachen können möchte. Dass ich gerne weiterhin das Vertrauen genießen mag, mit welchem Menschen zu mir kommen, ohne mich zu kennen, nur aufgrund des Titels.
  • Veränderung im Körper: Mit diesen Werten im Bewusstsein spüre ich eine Weite in der Brust. Ich kann wieder schwingen. Ich nehme die Kostbarkeit des Lebens wahr und auch der Gelegenheit, für diesen Menschen in dieser Situation genau das zu sein, was mir so wertvoll ist: ein Botschafter der Verbundenheit und Anteilnahme. Die damit einhergehende Gefahr überrollt mich nicht mehr, sondern ist Ausdruck eben dieser Kostbarkeit. Ich spüre die Intensität, aber sie bedroht mich nicht mehr.

Der letzte Punkt bedeutet nicht, dass die Situation nicht dennoch eine Herausforderung sein kann. Aber ohne die Überflutung ist es mir möglich, damit eine spielerische Haltung einzunehmen, das Herz zu spüren und ihm entsprechend anwesend zu sein. Ich weiß dann noch nicht, was ich im Weiteren tu, aber das Vertrauen, dass aus meinem Inneren schon etwas Passendes kommen wird, ist wieder da. Und das ist sehr beruhigend.

Und nun zum Feiern:

  • Beschreibung der Situation, des Kontextes: Ich erinnere mich daran, wie mir bei einer kürzlich erlebten Sitzung mit einem Paar die Klientin sagte, dass sie nun nach ein paar Sitzungen ausdrücken will, wie überraschend gut ihr die Paartherapie gefalle. Sie habe schon einige Therapieerfahrung und arbeite außerdem in einem Institut für Verhaltenstherapie in der Verwaltung. Sie kenne es so, dass viele TherapeutInnen eine Diagnose stellten, das für die Diagnose passende Manual herauskramten und dies dann abarbeiteten. Das erlebe sie als Abstempeln, in einer Schublade feststecken und nicht wirklich wahrgenommen werden. Genau dies sei mit mir jedoch nicht passiert. Im Gegenteil, es seien ihr sehr viele neue Aspekte ihres Erlebens mit sich und ihrem Partner aufgefallen, sie fühle sich wohl und wolle sagen, dass ich das gut mache.
  • Gefühle im Körper: Bei der Erinnerung empfinde ich zunächst einen Anflug von Überwältigung. Ich bemerke den Widerstand, das Gesagte in all seiner Bedeutung wirklich anzuerkennen. Bleibe ich damit präsent, fällt mir auf, dass es mir Angst macht, solch einer Beurteilung ausgesetzt zu sein. Erkenne ich sie an, gehört auch die Möglichkeit dazu, dass dieselbe Klientin oder jemand anderes, meine Arbeit ganz anders bewertet. Ich spüre diese Angst, halte sie im Gewahrsein und werde damit langsam ruhiger.
    Als die Angst in den Hintergrund tritt, kommt ganz organisch eine Freude zum Vorschein, die sich verletzlich anfühlt. Ich erkenne an: ich habe diese Klientin bis hierhin wahrhaftig gut begleiten können! Und sie hat etwas artikuliert, das mir bezogen auf mein Berufsfeld selbst schmerzlich bewusst ist. Ich erkenne den Impuls, mich arrogant über meine Kollegen erheben zu wollen, wohl auch um mich vor Abwertung und Gefahr meiner Existenzgrundlage in Sicherheit wähnen zu können. Ich nehme die Angst noch einmal in meine Mitte, bis sie sich wieder beruhigt.
    Dann bemerke ich die aufrichtige Berührtheit und Dankbarkeit der Klientin. Und jetzt bin auch ich berührt. Ich spüre Tränen in den Augen.
  • Werte und Lebensqualitäten: Mit der dritten Frage im Sinn wird mir bewusst, wie wertvoll ich die Offenheit finde, mit der Menschen im Kontakt fein und sinnlich erspüren, wer gerade da ist und was gerade wirklich passiert – auch und gerade wenn es sich nicht von alleine direkt zeigt. Diese Qualität der Präsenz und Wahrnehmung, die uns ermöglicht uns wahrlich nicht alleine zu fühlen, ist wohl einer der ersten Gründe, warum ich das Leben lange überhaupt als lebenswert empfunden habe. Es macht mich wach, so einen Kontakt zu erleben, weckt meine Sinne, macht die Lebensenergie spürbar, die mich und alles Lebende durchströmt. Ich spüre, wie sehr das zu erleben mich nährt, wenn es da ist und wie leer und sinnlos alles wirken kann, wenn es fehlt.
    Mir bewusst zu machen, dass ich derjenige in dem bin, was die Klientin berichtet, der dieser Qualität eine Form gegeben und sie für die Klientin erlebbar gemacht hat, erweckt schon fast Ehrfurcht in mir. Ungläubig schaue ich mich an und frage „Wie bitte? Ich?“ Mir fällt der Spruch aus dem Kurs in Wundern ein, der mich daran erinnert, dass es das Licht ist, nicht die Dunkelheit, die mir am meisten Angst macht. Denn wenn ich solche Macht habe, das Leben eines anderen Menschen zu berühren und zu bereichern… müsste ich dann nicht viel mehr damit tun? Verpflichtet mich das nicht dazu, dieses Geschenk so viel und oft zu teilen, wie es nur geht? Hat Superman Freizeit? Darin wird mir auch bewusst, dass das Geschenk nicht erzwungen sein kann, auch nicht durch mich. Es war in diesem Moment mit der Klientin möglich und auch ich empfinde Dankbarkeit, dass diese Kraft durch mich Gestalt annehmen konnte, wo immer sie auch hergekommen sein mag.
  • Veränderung im Körper: Während die Wucht dieser tiefen Bedeutungen noch in meinem Körper hallt, nehme ich wahr, wie tief verbunden und lebendig ich mich fühle. Ja, Energie strömt durch mich durch und findet durch mich Ausdruck. Darin spüre ich auch etwas beruhigendes, denn das heißt ja, dass auch ich von ihr genährt werde. Es muss nicht aus mir herauskommen. Gerade finde ich es phänomenal in dieser Form auf der Welt zu sein.

Schlussbetrachtungen

Ich möchte zum Schluss noch zwei Dinge zum Thema bemerken, die mir wichtig erscheinen. Zum einen habe ich das Ritual des Feierns und Bedauerns lange gemieden, da ich in der Zeit, in der ich es kennenlernte, noch große Angst davor hatte, was an rohen Gefühlen und Zuständen in mir auftauchen könnte, wenn ich diese Fragen ernst nähme und sinnlich erforschte. Stattdessen bin ich die Fragen aus der sicher wirkenden Distanz im Kopf durchgegangen, was entsprechend unergiebig war. Das heißt, es braucht auch Mut, sich in dieser Tiefe darauf einzulassen. Vorbereitend dafür empfinde ich unter Anderem meine Meditationspraxis, in welcher ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf das nicht-sprachliche Gewahrsein von sinnlich erfahrbarem Körpererleben richte. Darin kann es durchaus vorkommen, dass mein Empfinden sehr intensiv wird und mir Impulse kommen, jetzt möglichst schnell etwas zu tun, um die Flutwelle aufzuhalten. Beispielsweise können meine Gedanken zu einer bedrohlichen Situation wandern und ich spüre vor allem Angst bis hin zu Panik. Gerade dann ist es eine neue Erfahrung, wenn ich die Gefühle zulasse und still bleibe, obwohl unfassbar viel passiert. Zu wissen, dass ich das überlebe und die Intensität von alleine auch wieder nachlässt, wenn sie Beachtung findet, ist eine kostbare Erfahrung.

Zum anderen möchte ich noch auf etwas hinweisen, was euch beim Lesen evtl. auch aufgefallen sein könnte: zwar steht vorne Feiern und Bedauern dran, aber es gibt Punkte, an dem die beiden Modi nicht so klar voneinander unterscheidbar sind. Stoße ich beim Bedauern auf die Werte, spüre ich in jedem Fall, wie kostbar mir das Leben ist, was hinter meinen Empfindungen zum Vorschein kommen kann. Und diese Kostbarkeit wahrzunehmen hat auch etwas vom Feiern. Setze ich mich hingegen beim Feiern auch mit den Gefühlen auseinander, die mit der Verletzlichkeit der Freude zu tun haben, kann ich auch auf Traurigkeit, Wut und Angst stoßen. Auch die Wahrnehmung der Werte kann überwältigend sein. Letzten Endes kann ich beides mit dem Satz „Kontakt mit der Energie des lebendigen Lebens aufnehmen“ zusammenfassen, bei dem ab einem bestimmten Punkt gleich-gültig ist, ob es um Erfüllung oder Fehlen derselben geht: beides ist mit dem Herzen spürbar und belebt. Und wenn es gelingt, regelmäßig diesen Kontakt wiederherzustellen, ist im Umgang mit dem Schmerz in der Welt erstaunlich viel erreichbar, ohne dafür auf die Selbstfürsorge verzichten zu müssen.

„Wasch mich, aber mach mich nicht nass“

Neben der Klärung des Auftrags, gibt es einen weiteren wichtigen Maßstab, den ich prüfe, wenn sich Psychotherapie anstrengend und zäh anfühlt: gibt es unbewussten Widerstand? Das heißt, tut der/die KlientIn trotz klarem Wunsch, sich besser zu verstehen, unbewusst Dinge, die den Verstehensprozess hemmen oder verhindern?

Unter Widerstand verstehe ich grundsätzlich eine Abwehr von inneren Erfahrungsbereichen, die die unbewusste Absicht und den Sinn hat, für psychologische Stabilität zu sorgen. Stabilität erlaubt uns, in einem betimmten Rahmen und auf einem bestimmten Niveau relativ gleichmäßig für uns zu sorgen. Wir wissen ungefähr, wer wir sind, was wir wollen, was unser Lieblingsessen ist und wie wir uns in einer Woche oder einem Monat wahrscheinlich fühlen werden, wenn wir uns zu einem Ausflug oder Urlaub verabreden. Auf diese Weise sind wir für uns selbst und andere vorhersehbar und können relativ stabile Beziehungen führen. Da wir jedoch inhärent komplexe Wesen sind und Stabilität im Dienste der Ordnung oft eine Vereinfachung dessen erfordert, wie wir uns selbst sehen, hat diese Stabilität in den meisten Fällen einen Preis: wir nehmen bestimmte Aspekte unseres Selbst gar nicht oder nicht so genau wahr.

Zuweilen besteht die psychotherapeutische Arbeit vor allem darin, diese Abwehr zu greifen und bewusst zu machen, weil alles Weitere an seinen Platz fallen kann, sobald das gelingt. Wenn wir Abwehr als Verzerrrung der Wahrnehmung verstehen, die die für den gesamten Organismus stimmige Orientierung im Leben verhindert, wird klar, warum Bewusstsein so einen Unterschied im Leben macht. Wird die Verzerrung nämlich bewusst, können wir sie in unserer Wahrnehmung berücksichtigen und die Perspektive entsprechend korrigieren. Die resultierende Klarheit kann sich sehr ermächtigend, aber auch sehr herausfordernd anfühlen. Dieser Aufdeckungsprozess kann schnell gehen oder lange dauern, abhängig davon wie versteckt die Abwehr ist, wie viele Schichten und verschiedene Wechselwirkungen die Arten der Abwehr haben und wie intensiv die abgewehrten Gefühle sind.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich vor allem auf die Situation zu Beginn der Therapie eingehen, wenn die Beziehung zwar noch frisch, aber nicht mehr komplett am Anfang ist und basale Prinzipien des Widerstands bewusst werden dürfen.


Beginn der 15. Sitzung, Dienstags 9 Uhr. Die Klientin, 35 jahre alt, setzt sich, der Therapeut sitzt ihr gegenüber. Er sagt nichts und schaut sie aufmerksam an.

Nach ein paar Sekunden beginnt die Klientin verlegen zu kichern und sagt: „Jetzt machen Sie das schon wieder!“

Therapeut: „Was mache ich denn?“

Klientin: „Sie durchdringen mich. Als könnten Sie direkt in meine Seele schauen.“

Therapeut: „Ok… wie mache ich das denn?“

Klientin: „Keine Ahnung, Sie sind doch der Experte.“

Therapeut: „Ich kann Ihnen sagen, dass ich schon sehr verschiedene Menschen so angeschaut habe und bei Weitem nicht alle so reagieren wie Sie. Das heißt, ich vermute, dass Sie da schon irgendwie mitmachen. Können Sie das erkennen?“

Klientin: „Hm… ich weiß nur, dass ich mir schutzlos vorkomme, wenn Sie mich so ansehen. Als gäb’s keine Möglichkeit mehr, mich ich vor Ihnen zu verstecken.“

Therapeut: „Vor mir oder vor sich selbst?“

Klientin: „Wie meinen Sie das?“

Therapeut: „Naja, Sie sind ja hier, weil Sie etwas über sich erfahren wollen. Und Sie wissen auch, dass Sie sich dafür zeigen müssen, sonst habe ich keine Chance, Sie darin zu unterstützen, sich zu verstehen. Wenn Sie sich aber zeigen, sehe nicht nur ich Sie, sondern Sie sehen sich auch. Und unter Umständen gehen Sie nicht unbedingt liebevoll mit sich um, wenn Sie sich sehen.“

Klientin: „Hmmm… so habe ich darüber noch nicht nachgedacht.“

Therapeut: „Das heißt, es könnte sein, dass Sie bei dem, was Sie ‚Durchdrungen werden‘ nennen, vor allem Ihren eigenen Wunsch spüren, sich zu zeigen, während Sie gleichzeitig Angst fühlen, was Sie mit sich anstellen könnten, wenn Sie sich sehen. Und damit das alles nicht ganz so offensichtlich ist, schieben Sie es unbewusst mir und meinem Blick zu.“ Er zwinkert ihr amüsiert zu.

Klientin: „Sie meinen, Sie durchdringen mich gar nicht?“

Therapeut: „Genau. Ich mache Ihnen nichts weiter als ein Kontakt-Angebot. Mir ist bewusst, dass dieses Angebot mächtig sein und unter Umständen viel bewirken kann. Aber dennoch ist es nicht mehr als ein Angebot, das Sie annehmen oder ausschlagen können. Alles weitere verstehe ich als Konflikt in Ihnen: einerseits wollen Sie gerne den Kontakt, andererseits haben Sie Angst vor Verletzung, Missachtung oder Urteil. Natürlich könnte es theoretisch sein, dass ich Sie verletze, aber in diesem Setting ist es wahrscheinlicher, dass Sie das selber tun.“

Klientin: „Wie meinen Sie das?“

Therapeut: „Die meisten Menschen, die in die Psychotherapie kommen, wollen verstanden werden. Das klingt zunächst mal einfach und geradlinig, ist es aber oft überhaupt nicht. Verstanden zu werden erfordert nämlich, sich zeigen und sichtbar werden zu müssen. Ohne Sichtbarkeit ist Verständnis unmöglich, aber sichtbar zu sein öffnet eben auch die Möglichkeit, verletzt zu werden. Und wenn es Anteile in Ihnen gibt, die grob, verurteilend und verachtend mit anderen Anteilen in Ihnen umgehen, dann bekommen diese damit eine Gelegenheit. So kann es sein, dass Sie mir erzählen, wie es Ihnen heute geht und Sie sich im nächsten Moment dafür beschimpfen, wie schwach und unzulänglich Sie sich finden. Und wenn das so ist, kann ich das nicht verhindern, da Sie mit Ihren inneren Urteilen in jedem Fall schneller sind, als ich mit meinem Verständnis je sein könnte.“

Klientin: „Mist, ja… das scheint zu stimmen… was mache ich denn da jetzt?“

Therapeut: „Das kommt darauf an, was Sie wollen.“

Klientin: „Naja, wie Sie ja sagen, ich bin hier, weil ich mich gerne verstehen würde. Aber wenn sich das so brutal anfühlt, habe ich davor ziemliche Angst. Und wenn Sie mich so anschauen, dann spüre ich das sofort. Dann wäre mir manchmal lieber, Sie würden das nicht tun.“

Therapeut: „Was wäre denn dann?“

Klientin: „Dann könnte ich mich wieder vor mir verstecken und es würde etwas ruhiger in mir werden.“

Therapeut: „Ok. Und dann?“

Klientin: „Hmm… dann wäre es ruhig… aber dummerweise würde dann auch nicht viel passieren.“ Sie grinst und schaut zur Seite.

Therapeut: „Merken Sie, dass Sie grinsen?“

Klientin grinst weiterhin: „Ja…“

Therapeut amüsiert: „Was erheitert Sie denn so?“

Klientin: „Naja, ich sehe schon, dass ich mich selber fragen muss, ob es mir das Risiko der Verletzung wert ist, wenn ich hier wirklich weiterkommen will. Und wenn es stimmt, was Sie sagen, dass ich es selber bin, die mich verletzt, dann können Sie mir dieses Risiko auch nicht abnehmen.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen.“


An diesem Punkt ist es den beiden gelungen, bewusst wahrzunehmen, bei wem welche Verantwortung liegt. Für die Klientin ist es zwar unangenehm zu merken, welche Rolle sie selber dabei spielt, aber es ist der einzige Weg, etwas zu ändern, weil nur sie Einfluss auf ihren Widerstand hat und nur ihr Bewusstsein dafür sorgen kann, dass andere Möglichkeiten sichtbar werden. Der Therapeut spiegelt ihr das und bezeugt mit ihr, was passiert, aber außer Hinweisen und Benennen kann er nichts tun. Diese Ohnmacht auszuhalten ist manchmal das wichtigste, was er tun kann, weil er nur so in Kontakt mit der realen Situation der Klientin bleibt. Und angesichts dessen, dass so viele wichtige Handlungsmöglichkeiten unbewusst sind, ist das dazu passende Gefühle wirklich die Ohnmacht. Ohne die bewusste Bereitschaft, das mit zu tragen, läuft er Gefahr, am Widerstand gegen die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit zu wirken und die Therapie dreht sich im Kreis.

Im zweiten Abschnitt der Sitzung soll deutlich werden, welchen Sinn die Abwehr hat und wie man ihr so begegnen kann, dass sie weder gebrochen wird, noch alles beherrscht. Zur Demonstration ist es in diesem Fall relativ einfach und zugänglich. In anderen Fällen kann dieser Prozess sehr lange dauern und oft hin und her gehen, bevor etwas greifbar wird. Auch hier braucht es vom Therapeuten die Bereitschaft, Ohnmacht auszuhalten, denn Verwirrung, Betäubung, Wegdriften und Druck können immer wieder auftauchen, auch im Erleben des Therapeuten, wenn die Abwehr noch nicht deutlich ist.


Klientin: „Ok, soweit verstehe ich es…“ Sie wird still und scheint nachzudenken. Dann schaut sie den Therapeuten an. Sie wirkt aufgebracht und sagt: „Wenn ich das an mich heranlasse, frag ich mich, warum ich so mit mir umgehe! Das ist doch totaler Mist! Ich will mich nicht so behandeln!“

Therapeut: „Ich halte das für eine gute Frage und bin froh, dass Sie sich dafür interessieren. Und ich verstehe, dass Ihnen das nicht gefällt. Ohne den entsprechenden Hintergrund wirkt Ihre Haltung wahrscheinlich wie sinnlose Quälerei.“

Klientin: „Ja, genau! Was soll das denn? Ich meine, ich merke gerade, wie sehr mir das weh tut. Und wenn ich genau darüber nachdenke, würde ich mich von jedem fernhalten, der mich so behandelt.“

Therapeut: „Meiner Erfahrung nach entwickeln Menschen derlei Umgangsweisen mit sich in der Regel, um Schlimmeres zu verhindern oder in Schach zu halten.“

Klientin: „Noch schlimmeres?!?“

Therapeut: „Ja. Viele Menschen versuchen, sich und ihr Leben nach dem Prinzip ‚Wer auf dem Boden schläft, kann nicht aus dem Bett fallen.‘ zu stabilisieren. Der Boden mag hart sein, aber die Fallhöhe ist reduziert.“

Klientin: „Sie meinen… bevor andere mich verurteilen können, mache ich das lieber selber?“

Therapeut: „Ja, zum Beispiel. So weit ich sehen kann, leben Sie quasi nach dem Motto ‚Bevor ich jemandes Lieblosigkeit ohnmächtig ausgesetzt bin, behandel ich mich lieber selber so. Das ist zwar auch nicht schön, aber zumindest habe ich die Kontrolle.‘ Würden Sie sich außerdem spüren lassen, dass Sie einen liebevolleren Umgang mit sich möchten, würde Ihnen vielleicht auffallen, wie kalt es in Ihrem Leben eigentlich ist bzw. war, als Sie klein waren. Und dass Sie evtl. den Weg nicht kennen.“

Klientin: „Puh… ja, da könnte was dran sein.“

Der Therapeut nickt und wartet kurz, bevor er fragt: „Und wie fühlt sich das an?“

Klientin: „Ziemlich heftig… mir wird ein bisschen schwindelig… und flau im Magen.“

Der Therapeut lässt ein paar Sekunden Raum, bevor er sagt: „Ja, das kann ich mir vorstellen. Lassen Sie uns da einen Moment bleiben.“

Klientin: „Muss das sein? Es ist wirklich sehr sehr unangenehm.“

Therapeut: „Wenn es zu intensiv wird, wäre es wahrscheinlich gut, langsamer vorzugehen. Aber die Gefühle, die Sie da gerade wahrnehmen, halte ich für wertvolle Botschafter Ihres Inneren. Ohne die haben wir keine Chance zu verstehen, wo Sie stehen und was Ihnen gut täte.“

Klientin: „Ich weiß gerade nicht, ob ich das überhaupt wissen will, wenn sich das so anfühlt.“

Therapeut: „Ja, es kann heftig sein, wahrzunehmen, wie es wirklich ist. Ich nehme es Ihnen auch wirklich nicht übel, dass Sie davor zurückschrecken. Ohne guten Grund würde das wahrscheinlich niemand in Kauf nehmen.“

Klientin: „Was soll denn daran gut sein? Ich will ehrlich gesagt lieber meinen Frieden…“

Therapeut: „Ja, das verstehe ich. Wenn Sie möchten, sag ich Ihnen etwas dazu, aber ich möchte auch achten, dass Sie sich gerade überfordert fühlen.“

Klientin: „Ja, danke… es geht schon… im Moment zumindest.“ Sie lacht nervös. „Aber ich würde gerne wissen, wie Sie das meinen.“

Therapeut: „Ok, gut. Also ich verstehe, dass Sie den Frieden mögen, aber leider hat er auch seinen Preis. Sie zahlen nämlichn unter Umständen damit, dass Sie sich darin nicht wirklich orientieren können. Das ist so, als würden Sie sagen: ‚Google, bitte entferne alle Seen und Flüsse auf der Landkarte. Die sind mir zu kompliziert, verwirren mich und machen mir Schwindelgefühle.‘ Wenn Sie dann einen Ausflug machen, kann es sein, dass Sie nass werden und absolut nicht verstehen, wie das sein kann.“

Die Klientin lacht, halb amüsiert, halb nervös: „Hmm… das wäre natürlich blöd. Sie meinen also, dass ich verhindern kann, dass ich nass werde, wenn ich diese Gefühle aushalte?“

Therapeut: „Es wäre ein notwendiger Anfang. Die Gefühle auszuhalten verschafft Ihnen Zeit, sich der Gefühle lange genug bewusst zu sein, dass Sie verstehen können, was sie bedeuten könnten. In der Karten-Analogie müssten Sie die Überwältigung aushalten, um Flüsse und Seen erkennen und entsprechend Ihre Ausflüge planen zu können.“

Klientin: „Ok, aber was sollen diese Gefühle denn bedeuten?“

Therapeut: „Naja, ich glaube ein bisschen wissen Sie schon darüber…“

Die Klientin atmet tief durch, wippt mit dem Fuß und greift sich nervös an die Stirn. „Ich find das gerad alles total schwierig. Sie haben ja Recht… aber ich stell mir gerade vor, wie ich nachher nach Hause gehe und mir wieder alle möglichen Gedanken darüber mache, was wir hier besprochen haben und dann…“ Sie wird still und birgt ihr Gesicht in ihren Händen.

Der Therapeut spürt die Betroffenheit. Er merkt, wie berührt er selber ist und ihm sanft die Augen feucht werden. Er kann das Dilemma der Klientin spüren und nachfühlen, wie zerrissen sie sich fühlen muss. Er sagt: „Ich nehme wahr, wie schmerzhaft das gerade für Sie sein muss.“

Die Klientin fängt an zu weinen, still und tief. Es ist, als dürfte sich etwas im Raum ausbreiten, was lange verborgen und weggedrückt war. Und auch wenn noch schwer zu sagen ist, was genau es ist, fühlt es sich dicht und greifbar an.

Die Klientin putzt sich die Nase und sagt: „Ich weiß gar nicht, wann ich das zuletzt so gefühlt habe…“

Therapeut: „Möchten Sie beschreiben, was das ist?“

Klientin: „Ich versuch’s… Sie haben ja vorhin gemeint, es könnte sein, dass ich mich selbst so grausam behandel, um nicht zu merken, wie kalt mich die Menschen behandeln, die in meinem Leben sind… Ich spüre gerade den Schrecken darüber, wie wahr das sein könnte. Und auch wenn ich das am liebsten weghaben möchte, habe ich gerade eine ganz leise Ahnung davon bekommen, wie schön es wäre, wenn ich so leben könnte… also, so, dass das, was ich da mit mir mache, gar nicht nötig wäre.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen können… ja, das wäre sicher eine große Erleichterung…“

Klientin, unter Tränen: „Ja, das wäre es… und ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ich dahin kommen soll.“

Therapeut: „Ja… und die Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, die Sie wahrscheinlich dabei fühlen, sind ja auch der Grund, warum Sie unbewusst dafür sorgen, dass Sie nicht einmal mitbekommen, dass Sie das wollen könnten.“

Klientin: „Ja, die sind auch echt nicht lustig, ey…“

Der Therapeut hält inne und lässt der Wucht in der letzten Äußerung Raum. Dann sagt er: „Das glaube ich Ihnen. Aber vielleicht wird jetzt klarer, was ich mit Orientierung meine. Erst wenn Sie sich vorstellen können, dass der Umgang mit Ihnen liebevoller sein könnte, haben Sie überhaupt nur eine Ahnung, worum es in Ihrer Situation gehen könnte. Das gibt Ihnen zwar keinen 12-Schritte-Plan dafür, wie Sie weiter vorgehen könnten, aber zumindest eine generelle Richtung und einen groben Maßstab.“

Die Klientin sagt amüsiert: „Ja, ich weiß, Sie sind planlos.“

Der Therapeut antwortet ebenso amüsiert: „So isses.“

Klientin: „Können Sie mir nicht irgendwas sagen? Ich halte das so schwer aus!“

Therapeut: „Was finden Sie denn so schwer aushaltbar?“

Klientin: „Naja, wenn ich ernst nehme, was ich da gerade gefühlt habe, finde ich mein Leben total furchtbar! Meine Eltern gehen genau so missachtend mit mir um, wie ich selbst, mein Job fühlt sich sinnlos an und meine Freunde… die sind schon ok, aber ich weiß nicht, ob die verstehen würden, worüber wir hier reden. Und das kann’s doch nicht sein, oder? Ich bin jetzt Mitte 30 und komme überhaupt nicht klar!“

Therapeut: „Ich kann sehen, wie viel das für Sie ist.“

Klientin: „Jawoll! Und ich will das eigentlich keinen Tag länger ertragen müssen. Aber wenn ich das ändern will… da kriege ich einfach nur Panik!“

Auch hier hält der Therapeut inne, damit die emotionale Wucht Raum bekommt. Nach einigen Sekunden Stille sagt er: „Ich kann den Druck spüren und verstehen… Verstehen Sie die Panik?“

Klientin: „Naja… nicht ganz, aber ich denke mir gerad, dass mir dann ja gar nichts mehr bleibt.“

Therapeut: „Sie meinen, Sie wissen dann nicht mehr, welche Form des Lebens zu Ihnen passt?“

Klientin: „Ja… und vielleicht finde ich ja nie eine passende…“

Therapeut: „Es könnte sein, dass Sie diese Form erfinden müssen und sich dafür nur an sich selber orientieren können.“

Klientin: „Oh Gott… das wird hart.“

Therapeut: „Ja, das kann sehr schwierig sein. Vor allem, wenn Sie dafür gewohnte Rollen aufgeben und Konflikte mit Menschen angehen müssen, die Ihnen wichtig sind.“

Klientin: „Das kann ich nicht!“

Therapeut: „Ich kann sehen, dass es im Moment unüberwindbar erscheint. Aber ich bin guten Mutes, dass wir genug über Ihre Angst verstehen können, wenn wir Ihre frühen Erfahrungen mit Ihren Eltern besser kennen.“

Klientin: „Auweia… ich hab’s befürchtet… darüber denke ich überhaupt nicht gerne nach… Wie soll das denn helfen? Können Sie mich nicht lieber hypnotisieren oder igendsowas?“

Therapeut: „Ich glaube leider nicht, dass es wirklich irgendeine Abkürzung darum herum gibt, auch nicht durch das, was Sie unter Hypnose verstehen mögen. Und manchmal wäre es auch mir lieber, man könnte daraus eine OP mit Narkose machen, bei der man als KlientIn aufwacht und alles ist anders, ohne die dunklen und schmerzhaften Ecken beleuchten zu müssen.“

Klientin: „Ja genau, das will ich! Das hätte ich gerne!“ Sie seufzt und fügt hinzu: „Aber gut, ich hab schon verstanden, dass das nicht geht. Trotzdem würde ich gern wissen, was das Wühlen in der Vergangenheit Gutes bewirken soll.“

Der Therapeut hält einen Moment inne und sammelt sich, bevor er fortfährt: „Schauen Sie, Ihr Nervensystem ist ja gerade auf 180. Das heißt, Sie kommen sich sehr bedroht vor und können sich nicht gut schützen, ohne wieder die Wahrnehmung Ihrer tatsächlichen Lebenssituation aus Ihrem Bewusstsein zu drängen. Daraus schließe ich, dass Anteile Ihres Nervensystems berührt werden, die sich strukturiert haben, als Sie sehr jung waren. Und ohne zu wissen, auf was für eine Situation die sich eigentlich beziehen, können Sie nicht unterscheiden, ob Ihre Angst berechtigt ist oder nicht. Es ist, als würden Sie ein Foto von damals über Ihre Wahrnehmung von heute legen und so reagieren, als sei das Foto die Wahrheit.“

Klientin: „Also, Sie meinen, die Angst davor, mein eigenes Leben zu leben, bedeutet gar nicht, dass das so schwierig ist?“

Therapeut: „Das weiß ich nicht. Es ist sicher nicht einfach. Aber wahrscheinlich ist es nicht lebensgefährlich. Deswegen glaube ich, dass die Intensität Ihrer Angst zu anderen Umständen gehört, die Ihnen noch nicht bewusst sind. Wenn Sie herausfinden, welche das sind, können Sie sich wahrscheinlich an Stellen trösten und beruhigen, an denen Sie aktuell nur weg wollen.“

Die Klientin wirkt überfordert: „Ok… das klingt sehr schwierig, aber es ergibt schon Sinn.“ Sie birgt ihr Gesicht noch einmal in ihren Händen. „… und es ist auch ziemlich viel gerade.“

Therapeut: „Ja… das sehe ich. Ich schlage vor, dass Sie das, was wir heute besprochen haben erstmal verdauen. Wir werden noch genug Gelegenheiten haben, uns dem Hintergrund dieser intensiven Gefühle zuzuweden. Wichtig finde ich für den Moment, dass Sie und ich merken, wie Sie sich aus Angst vor Ihren eigenen Urteilen nicht zeigen. Und dass Ihre Urteile, so unangenehm sie sein mögen, eine stabilisierende Funktion haben, die jedoch Ihre Warhnehmung verzerrt und damit eine stimmige Orientierung in Ihrer heutigen Lebenssituation sehr schwer macht. Über alles Weitere würde ich mir im Moment keine Gedanken machen, da es meiner Einschätzung nach ohnehin von selbst auftauchen wird.“

Klientin: „Ja… das ist gut. Darauf werde ich auch erstmal eine Weile herumkauen müssen…“

Therapeut: „Das glaube ich auch. Und wie gesagt, es eilt nicht und Sie müssen sich jetzt auch nichts überlegen. Bewusstsein reicht für den Moment. Ich wünsche Ihnen erstmal gutes Verdauen und eine gute Woche. Und nächste Woche können wir schauen, was aufgetaucht ist.“

Klientin: „Danke… ok, ja… Ihnen auch.“

Die Klientin verlässt hiermit den Praxisraum und der Therapeut schaut noch eine Weile aus dem Fenster, bevor er Folgendes in seine Notizen schreiben: „Projektion des Wunsches angesprochen, sich zu zeigen, Widerstand teilweise bewusst. Klientin mit dem Aggressor identifiziert, behandelt sich unbewusst ebenso lieblos wie ihre Familie, um die Ohnmacht nicht zu spüren. Intensiver, tiefer Schmerz spürbar, wirkt überwältigend, Hinweis auf Trauma. Zusammenhang mit Orientierung erläutert, große Angst vor Konflikten und der Notwendigkeit, sich eigenständig zu vertreten. Gleichzeitig wirkt der Weg alternativlos, da sie alles andere schon ausprobiert hat. Die Intensität fühlt sich nach längerer Arbeit mit einigen Rückfällen an. Ich bin berührt und optimistisch gestimmt.“

Zufrieden steht er auf und geht in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Er hört die Türklingel und der nächste Klient betritt die Praxis.

Vermittlung

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

Sie: „Schatz, hast du den Müll schon rausgebracht?“

Er: „Nee, aber mache ich später, jetzt stress mich doch nicht so!“

Sie: „Mach ich doch gar nicht! Ich hab halt keinen Bock auf ’ne stinkende Küche und sehe nicht ein, dass ich schon wieder dafür sorgen soll!“

Er: „Was heißt denn ’schon wieder‘? Weißt du eigentlich, was ich hier die ganze Zeit stemme? Ich hab keinen Bock auf deine Meckerei!“

Sie: „Dann such dir halt ’ne andere Idiotin, die neben allem anderen noch unser Zuhause für uns schön macht. Sowas brauche ich nicht.“

Er: „Du verstehst mich mal wieder überhaupt nicht! Ich reiß mir für uns den Arsch auf und das ist der Dank?!?“

Sie: „Geh doch, wenn’s dir nicht passt. Du schläfst heute jedenfalls auf der Couch!“


Hmmm… das ist jetzt aber schnell eskaliert. Wahrscheinlich hatten die beiden diesen Streit nicht zum ersten Mal, es scheint dafür einiges an Hintergrund zu geben. Aber was genau ist hier passiert? Und was wäre ein gesunder Umgang damit?

Bei der Beschäftigung mit der Frage, was eine gesunde Beziehung ausmacht, ist mir der Begriff der „Triangulierung“ bedeutsam geworden. Er beschreibt eine Fähigkeit und Entwicklungsaufgabe, mit der jeder Mensch konfrontiert ist und ohne die ich ein erfülltes Beziehungsleben nicht für möglich halte. Nicht triangulieren zu können bedeutet, zwischen Anpassung und Forderung gefangen zu sein und nur sehr begrenzt in der Lage zu sein, Unterschiede auszuhalten. In vielen Fällen bedeutet es auch, lieber alleine zu bleiben, als Selbstverlust in einer Beziehung zu riskieren. Genauso kann es bedeuten, auch in einer Beziehung einsam zu sein, weil die Existenz von jemandem, der anders ist, schon so bedrohlich ist, dass wir entweder uns selbst oder den anderen in seiner Eigenart gar nicht richtig wahrnehmen wollen oder können. Ohne Triangulierung ist der seelische Entwicklungsweg über die Egozentrik hinaus versperrt. Echte Nähe ohne Aufgabe von Identität und Unterschiedlichkeit ist ohne Triangulierung nicht möglich.

Es gibt zu diesem Begriff einiges an Fachliteratur aus der Psychoanalyse, die ich bedauerlicherweise jedoch zu großen Teilen nur schwer verständlich und verdaulich finde. Der Bezug zu alltäglichen Beobachtungen und Gefühlen fehlt an vielen Stellen. Seinem Ursprung nach geht der Triangulierungsbegriff zunächst auf Sigmund Freuds Konzeption des Ödipuskomplexes und später unter anderem auf Hans W. Loewald, Margaret Mahler und Ernst Abelins Organisator- und Triangulierungsmodell zurück, welches auch Entwicklungsphasen beschreibt, die vor der ödipalen Phase liegen. Ich möchte an dieser Stelle zwar nicht diese Modelle erläutern, sondern erörtern, was ich selbst darunter verstehe, beziehe mich im Weiteren aber vor allem auf die „frühe Triangulierung“ und nicht die ödipale. Auch möchte ich den Begriff von der dysfunktionalen Triangulation abgrenzen, von der im Rahmen der systemischen Familientherapie die Rede ist. Ich hoffe damit einen Einblick in ein Phänomen zu ermöglichen, das trotz seiner Alltäglichkeit komplex und häufig völlig unbewusst ist.

Triangulierung

Dem Begriff nach geht es bei der Triangulierung um ein Dreieck, bei dem zu einer Zweier-Beziehung etwas oder jemand Drittes hinzukommt. Dieses Dritte ist notwendig, um ein vermittelndes Gleichgewicht zwischen zwei unterschiedlichen Polen herzustellen. Ohne diese Vermittlung führt die Unterschiedlichkeit in einer Beziehung zu einem Machtkampf, in dem nur Platz für einen Weg ist: meinen oder deinen. Das Ergebnis kann, selbst wenn ich „gewinne“, immer nur zum Teil befriedigend sein, weil es auf Kosten der Beziehung geht: das „Wir“ verliert. Und der Teil in mir, der Zugehörigkeit, Verbundenheit und Nähe möchte, auch. Wie aber setze ich mich für das „wir“ ein, ohne das „ich“ zu vernachlässigen?

Diese Frage stellt für viele Menschen eine Überforderung dar. Nicht primär, weil sie an sich schon mental komplex sein kann, sondern weil die Gefühle, die mit dieser Frage einhergehen können, überwältigend und zu Tode beängstigend sein können. Und je wichtiger eine Beziehung ist, desto intensiver die Gefühle. Wer sich schon in einer Situation wie oben skizziert befunden hat, der kennt diese Intensität, die hinter den Äußerungen liegen dürfte. Klar zu denken, während Wut, Verletzung und Angst in einem toben, ist unmöglich. Das Nervensystem ist auf 180, absolute Achterbahn, ohne Anschnallgurte. Statt ruhigem Diskurs oder konstruktiver Auseinandersetzung sind nur noch Kampf, Flucht oder Einfrieren möglich. Wer nur die aktuelle Situation betrachtet, mag sich wundern, wie das sein kann. „Ging es nicht gerade noch nur um den Müll?“ Und ohne Verständnis für die Erlebnisse in den frühen Entwicklungsstadien eines Menschen, deren Folgen weit bis in’s Erwachsenenleben Auswirkungen haben, lässt sich auch nicht nachvollziehen, warum das so heftig sein kann.

Nahe am Abgrund

Da eine Voraussetzung für Lernen und Wachstum eine relative Stabilität ist, bedarf es oft einiges an Aufdeckung von abgewehrten Erinnerungen, um sich bewusst zu machen, wie prekär die Kindheit eines Menschen eigentlich ist – vor allem aus der Perspektive des Kindes. Wir sind maximal darauf angewiesen, dass wir von unseren Eltern und Fürsorgern gesehen und versorgt werden, weil es sonst niemand machen würde. Und selbst wenn uns im Fall von Gewalt oder Vernachlässigung in unserer relativ stabilen gesellschaftlichen Situation das Jugendamt retten und an die besten Adoptiveltern der Welt vermitteln würde – woher soll ein Kind das wissen? Hört also das Vorstellungsvermögen dafür auf, wo wir heute Abend schlafen, ob wir noch etwas zu Essen bekommen, es warm haben oder liebevoll behandelt werden, landen wir sehr schnell an einer Grenze. Und in der frühen Zeit, in der wir nicht einmal ein Vorstellungsvermögen haben, ist diese Grenze um so schneller erreicht. Ich glaube, dass wir selten eine genaue Vorstellung vom Tod entwickeln, sondern in den meisten Fällen so etwas wie einen „Nebel des Grauens“ wahrnehmen, an dem die Vorstellung verschwimmt und unscharf wird. Aber kommen wir diesem Nebel zu lange zu nah, empfinden wir Panik.

Da wir also für unsere Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität auf unsere primäre Beziehung, meistens mit der Mutter, angewiesen sind, kann diese Panik immer auch dann entstehen, wenn wir etwas anderes wollen, als die Mutter und dieser Unterschied die Sicherheit in der Beziehung bedroht. Je nach dem, von welchem Alter wir sprechen, sind die Möglichkeiten für das Kind natürlich unterschiedlich weitreichend. Aber nehmen wir mal an, es ginge darum, im Alter von 18 Monaten selber zu bestimmen, wie viel und was das Kind isst. Ist die Mutter entweder nicht in der Lage oder bereit auf das Kind einzugehen, kann für das Kind eine Notsituation entstehen, bei der es entweder bei dem bleibt, was es will und die Beziehung riskiert, oder seinen Willen aufgibt und sich anpasst, um Ruhe in die Beziehung und in’s eigene Nervensystem zu bringen. So lange es ein Machtkampf zwischen Mutter und Kind ist, ist letzere Wahl wesentlich wahrscheinlicher. Wir können schließlich auch ohne Selbstausdruck noch überleben, aber ohne Überlebensgrundlage bringt uns der Selbstausdruck nichts. Der Preis dafür ist, dass wir Teile unseres Selbstes leugnen, vergessen und verdrängen müssen, um den Verzicht darauf nicht als unerträglich zu erleben. Schaffen wir das nicht, werden Kampf- oder Fluchtimpulse so stark, dass wir ihnen nicht widerstehen können. Wer sich vorstellt, wie sich eine 3-jährige fühlen muss, die vor Schmerz und Wut hinaus in die Welt fliehen will, versteht, wie bedrohlich das sein muss.

Um jedoch ein gesundes Empfinden für sich selbst zu entwickeln, brauchen wir eine Situation, in der wir uns nicht zwischen Selbstausdruck und Beziehung entscheiden müssen. Und diese Situation entsteht nur durch Triangulierung. Traditionell ist mit dem „dritten Element“ der Vater gemeint. Und zur Illustration will ich auch vom Vater und seiner idealen Wirkung sprechen. Übergeordnet geht es bei der Triangulierung aber vor allem darum, dass es ein vermittelndes Element gibt, das zwischen den Unterschieden eine Brücke schafft. Weiter unten gehe ich darauf ein, welche anderen Formen es noch dafür geben kann.

Die Ideal-Situation

Gehen wir also davon aus, dass Mutter und Kind unterschiedliche Vorstellungen davon und Empfindungen dazu haben, was und wie viel gegessen werden sollte, kann es zum Machtkampf kommen. Kommt nun der Vater hinzu, der eine gute Bindung zum Kind und zur Mutter hat, kann er vermitteln. Er sieht unter Umständen etwas anderes in dem Verhalten des Kindes, wie z.B. den Wunsch, etwas selber zu bestimmen und zu spüren, welche Wirkung es damit haben kann. Wenn er das sieht und nachfühlt, kann er es formulieren und gegenüber der Mutter vertreten. Damit wird er quasi zum „Anwalt“ für das Kind, nimmt es in Schutz und stellt sich daneben. Das Kind kann schon mal anfangen sich zu entspannen, weil die Bedrohung durch die Mutter nachlässt.

Sicher ist die Beziehung aber erst, wenn der Vater nicht nur Antwalt, sondern auch Mediator ist. Dafür muss er auch die Bedürfnisse der Mutter verstehen, evtl. ihre Sorge darum, „es nicht richtig zu machen“, ihre Erschöpfung und ihr Bedürfnis nach Empathie und Erholung zu sehen. Die Präsenz und das Bewusstsein des Vaters sorgen dann für den Raum, in dem die Vermittlung stattfinden kann. Das Kind kann seine Gefühle und Bedürfnisse bewusst erleben, genauso wie die Mutter, ohne dass das die Fronten verschärft. Und vermutlich geht es dann nicht mehr um die konkrete Frage danach, wie viel gegessen wird, sondern um die darunterliegenden Gefühle und Bedürfnisse: die Erschöpfung und Entmutigung der Mutter, die Raum für sich und ihr Inneres braucht und das verständliche Bedürfnis des Kindes, selber zu bestimmen, was es essen mag. Mit dem Raum für diese Gefühle kann ein dritter Weg entstehen, der für Kind und Mutter gleichermaßen funktioniert und auch noch der Beziehung dient. Was genau das ist, ist nun gar nicht mehr so wichtig, weil die Verbindung auf Herzebene wieder hergestellt ist. Vielleicht ist das Kind satt, vielleicht gibt’s noch eine andere Idee zum Essen, vielleicht braucht die Mutter eine halbe Stunde für sich und der Vater springt ein.

Mir ist bewusst, dass ich damit eine Idealsituation beschreibe, die sich sicher sehr viele Menschen gewünscht hätten, jedoch eher selten erlebt haben werden. Damit möchte ich einen bewussten Maßstab dafür schaffen, wie es gehen kann – von dem ausgehend wir besser verstehen können, was in vielen Fällen fehlte und warum es unter Umständen auf diese Weise nicht möglich war. Und was es heute braucht, wenn wir über den Machtkampf hinauswachsen wollen.

Verschiedene Wege mit der gleichen Absicht

Wie schon gesagt, ist der Vater ein idealtypisches Beispiel, welches deswegen so viel Macht hat, weil in der Regel keine Bindung enger ist, als die mit der Mutter und die Notwendigkeit, Eigenständigkeit und Beziehung erhalten zu wollen, nirgendwo größer ist. In abgeschwächter Form kann diese Situation auch umgekehrt passieren, wobei das Kind mit dem Vater einen Konflikt hat und die Mutter vermittelt. Jeder andere nahestehende Erwachsene mit entsprechendem Bewusstsein kann ebenso die Vermittler-Rolle haben. Das vermittelnde Element kann aber auch darin bestehen, dass die Mutter selber Bewusstsein dafür hat, welche Berechtigung ihre Wünsche und Grenzen haben und sie ebenso im Blick hat, was das Kind braucht. Die Vermittlung findet dann in ihrem Bewusstsein statt und sie schafft einen Raum, in dem sie zunächst Verständnis und Einfühlung für sich entwickelt und dann Raum dafür öffnet, das Kind besser zu verstehen.

Vermittelnd wirken können auch Situationen im Außen oder im Körper. Die meisten Menschen erleben als Kind eine besondere Fürsorge, wenn sie krank sind. Ist der Krankheitszustand nicht allzu schlimm, kann er sogar herbeigesehnt werden, weil er der Mutter signalisiert „Meine Bedürfnisse sind jetzt wichtig.“ So kommt der sogenannte „sekundäre Krankheitsgewinn“ zustande, der letztlich im Kern mit der Erleichterung zu tun hat, mit den eigenen Bedürfnissen in der Beziehung vorkommen zu dürfen, ohne um die Beziehung fürchten zu müssen. Eine andere Art, die frühe Triangulierung zu erwirken, nutzt Geschlecht und Sexualität, worauf ich in einem künftigen Artikel eingehen will.

Ich bin sicher, dass es noch mehr Wege gibt, wie kleine Kinder versuchen, aus der Not dieses Machtkampfes zu entkommen, aber im Kern finde ich wichtig zu verstehen, um welche Qualität im Umgang miteinander es geht und warum und wofür die so wichtig ist. Angesichts dessen aber, dass die wenigsten solch eine Idealsituation erlebt haben, stellt sich die Frage, was wir nun mit diesem Wissen anfangen können. Offensichtlich können wir die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir haben die Möglichkeit, sie so zu untersuchen, dass wir vollständigere Bilder und umfassenderes Verständnis dafür gewinnen, wo wir in unserem Inneren jeweils stehen und was wir fühlen und verstehen müssen, bevor wir zur Triangulierung fähig sind.

Selbst vermitteln

Eine Art, das „Ziel“ von Psychotherapie zu beschreiben ist, „sich selbst der Vater und die Mutter zu werden, die man nicht hatte.“ Dies spricht darauf an, dass Bewusstsein an sich triangulieren kann. Wenn ich aufdecke, spüre und benennen kann, was in mir passiert, nehme ich dazu eine beobachtende Zeugenposition ein. Von dieser Position aus kann ich vermitteln – entweder mit einer mir wichtigen Person im Außen, oder auch zwischen verschiedenen Positionen in mir selber, wie z.B. wenn ich gleichzeitig autonom und jemandem nah sein möchte. Ohne dieses Bewusstsein spüre ich meine Bedürfnisse mitunter nur als Druck, dem ich nachgehen muss, wenn ich nicht unter unfassbare Spannung geraten will. Und wenn ich dadurch in einen Konflikt mit meinem Gegenüber gerate… nun, dann kann aus einem Hinweis zum Müll eine Nacht getrennt schlafen werden. Oder auch mehrere Nächte.

Zur Bewusstwerdung von Gefühlen und Bedürfnissen gibt es neben klassischer Psychotherapie einige Ansätze, die ich dafür hilfreich finde, allen voran die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg. Das schwierigste an der Entwicklung des Triangulierens liegt allerdings nicht auf der mentalen Verstandesebene, sondern ist tiefer, emotional und körperlich, verankert. Wie schon gesagt, besteht die Überforderung in der Regel vor allem darin, die Heftigkeit der Gefühle nicht ertragen zu können, die angesichts von Konflikten mit Menschen, die wir sehr nah an uns heranlassen, auftauchen können. Dazu zähle ich Enttäuschung, Wut, Verletzung und Angst. Manchmal aber sind es auch die „schönen“ Gefühle, die wiederum Panik auslösen können, weil sie an die eigene Verletzlichkeit und wiederum an den möglichen Schmerz erinnern.

Das Ertragen dieser Gefühle ist unter Umständen erst nach langer innerer Auseinandersetzung möglich, da wir sie unverarbeitet als pure Panik, Auflösung, tiefste Verzweiflung, Todesangst oder andere, viel rätselhaftere Symptome erleben können, die mitunter so weit vom Bewusstsein weg sind, das sie nur körperlich auftauchen. Kopf- und Bauchweh sind beliebte Kandidaten. Und je weniger bewusst uns unsere Geschichte und die heutigen Zusammenhänge damit sind, desto rätselhafter und beängstigender können diese Zustände sein, so dass wir alles mögliche tun, um sie zu vermeiden. Dazu gehören Süchte, Selbstbilder und Überzeugungen, an die wir trotz klarer Gegenbeweise glauben. Aber zur Vermeidung eignen sich auch alle Versuche, einen geliebten Menschen auf Abstand zu halten oder Druck auf ihn auszuüben, er möge doch die unbewussten Deals einhalten, die wir vermeintlich einvernehmlich eingegangen sind und sich an unsere Wünsche anpassen.

Wenn wir diese heftigen Zustände jedoch konsequent vermeiden, kommen wir auch nicht in die Position, deren Wurzel für die heutige Situationen adäquat zu berücksichtigen und in die Vermittlung bei konkreten Konfliktsituationen mit einfließen zu lassen. Mitunter braucht es heftige Krisen im Leben eines Menschen, bevor er bereit ist, sich mit den vermiedenen und abgewehrten Gefühlen auseinanderzusetzen. Die Situation im Außen muss manchmal so unerträglich werden, dass das innere Unerträgliche im Vergleich akzeptabel wirkt. Da das wiederum auch überfordernd sein kann, kann die innere Arbeit sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, in der in ganz kleinen Schritten, Schicht für Schicht der Gefühle zu dem frühen Drama des Machtkampfes und der Anpassung ins Bewusstsein gelangt.

Ist dieser Weg jedoch für einen guten Teil gegangen worden, kann das erwachsene Bewusstsein die innere frühe Not erfassen, berühren und halten, so wie der damalige ideale Elternteil es getan hätte. Wir können dann zu unserem eigenen Anwalt und Mediator werden. Dadurch wird echtes und tief empfundenes Mitgefühl mit dem Kind möglich, das wir einmal waren und deren Gefühle und Erlebnisse bis heute prägen, wer wir sind. Und mit diesem bewussten Mitgefühl kann ich in die Vermittlung gehen – sei es zwischen verschiedenen Anteilen in mir oder zwischen mir und einem geliebten Menschen, mit dem ich Unterschiede habe. Außerdem habe ich damit auch die innere Freiheit, innerhalb einer Beziehung Grenzen zu ziehen und unter Umständen Abstand zu schaffen, wenn ich Raum für innere Vermittlung brauche. Komme ich zu dem Schluss, dass mein Gegenüber nicht die Voraussetzungen erfüllt, die ich mir für die Beziehung wünsche, kann ich auch entscheiden, eine Beziehung zu beenden – und dank der inneren Vermittlung die Gefühle auffangen, die dieser Verlust vermutlich auslöst und die als Kind unerträglich gewesen wären.

Eine Alternative

Vor dem Hintergrund des bis hierher Erörterten möchte ich nochmal den Dialog vom Anfang aufgreifen, mit dem Unterschied, dass es dem Mann möglich ist, mit der Triangulierung zwischen verschiedenen Anteilen in ihm und seiner Partnerin anzufangen, bevor auch sie miteinstimmt. Damit möchte ich demonstrieren, welcher Raum dank der Triangulierung aufgehen kann, in dem all die Konflikte, Unterschiede, aber auch die Verbundenheit Platz haben.


Sie: „Schatz, hast du den Müll schon rausgebracht?“

Er: „Nee, aber mache ich später, jetzt stress mich doch nicht so!“

Sie: „Mach ich doch gar nicht! Ich hab halt keinen Bock auf ’ne stinkende Küche und sehe nicht ein, dass ich schon wieder dafür sorgen soll!“

Er: „Moment mal… lass uns mal für einen Moment inne halten, irgendwas läuft hier gerade aus dem Ruder…“

Sie ist zwar angespannt und wütend, aber wird still und lässt ihm Raum zum Spüren. Er schließt die Augen und nimmt wahr, dass er sehr unter Spannung steht. Ihm wird bewusst, dass er Angst hat, er könnte seine beruflichen Aufgaben nicht rechtzeitig schaffen und dabei Geld einbüßen, das er sehr gerne für sich und seine Partnerin zur Verfügung hätte. Auf einer noch tieferen Ebene spürt er die Verzweiflung, die er als kleiner Junge hatte, wenn er keine Worte dafür hatte, wie es ihm ging und sich so gewünscht hätte, seine Mutter hätte es erspüren und ihn verstehen können. Das war oft nicht so gewesen und sein Vater war ebenso nicht da gewesen, um für das Verständnis zu sorgen. Er hatte lange gebraucht, um den tiefen Schmerz und die Ohnmacht darüber endlich zulassen zu können, statt sich zu sagen, dass er das nicht bräuchte oder irgendwann noch erwirken könnte. Auf einer Ebene hätte er dieses Verständnis gerade unfassbar gerne von seiner Partnerin bekommen. Auf einer anderen Ebene kann er sie sehen, wie sie gerade ebenfalls unter Druck steht, auch wenn er noch nicht genau weiß, was dahinter steckt. Er atmet noch einmal durch, öffnet die Augen und sagt: „Du, Schatz, ich merk, dass du ganz schön unter Druck zu stehen scheinst. Magste sagen, was dich so beschäftigt?“

Sein ruhiger und freundlicher Tonfall berührt und beruhigt sie schon ein ganzes Stück weit und sie sagt: „Ach du… ja, das stimmt. Sorry, dass ich dich gerad so angeschnauzt hab. Ich habe jetzt ein paar Mal gehört, dass du Dinge später machen willst und dann waren sie doch nicht gemacht. Mich stresst das total, weil ich dann anfange zu zweifeln, dass du mich wirklich hörst und ernst nimmst.“

Er nimmt das auf und ist erleichtert, sie darin spüren zu können. Weil er sie kennt, hört er auf einer tieferen Ebene das Kindheitsthema von ihr, bei dem in Frage steht, ob ihre Bedürfnisse überhaupt eine Rolle spielen durften, wenn sie anders waren, als ihre Mutter wollte oder wichtig fand. Sie hatten darüber schon oft Gespräche geführt, deswegen antwortet er: „Das trifft dich gerad an dem alten Punkt, oder?“

Sie: „Ja… danke, dass du das gerad siehst.“ Sie seufzt und es kommen ihr ein paar Tränen. Sie ist gerührt davon, dass er sie sieht. Gleichzeitig spürt sie auch, wie tief dieser Schmerz sitzt und wie schwer es ihr manchmal fällt, ihn bewusst zu ertragen. Ganz davon zu schweigen ihn zu halten und Mitgefühl mit sich zu haben. Stattdessen spürt sie schnell den Impuls, sich unter Druck zu setzen und den Druck wütend nach außen weiter zu geben. Manchmal fällt sie auf den Druck hin auch dissoziiert in sich zusammen und spürt nichts mehr, wie als sie ganz klein war und ohne die Mutter nichts machen konnte. Sie fühlt die Not wie eine unfassbare Last auf der Brust, der ihr schier den Atem raubt. Sie erinnert sich, wie einsam sie als kleines Mädchen war, wenn ihr die Beachtung und das Verständnis ihrer Mutter fehlte und auch für sie kein Vater da war, der hätte vermitteln können. Auch sie wünscht sich manchmal, ihr Partner könnte das verstehen, ohne dass sie etwas sagen müsste – dann würde diese unerträgliche Verzweiflung doch gar nicht erst aufkommen! Gleichzeitig weiß sie genug, um zu verstehen, was es ihn kosten würde, wenn er das versuchen würde. Denn er müsste dafür viel mehr auf sie als auf sich achten – und das würde letztlich der Beziehung und damit auch ihr schaden. Nach vielen Versuchen in der Vergangenheit weiß sie, dass sie diesen Preis nicht zahlen möchte.

Zu ihm sagt sie also: „Weißt du, ich weiß, dass du mir nicht abnehmen kannst, dass ich mich mitteile, wenn ich fürchte, dass du mich nicht ernst nimmst, auch wenn ich mir das manchmal so wünschen würde. Und ich kann sehen, dass du selber unter Druck stehst und der Haushalt für dich deswegen auch gerade hinten an steht…“ Sie hält inne, atmet durch und sagt: „Ich merke gerade, ich stehe nicht mehr unter Stress. Ich kann gerad meinen Zweifel und die Verzweiflung von früher verstehen. Ich krieg außerdem mit, dass du mich ernst nimmst.“

Er ist erleichtert und berührt und lädt sie zu einer tiefen, zärtlichen Umarmung ein. Nachdem sie sie annimmt, sagt er ihr sanft in’s Ohr: „Was hältst du davon, wenn ich jetzt den Müll rausbringe und wir es uns dann auf der Couch gemütlich machen?“

Sie: „Das fänd ich ganz wunderbar… dann bereite ich schon mal die Snacks vor.“

Grenzen und Sex

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

„Ich verstehe mich einfach nicht. Wie kann es sein, dass ich scheinbar nur auf Typen stehe, die sich einen Dreck um mich scheren, und dann schon fast angewidert bin, wenn ein Mann mich respektvoll und freundlich behandelt? Hab ich sie noch alle? Halte ich wirklich so wenig von mir, dass sich eine Beziehung nur ‚richtig‘ anfühlt, wenn ich darum kämpfen muss, beachtet zu werden?“

Sowohl privat als auch in der Praxis höre ich immer wieder von diesem Dilemma, wenn es um sexuelle Beziehungen geht. Irgendetwas scheint gar nicht zusammen zu passen, für Männer und für Frauen: einerseits sehnen wir uns nach liebevollem Kontakt, Gemeinsamkeit, Nähe, Geborgenheit. Andererseits wollen wir Aufregung, Leidenschaft, Unvorhersehbarkeit, viel Energie und Bewegung. Scheinbar ist einerseits Sicherheit wichtig, andererseits ist es langweilig, wenn alles so läuft, wie erhofft oder erwartet. Wie kann das sein? Was ist da los?

Ich ringe in diesem Thema schon lange um Klarheit. Denn was die Klientin in dem Zitat beschreibt, kenne ich als Mann als Doppelbotschaft an mich, an der ich schon manches Mal verzweifelt bin: einerseits wünscht sich meine Liebste Entschiedenheit, andererseits Einfühlsamkeit. Sie will sowohl klare Ansagen als auch weiches Auffangen und zwar ohne, dass sie mir sagen muss, wann was für sie dran ist. Wenn ich dann noch vergesse, wofür ich eigentlich selber in die Beziehung gegangen bin, was ich von meiner Partnerin will und wozu, verliere ich gänzlich den Überblick. Es kann sehr verwirrend sein. Was also kann als Orientierung dienen, um Licht in dieses Dunkel zu bringen?

Was ich zu dieser Frage im Folgenden beschreibe, verstehe ich lediglich als eine von mehreren möglichen Herangehensweisen an das benannte Problem. Ich erhebe nicht den Anspruch, damit alle möglichen Hintergründe erschöpfend behandelt zu haben.

Feminin und Maskulin

Es gibt zum Thema Beziehung und Sexualität sehr viel Literatur, die ich hilfreich finde, allerdings verdanke ich vor allem David Deida einige Grundgedanken, durch die ich in diesem Thema an Orientierung gewonnen habe. Er hat 10 Bücher geschrieben, die in 25 Sprachen übersetzt wurden, leitet Seminare und lehrt spirituelle Sexualität. In diesem Kontext verstehe ich unter „spirituell“ etwas Überpersönliches, denn wir kommen in der von Deida beschriebenen Sexualität mit Seins-Qualitäten in Kontakt, die uns mit einer anderen Wahrnehmung von uns selbst und der Welt verbinden können. Mit Deida als Lehrer habe ich leider immer auch ein mulmiges Gefühl gehabt, weswegen es lange gedauert hat, bis ich aus seinen Ideen etwas für mich verwend- und verwertbares extrahieren konnte. Im letzten Abschnitt dieses Artikels gehe ich darauf ein, was an seiner Art ich kritisch sehe, aber für jetzt möchte ich vorstellen, was mir wertvoll erscheint und welche Sichtweise sich für mich daraus ergeben kann.

Deida behauptet, dass erotische Spannung, die wir als lustvoll erleben, immer dann auftaucht, wenn ein Partner im maskulinen und einer im femininen Pol ist. Und nur dann. Die Pole werden maskulin und feminin genannt, weil nicht festgelegt ist, welches Geschlecht in welchen Pol geht, aber mit jedem Pol bestimmte Qualitäten einhergehen, die mit der geschlechtlichen Anatomie und den Neigungen der meisten Männer und Frauen korrespondieren. Und auch homosexuelle Paare erleben Lust in dieser Polarität. Da ich aber mit den Besonderheiten von homosexueller Polarität leider keine Erfahrung habe, beschränke ich mich hier auf heterosexuelle Polarität.

David Deida

Deida bringt das Maskuline und das Feminine mit dem in Verbindung, was im Buddhismus das Zusammenspiel von „Leere und Form“ genannt wird. Auch das Yin/Yang-Symbol aus dem Taoismus, das u.a. für Chaos und Ordnung steht, passt dazu. Dabei repräsentiert das Maskuline die Leere und das Feminine die Form. Mit Leere ist hier Potential und Ungeborenes gemeint, das Geistige, die Idee, so wie eine leere Tasse Platz für Tee bietet oder ein leerer Fensterrahmen eine Sicht freigibt. Die Leere ist Freiheit, nicht festgelegt, offen, still. Ein Ursprung, von dem etwas ausgehen kann, Raum, in dem etwas geschehen kann. Das Feminine repräsentiert hingegen die Fülle, den Inhalt, das Konkrete, Geborene, Manifeste, welches sich im Raum der Leere ausbreiten und halten lassen kann. Im Raum bekommt die Fülle Form, bewegt sich in die vorgegebene Richtung und ist einfach, was immer sie gerade ist.

Bildlich ist der maskuline Pol mit einem Flussbett vergleichbar, während der feminine Pol durch den Fluss repräsentierbar ist. Das Maskuline hält, gibt Richtung vor, ist präsent, ruhig und konzentriert. Es drückt einen Willen aus, führt und begrenzt. Das Feminine ist Energie und Empfinden, breitet sich aus, bewegt sich unentwegt hierhin und dorthin, ohne eigene Richtung. Es drückt in voller Ladung aus, was ist und erscheint in allen Farben des Lebens. Beide Pole sind in ihrer Form mächtig und kraftvoll. Das Flussbett äußert seine Kraft im Halten, der Vorgabe der Richtung und Begrenzung. Die Kraft des Flusses drückt sich in der Bewegung, Geschwindigkeit und Wendigkeit aus und steht in Spannung zur Führung des Flussbettes, manchmal mehr, manchmal weniger. So lange es Unterschiede zwischen den Polen gibt, also zwischen dem, was das Maskuline vorgibt und dem, wie das Feminine folgt, gibt es Spannung und Reibung. Das macht Lust und ist aufregend, für beide Partner.

Idealerweise.

Wie schon hier beschrieben, erleben wir Spannung in einem Spektrum. Das heißt, je besser wir uns mit etwas auskennen, je geordneter und strukturierter etwas ist, desto mehr Herausforderung wollen wir, um einen Kitzel, Aufregung, Sinn und Neues zu erleben. Landen wir dabei zu weit im Unbekannten, können wir Angst und Panik bekommen und uns nach strukturierten Umständen sehnen. Diese können dann für Halt und Sicherheit sorgen, aber ebenso die erotische Polarität stören, da zu wenig Unterschiede und Fremdheit zwischen den Partnern besteht, dass es noch aufregend wäre. Genau das scheint das Dilemma zu sein, von dem die Klientin im obigen Zitat spricht. Aber wie lässt sich das lösen?

Sexuelle Entwicklung

Es gibt einige Autoren, die davon sprechen, dass die menschliche Entwicklung mit dem Erreichen des Erwachsenenalters nicht abgeschlossen sei. Vor allem Ken Wilber verdanke ich hier einen Überblick über die vielen verschiedenen Forscher, die Modelle zur Beschreibung von Entwicklungsstufen erstellt und durch Studien untermauert haben. Sie zeigen auch für Erwachsene noch neue Möglichkeiten auf, sich und die Welt zu erleben. Wohl am bekanntesten ist die Bedürfnispyramide von Maslow, die eine Sequenz von Lebensthemen beschreibt, zu denen wir in einer bestimmten Reihenfolge Zugang gewinnen können. Andere Autoren wie Clare Graves und Don Beck beispielsweise beschreiben die Entwicklung von Werteprioritäten (Spiral Dynamics), Jane Loevinger beschreibt Ich-Entwicklung, Lawrence Kohlberg moralische Entwicklung. Soll diese Entwicklung gesund sein, gilt das von Ken Wilber postulierte Prinzip, dass jeder Mensch, der auf eine neue Entwicklungsstufe gelangt, über die vorherige Stufe hinausgeht, aber Elemente der vorhergegangenen Stufe integriert (transcend and include). Gelingt das nicht, gibt es Konflikte, Fixierungen, Verzerrungen und eine Menge Verwirrung.

Genau diese Phänomene finde ich auch in dem Zitat meiner Klientin. Und zu deren Aufklärung möchte ich an dieser Stelle vorstellen, wie David Deida in drei Stufen die sexuelle Entwicklung von Männern und Frauen skizziert und was sich für mich daraus ergibt. Die Unterscheidung dieser Stufen erlebe ich als heilsame Klärung von scheinbar unauflösbaren Widersprüchen. Allerdings zeigen diese Stufen auch Herausforderungen auf dem Weg zu Erfüllung in Liebe und Sexualität auf, die massiv sein und nur mit Mut und der Bereitschaft, schmerzhafte und beängstigende Ecken im eigenen Innern anzuschauen und gelten zu lassen, zu bewältigen sein können.

Wenn du so bist, kann ich so sein

Die erste Stufe in Deidas Entwicklungsmodell nenne ich „Unbewusste Deals“. Sie ist davon geprägt, dass wir uns unseren Zustand und unser Verhalten als Resultat dessen erklären, wie der andere ist und was er tut. Ich habe im Artikel über Lust, Spannung und Depression beschrieben, wie wir in Beziehung zu unseren Eltern Verhaltens- und Abstimmungsmuster entwickeln, die gewissermaßen unsere erste unbewusste Orientierung dafür darstellen, wie wir in Beziehung gehen. Darin ist enthalten, wie gut wir die Wünsche und Grenzen von uns selbst und anderen kennen, was wir glauben und für möglich halten und wie gut wir es aushalten, wenn es Unterschiede gibt, die wir nicht auf einfache Weise lösen können. All diese Überzeugungen und Haltungen sind ohne Selbsterfahrung und Reflexionsarbeit unbewusst, das heißt, wir wissen entweder nicht, dass wir so empfinden oder wir können nicht zwischen unserer Überzeugung und der Welt unterscheiden. Dass das so ist, hat neben der Tatsache, dass wir nur durch die Bildung von Unterschieden und Kontrasten Bewusstsein erlangen, die Funktion, dass wir die überlebenswichtige Beziehung zu den Eltern stabil halten. Wenn bestimmte Impulse bei den Eltern Wut oder Depression auslösen, ist es sicherer, die Impulse nicht nur vor den Eltern, sondern auch vor sich selbst zu verstecken.

Ich denke dabei an die zitierte Klientin, die über Jahre hinweg an einem Mann hing, der wenig Bereitschaft hatte, sich auf sie einzustimmen, oft nicht verfügbar war, wenn sie Zeit mit ihm wollte und regelmäßig in Schwierigkeiten steckte, bei denen sie ihm bereitwillig aushalf. Einmal hatte er die Beziehung sogar für eine andere Frau beendet, was die Klientin sehr verletzte. Dennoch nahm sie ihn zurück, als er wieder frei war. Sie rätselte in den Sitzungen oft darüber, warum sie sich so nach ihm sehnte, wo sie doch jedem Recht geben musste, der ihr sagte, dass es ihr mit jemand anderem besser gehen könnte. Lange Zeit wusste sie nur, dass sie nur in seinen Armen eine Beruhigung erfuhr, die sie sonst nicht kannte und die sie mit den Worten „Nur da fühle ich mich wertvoll“ umschrieb. Sie war abhängig, weil ihr unbewusstes Abstimmungsmuster mit dem ihres Partners zusammenpasste und sie in dieser Passung etwas fühlen konnte, wozu sie sonst keinen Zugang hatte. Dafür nahm sie auch Respektlosigkeit, Grenzüberschreitung und Unehrlichkeit in Kauf, denn meldete er sich abends bei ihr zum Kuscheln oder Sex, gelang es ihr nicht, das abzulehnen, selbst wenn sie sich das tagsüber vorgenommen hatte. Was dahinter steckte, erläutere ich im Abschnitt zu Stufe 2.

Auf Stufe 1 erleben wir Himmel und Hölle. Wenn etwas zueinander zu passen scheint und wir in unserem Gegenüber endlich den Partner finden, der uns ergänzt, uns bestimmte Erfahrungen ermöglicht oder erspart, die wir alleine nicht erreichen oder mit denen wir nicht zurechtkommen, und wir uns auf einer Ebene endlich angekommen fühlen, gibt es wahrscheinlich kaum eine größere Erleichterung, keinen tieferen Rausch und keine intensiveren Schmetterlinge im Bauch. Wir wollen jemanden und zwar so ganz. Und zu wollen an sich gibt uns Energie und Lebenskraft. Aber da die Passung auf unbewussten Mustern beruht, ist sie auch extrem störanfällig. Sie erfordert relativ rigide Übereinstimmungen und eine unbewusste Abmachung die sagt „Wenn du so zu mir bist, bin ich so zu dir.“ Das heißt, im Denken ist mein Gegenüber für meine Gefühle verantwortlich. „Du machst mich glücklich/unglücklich“. Das lässt wenig Raum für Andersartigkeit oder Veränderung, erfordert unter Umständen die Kapazität, alles zu verdrängen, was nicht in’s Idealbild passt und ist manchmal sogar gefährlich. Denn die Ängste, die auftauchen, wenn es nicht mehr passt, können so intensiv sein, dass wir sie mittels Gewalt und Druck auf den Partner ausagieren, damit der andere endlich wieder so tickt, wie wir uns das vorgestellt haben, als wir uns verliebt hatten.

Ein Aspekt von Stufe 1 ist auch, dass wir einander eher in den traditionellen Rollen als Mann und Frau begegnen und begehren, als in den wirklichen Eigenheiten als Person. Martin Ucik hat in seinem Buch Integrale Beziehungen von „primären Phantasien“ gesprochen, die beschreiben, welche Eigenschaften Männer und Frauen auf Basis des Fortpflanzungstriebs aneinander heiß finden. Demnach stehen Männer auf alles, was auf Fruchtbarkeit und Gesundheit hinweist und die Chancen auf gesunde und kräftige Kinder anzeigt, also das Alter, das Verhältnis zwischen Hüfte und Taille, die Struktur der Haare und Beschaffenheit der Haut. Frauen finden an Männern alles scharf, was auf die Kapazität hinweist, Ressourcen zu generieren. Dazu gehören Körperkraft, Status, das Einkommen, aber auch Eigenschaften wie Souveränität und Humor, da diese Zuversicht signalisieren und damit indirekt versprechen, dass der Mann in der Lage ist, den materiell sicheren Rahmen für Nachwuchs zu schaffen, der mindestens 3 Jahre Stabilität verschafft. Auch das ist in der Regel unbewusst und offensichtlich sehr reduktionistisch und oberflächlich. Aber es ergibt Sinn und es wirkt. Phantasien wie „50 Shades of Grey“ und „9 1/2 Wochen“ basieren auf den primären Phantasien von Frauen, die meiste Pornographie auf der von Männern.

Für die Polarität bedeutet das, dass mit der passenden primären Phantasie und unbewussten Passung die Leidenschaft sehr intensiv sein kann. Wir geben für das Zusammensein Grenzen und Eigenarten auf und fühlen uns gewissermaßen „symbiotisch“ verbunden. Als Mann kann ich eine Frau unendlich begehren und dafür ganz viel in Kauf nehmen, was ich in ruhigem Zustand nicht hinnehmen würde. Dieses Wollen kann für mein Gegenüber so erregend sein, dass sie Lust hat, sich dem ganz hinzugeben, ebenfalls unter Aufgabe bestimmter Eigenarten und Grenzen. So lange die Vorstellung der Symbiose und die unbewussten Deals funktionieren („Wir sind eins“), fühlt sich das sehr aufregend und schön an. Aber da die Unbewusstheit eben bedeutet, dass eigene Grenzen und Wünsche nicht klar sind, kann das natürlich total schief gehen. Im einen Moment war es dann noch schön, sich gegenseitig herauszufordern oder nach einem „Nein“ noch weiter zu gehen, im nächsten fühlt es sich plötzlich ganz schrecklich an. Und der andere, der einen so glücklich „gemacht“ hatte, wird plötzlich zur größten Enttäuschung oder sogar Bedrohung.

Für den Sex bedeutet das oft, dass er gemieden wird, wenn der Punkt der Symbiose überschritten ist. Von Verliebtheit wird oft gesagt, dass sie nicht länger als 6 Monate anhalten kann. Ich würde sagen, dass das für Stufe 1 gilt, denn länger halten wir in der Regel die Illusion der absoluten Passung nicht aufrecht. Zumindest wird sie brüchig und die Lücken sorgen dafür, dass wir uns nicht mehr in die Polarität fallen lassen, denn sowohl im maskulinen als auch im femininen Pol brauchen wir Vertrauen. Als Mann möchte ich mit meinen Impulsen Lust entfachen, nicht weh tun. Das heißt, ich brauche Vertrauen, dass ich Wünsche und Grenzen mitgeteilt bekomme, die ich nicht selber erahnen kann. Wenn eine Frau sich hingibt, braucht sie Vertrauen, dass sie ernst genommen wird, wenn wirklich etwas über ihre Grenzen geht. Gelingt das nicht, kann es immer noch sein, dass wir weiterhin Sex haben, aber ohne wirkliche Nähe und mit Hilfe von Substanzen oder Phantasien. Frauen erfüllen ihre „ehelichen Pflichten“ oder erhoffen sich vom Sex, dass der Mann besser gelaunt ist und sie versorgt. Männer erleben vielleicht eine kurzfristige Entspannung dabei, aber es fließt keine Energie zu ihnen, die sie öffnet und sich lebendig fühlen lässt. Früher oder später entsteht ohne Weiterentwicklung der Eindruck, sich auf den „falschen“ Partner eingelassen zu haben. Das Problem lösen die meisten mit Affären, mit einer Trennung, oder, wenn die existenzielle Abhängigkeit zu groß ist, mit asexuellem Zusammenleben. Unter Umständen aber taucht auch der Impuls auf, wirklich verstehen zu wollen, was da eigentlich passiert.

Du bist du und ich bin ich

Die zweite Stufe in Deidas Entwicklungsmodell nenne ich „Verantwortung und Grenzen“. Auf ihr geht es um eine klare Differenzierung zwischen Ich und Du, so dass wir uns nicht in der Verbundenheit miteinander verlieren. Denn es ist wahrscheinlich keine Überraschung, dass wir aus den unbewussten Deals nur herauskommen, wenn wir uns Klarheit darüber verschaffen, nach welchen unbewussten Mustern wir uns unseren Partner ausgesucht haben und wie wir uns selbst um die dahinterliegenden Sehnsüchte und Bedürfnisse kümmern können. Auf eine Weise könnte man sagen, dass alle Arbeit, die den Sinn hat uns zu bewussteren, erwachseneren und verantwortungsvolleren Menschen zu machen, mit Stufe 2 zu tun hat. Das ist mitunter ein langer und steiniger Weg, der viel Reflexion und Selbsterfahrung erfordert und von viel Verwirrung, Leid und wiederholtem „Nein, so geht’s nicht“ geprägt sein kann. Ist der Leidensdruck auf Stufe 1 nur hoch genug, weil die unbewusste Passung immer wieder zu Enttäuschungen geführt hat, wirkt das jedoch alternativlos.

Für sexuelle Beziehungen ist auf Stufe 2 vor allem die Freiwilligkeit und der Konsens entscheidend. Da der Leidensdruck, der uns animiert, uns über Stufe 1 hinaus zu entwickeln, vor allem aus Verletzungen, Enttäuschungen, Übergriffen und Resignation entsteht, brauchen wir eine scharfe Wahrnehmung dafür, wo wir anfangen und wo wir aufhören, um mitzubekommen, wann wir uns wieder in Gefahr bringen. Das bedeutet auch, dass wir erkennen müssen, an welchen Stellen wir uns auf unbewusste Deals eingelassen haben, weil wir etwas davon haben, was wir uns alleine nicht zu geben vermögen. Das ist oft nicht so einfach, denn die Konfrontation mit einem Deal verdeutlicht auch die Herausforderung, wirklich erwachsen und eigenständig mit unseren Wünschen umzugehen und sie anderen nicht aufzudrücken. Ich muss also bereit sein, der mitunter lang in meine Kindheit zurückreichenden Entbehrung die Stirn zu bieten, sie zu fühlen und zuzulassen, ohne mir oder anderen etwas anzutun. Erst wenn ich meinem Gegenüber die Freiheit zugestehen kann, Nein zu sagen, ohne dabei in Panik zu geraten, kann ich selbst ruhigen Gewissens eine Grenze setzen und jemanden enttäuschen. Und die Fähigkeit zu enttäuschen ist unverzichtbar, wenn ich mich nicht verlieren will. Wer einmal bewusst erkannt hat, was es bedeutet, sich zu verlieren und/oder mit jemandem zu leben, der sich verloren hat, erkennt in der Grenze ein höheres Gut als in einem Ja, dessen Preis zu hoch ist. Das macht Enttäuschungen erträglich und vertretbar.

Ein Gradmesser für diese Fähigkeit lässt sich auch in der Beziehung zu den Eltern ablesen, egal, ob sie noch leben oder wir sie nur noch als inneres Bild (Introjekt) mit uns herumtragen. Die Eltern zu enttäuschen konfrontiert uns nämlich mit genau dem Abgrund, gegen den wir uns mit unseren Abstimmungsmustern unbewusst abgesichert haben. Bange Fragen wie „Was wenn wir uns mal wirklich zoffen?“, „Kann meine Mutter überhaupt alleine zurechtkommen, ohne zu sterben?“, „Wie überlebe ich das nächste Weihnachten, wenn ich jetzt die Wahrheit sage?“ geben einen Indikator dafür, an welchen Stellen wir noch nicht in Stufe 2 gelangt sind, weil wir die unbewusste oder auch reale existenzielle Abhängigkeit von den Eltern noch nicht gelöst haben.

Die zitierte Klientin beispielsweise entdeckte mit der Zeit, wie ihr Empfinden, in den Armen ihres Partners „wertvoll“ zu sein, davon geprägt war, wie sie gelernt hatte, den Kontakt zu ihrer Mutter zu regulieren. Ihre Eltern hatten sich früh getrennt und sie hatte eine fürsorgliche Rolle für ihre beiden jüngeren Geschwister und ihre Mutter übernommen. Unbewusst hatte sie in einem kritischen Alter registriert, dass ihre Mutter keinen Raum für die Bedürfnisse der Klientin hatte, wenn sie nicht direkt in ihren Kram passten. Stattdessen war die Klientin gewohnt, umgestimmt oder übergangen zu werden, wenn sie etwas Eigenes wollte. Um diese Spannung zu vermeiden hatte sie gelernt, sich nützlich und hilfreich zu machen, um so wenig Ärger wie möglich zu erleben und die Beziehung zur Mutter stabil zu halten. Erst wenn ihr das gelang, konnte sie sich entspannen. Dies übertrug sie unbewusst auf ihre Beziehung, denn da ihr Partner immer wieder Anlass dazu gab, dass man ihm helfen und um seine Beachtung kämpfen musste, konnte die Klientin diese Rolle auch mit ihm leben. In seinen Armen zu liegen war dann die Bestätigung, dass ihr unbewusstes Muster funktionierte und sie beruhigt sein konnte.

Im Prinzip wäre das der Moment gewesen, an dem sie ihre eigenen Wünsche und Pläne hätte verfolgen können, aber so weit kam sie innerhalb der Beziehung nie. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass das kein Zufall war. Hätte sie wirklich Raum für sich bekommen, hätte sie sich fragen müssen, was sie wirklich wollte. Und damit wäre sie in Territorium vorgestoßen, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt immer gemieden hatte, auch um keinen Konflikt mit ihrer Mutter zu bekommen. Die Schwierigkeiten mit ihrem Partner boten dazu eine unbewusst willkommene Ablenkung, denn bei all der Regulation blieb kein Raum dafür, dass die Klientin sich wirklich auf sich konzentrieren konnte. Und damit konnte sie auch die Herausforderungen bannen, die ein selbstbestimmtes Leben mit all seinen Komplikationen bereitet hätte. Erst als sie dies erkannte, beschloss sie, sich von ihrem Partner zu trennen und blieb auch dabei.

Stufe 2 ist im besten Sinne das Ergebnis unserer humanistischen Weiterentwicklung im letzten Jahrhundert, die jedem Menschen ein eigenes, selbstbestimmtes Leben ermöglichen will. Dass wir für eine sexuelle Beziehung Konsens als notwendige Bedingung definieren ist noch nicht lange und längst nicht überall selbstverständlich. Man bedenke nur, dass der Tatbestand der Vergewaltigung in Deutschland bis 1997 (!) nur für außereheliche Beziehungen galt. Und bei allen Auswüchsen der #metoo-Bewegung, die an Selbstjustiz und Rache grenzen können, bin ich über den Kern der Bewegung sehr froh: Bewusstsein für die Sicherheit und Achtung von Grenzen und Integrität von Seele und Körper.

Es gibt nur leider einen Haken: wenn zwei Menschen selbstbestimmt, abgegrenzt und verantwortungsvoll nebeneinander stehen entsteht keine erotische Polarität. Für den Funken braucht es gewissermaßen die Bereitschaft, dass etwas „überspringt“, dass eine Grenze sich auflöst, und der Wille des einen zu dem des anderen wird. Penetration ist inhärent grenzüberschreitend, Hingabe immer an etwas Anderes, was ich in mich hineinlasse. Und damit meine ich gerad nicht nur die offensichtliche Öffnung der Frau, denn auch der Mann lässt über das Herz die Energie der Frau in sich hinein, wenn er die Polarität zulässt. Wie kriegen wir das hin, wenn wir gleichzeitig alles selber machen wollen?

Ich kann mich an eine Falschmeldung im Internet erinnern, laut der das schwedische Parlament ein Gesetz erlassen hätte, nach welchem jeder Schritt bei einer sexuellen Begegnung, zu dem keine verbale Zustimmung erfolgt sei, als Vergewaltigung gewertet werden könne. Dazu gab es empört-hämische Kommentare von hauptsächlich Männern, die meinten, das ganze ginge zu weit, denn damit sei jede Spontaneität und Erotik gestorben. Ich verstehe die Empörung als Ausdruck von Überforderung, denn Stufe 2 erfordert wesentlich mehr Bewusstheit als Menschen auf Stufe 1 aufbringen können. Und Überforderung killt die Lust. Da das auch für Frauen gilt, die um ihre Sicherheit fürchten müssen, könnte man das einen fairen Deal nennen und die Herren auffordern, ihre Hausaufgaben zu machen. Aber nicht nur. Denn auch wenn die Schweden dieses Gesetz nie verabschiedet haben, ist diese Phantasie doch Ausdruck der Extreme von Stufe 2, die wiederum einen Leidensdruck und Anlass zur Weiterentwicklung schaffen. Im Prinzip erfordert die erotische Polarität eine Aufgabe von Grenzen, während Stufe 2 gerade das Ziehen von Grenzen fordert. Dieser klassisch-hegelianische Widerspruch einer These und einer Anti-These ruft nach einer Synthese auf höherer Ebene. Und hier kommt Stufe 3 ins Spiel.

Konsens zum Nicht-Konsens

Ich nenne diese dritte Stufe „Konsens zum Nicht-Konsens“, denn genau wie Stufe 1 erlaubt Stufe 3 Unterschiede und verschiedene Rollen, wodurch Reibung und erotische Spannung entstehen können. Konkret heißt das, dass wir auf Stufe 3 in jedem Moment darauf achten, was die Spannung erhält oder erhöht. Zwischen Mann und Frau kann das z.B. folgende Situation ergeben:

Es ist 18:37h und er passt sie an der Wohnungstür ab, als sie von der Arbeit nach Hause kommt. Er überrascht sie mit einem intensiven Zungenkuss. Ihr ist das ein wenig zu schnell, aber sie hält sich genug, dass sie nicht in Schreck oder Empörung verfällt. Stattdessen gibt sie ihm spielerischen Widerstand und sagt „Schatz, ich liebe es, deinen Drang zu spüren, aber ich fänd’s ganz gut, erstmal anzukommen.“ Er spürt einen kurzen Stich der Enttäuschung, hält den aber und erwidert „Ich weiß noch nicht, ob ich das erlauben kann.“ Sie grinst und sagt „Darf ich? Bitte?“ Darauf er, ebenfalls grinsend „Es sei dir vergönnt… aber ich schau dir zu!“ worauf sie lachend mit „Ich weiß gar nicht, wie ich mich dabei konzentrieren soll…“ antwortet und im Bad verschwindet. Er geht ihr hinterher, stellt sich nah hinter sie und knabbert an ihrem Nacken, während sie sich abschminkt. Sie hält inne, stöhnt ein bisschen und sagt „Ich weiß nicht, wie ich so fertig werden soll…“ Er macht weiter, lässt aber immer wieder kurz Raum dafür, dass sie den nächsten Schritt macht. So dauert es etwas länger als sonst, aber sie spürt ihn die ganze Zeit als wollende und begrenzende Kraft, was die erotische Spannung erhält und erhöht. Als sie fertig ist, dreht sie sich um, küsst ihn auf den Mund, grinst und sagt „Ich verhungere fast, hast du was zu essen gemacht?“ Er schluckt kurz, weil er für einen Moment glaubt, er sei dafür verantwortlich, wenn er schon Lust auf sie hat, hält die Angst jedoch und raunt, dass sie mit dem Vorspiel beginnen könnten, während das Sushi kommt, das er gleich bestellen will. Sie spürt darüber, dass er Raum und Präsenz für sie hat, ohne den Kontakt zu seinem Wollen zu verlieren und lässt sich tiefer in den femininen Pol fallen…

An der Oberfläche kann das so aussehen, als wäre das Verhältnis nicht von einer Stufe-1-Beziehung unterscheidbar. Jedoch die Entwicklung durch Stufe 2 sorgt für entscheidende Unterschiede, die nur im Gespräch und in kritischen Situationen offensichtlich werden können. Zur Erinnerung: Auf Stufe 1 sind schnell Störungen und Entgleisungen möglich, wenn ein Partner gerade an seine Grenzen kommt, auf eine alte Verletzung stößt, oder ein Thema noch nicht überblickt. In der Beispiel-Situation sind das die Momente, in denen etwas zu viel oder enttäuschend sein könnte, die beiden sich darin jedoch halten und in’s Spiel zurück kommen können. Die Kompetenzen, die Männer und Frauen auf Stufe 2 erwerben, erlauben ihnen an solchen Stellen bewusst Verantwortung zu übernehmen und ihre Ressourcen zu nutzen, um sich um sich selbst zu kümmern, ohne dass sie dafür komplett aus dem Kontakt gehen müssen. Diese Fähigkeiten vermitteln Vertrauen, einmal für sich selbst, aber auch dem Partner, denn dank ihnen können wir uns in all unserer Komplexität zeigen, ohne vom Gegenüber zu erwarten, dass es unsere Arbeit übernimmt. Damit löst sich die existenzielle Abhängigkeit auf, von der Stufe 1 so geprägt ist. Und ohne diese Abhängigkeit können wir auf Augenhöhe miteinander spielen.

Deida beschreibt Stufe 3 als hingebungsvolles Spiel mit den Polen, ohne dass wir damit voll identifiziert wären. Wir können für eine Zeit Rollen einnehmen, von denen wir wissen und spüren, dass es Rollen sind, von denen wir uns wieder lösen können. Frei nach dem Motto: „Wenn ich weiß, dass es ein Spiel ist, macht es Spaß, mich auf meinen Körper reduzieren zu lassen. Ich will dann nur das eine sein, auch wenn ich weiß, dass ich noch ganz vieles andere bin.“ Diese Qualität des Spiels ist aber nur möglich, wenn ich genug Klarheit über mich und mein Wollen habe, dass ich mich wiederfinde, während ich in der Rolle bin bzw. nachdem ich wieder aus ihr herauskomme.

Dieses Meta-Bewusstsein erlaubt auch Extreme in der Polarität, bei denen die Person im femininen Pol sich vollkommen hingibt, keine eigenen Impulse mehr ausdrückt, sondern sagt „Tu mit mir, was du willst“. In diesem Zustand lässt sie ihr eigenes Maskulines komplett los und ist für eine Weile in einem unfassbar offenen und fließendem Zustand, nur in der Hingabe an die Impulse vom Gegenüber. Dieser Zustand erfordert allerdings die temporäre Aufgabe ihrer Fähigkeit, sich und ihre Umgebung zu strukturieren. Währenddessen behält die Person im maskulinen Pol die komplette Übersicht und Präsenz für die Situation. Sie ist offen für die Impulse, die in ihr spontan und wie von woandersher geführt erscheinen und drückt sie genau dort aus, wo es der Spannung dient und ihr Gegenüber herausfordert und begrenzt. Das wiederum erfordert die temporäre Aufgabe der Fähigkeit, selbst zu zerfließen und mit den eigenen Gefühlen zu gehen. Sofern beide wissen, dass sie sich, sollte es wirklich eine Grenze geben, gut um sich kümmern und jederzeit mit dem Respekt und der Kooperation des Gegenübers rechnen können, kann das ein exquisiter Zustand sein, der über Stunden am Stück Spaß und Lust bereiten kann.

Damit will ich nicht sagen, dass erotische Polarität jemals komplett sicher wäre. Es ist ja gerade der Kitzel, sich auf etwas „Fremdes“ einzulassen, etwas „anderes“, der Erotik so aufregend und lustvoll macht. Der koreanisch-deutsche Philosoph Byung Chul-Han drückt das in seinem Buch Agonie des Eros so aus, dass die narzisstischen Versuche in unserer Gesellschaft, Unterschiede auszumerzen, und dadurch Spannung zu reduzieren, darin resultieren, dass uns der Eros abhanden kommt. Er muss fremd und chaotisch sein, damit wir etwas zu entdecken haben. Das heißt, für mich drückt Stufe 3 auch die Erkenntnis und Bereitschaft aus, dass Chaos zum Leben dazu gehört und sich ab einem bestimmten Punkt nicht reduzieren lässt. Ich finde das enorm hilfreich, denn, wenn ich weiß, dass ich das Risiko in einer Begegnung nicht weiter reduzieren kann, erwarte ich von mir auch nicht, dass ich das muss. Es ist ok, wenn etwas schief geht, anders läuft als erwartet oder mich umhaut. Ich komme da wieder heraus, kann die Fahrt genießen und den nächsten Impuls setzen.

Ich glaube nicht, dass die Entwicklung zwischen Stufe 1 und 2 wirklich vollständig abgeschlossen sein kann und muss, bevor wir Zugang zu Stufe 3 haben können. Trotz gewisser narzisstischer Größenphantasien glaube ich nicht, dass ich mit der Entdeckung meiner unbewussten Muster jemals gänzlich fertig sein könnte. Aber das ist vielleicht auch nicht nötig. Es reicht, wenn es „gut genug“ ist und ich Überblick darüber habe, was ich will und was nicht, so dass ich dafür Verantwortung übernehmen und es vertreten kann. Das geht nicht mit jedem gleich gut, aber danach kann ich entscheiden, mit wem und wie ich leben will.

Verwirrungen auflösen

Ich hoffe, dass die Beschreibung der drei Stufen aufzeigen kann, dass das Zitat vom Anfang und die von mir erlebten Doppelbotschaften einer Mischung aus Stufe 1 und 2 entspringen und deswegen so widersprüchlich scheinen. Sie sind einerseits Ausdruck der unbewussten Hoffnung, ein passendes Gegenüber möge uns die Ängste und Unsicherheiten ersparen, die mit unseren Abstimmungsmustern einhergehen. „Mrs. oder Mr. Right“ müssten doch dafür sorgen, dass erkennbar ist, was wir wollen, ohne dass wir das selber spüren, ausdrücken und mit der Reaktion umgehen müssen. Und das betrifft sowohl Männer als auch Frauen. Zu einer Doppelbotschaft führt hier verwirrenderweise, dass die Enttäuschungen von Stufe 1 uns dazu bringen, Stufe 2 wertzuschätzen und erreichen zu wollen. Wir identifizieren uns z.B. als feinfühliger, empathischer Mann, der Grenzen achtet und nichts ohne Erlaubnis seines Gegenübers tut oder als selbstbewusste, eigenständige Frau, die sich selbst genug ist. Dann aber wissen wir nicht, wie wir mit der Polarität umgehen sollen. Das drückt sich z.B. darin aus, dass Frauen auf Stufe 2 Augenhöhe und Respekt total wichtig finden, sexuell aber von Männern angezogen werden, die etwas Fremdes oder Gefährliches für sie haben und mitunter überhaupt keinen Respekt zeigen. Genauso können Männer darauf bestehen, dass die Beziehung auf Augenhöhe sein muss, sich jedoch von Frauen angezogen fühlen, die ihnen die Führung überlassen und sich hingeben, ob sie wollen oder nicht.

Ohne von Stufe 3 zu wissen, kommt einem das wie ein unauflösbarer Widerspruch vor, als würde einen der Körper verraten und daran hindern, ein Ideal zu leben. So können wir auf Stufe 2 dazu verführt werden, die Polarität auch wieder in unbewussten Deals zu suchen, da uns die bewusste Begegnung auf Augenhöhe zu langweilig erscheint, selbst, wenn wir sie ethisch und politisch noch so richtig finden. Dieser Move zu Stufe 1 kann innerhalb bestimmter Grenzen auch gut gehen, jedoch wird die Unbewusstheit früher oder später dafür sorgen, dass wir wieder an Abgründe oder Sackgassen geraten, die nur mit innerer Arbeit und Verantwortungsübernahme klar werden. Wir kommen für eine erfüllte Beziehung an Stufe 2 nicht vorbei. Und für erfüllten Sex auf Basis einer erfüllten Beziehung, sehe ich auch keine Alternative zu Stufe 3.

Kritische Auseinandersetzung

Zum Abschluss möchte ich noch eine Differenzierung zur kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeit David Deidas einbringen, ohne den Anspruch zu erheben, diese komplett durchdrungen zu haben. Sollte ich Deida damit Unrecht tun, tut mir das leid. Für Hinweise bin ich dankbar.

Als ich Deidas Arbeit kennenlernte, stießen mir zwei Dinge auf, von denen das eine das andere erklärt. Zum einen sagte er in der Aufnahme eines Seminars, das sein Fokus ganz betont nicht dabei liege, Stufe 2 tiefer zu behandeln, weil das das Feld der Therapeuten und Heiler sei, die sich auf eine andere Arbeit konzentrierten als er. Er betonte, dass es ihm um Kunst ginge und Kunst sei auch möglich, wenn man völlig kaputt und fragmentiert sei. Ich kann nicht wissen, warum er das sagte, aber in meinen Ohren klang das wie eine Entwertung von Stufe 2, zumindest aber eine krasse Vernachlässigung darin, aufzuzeigen, wie wichtig Stufe 2 ist, um eine vertrauensvolle Basis frei von Missbrauch für die intensiven Polaritäten auf Stufe 3 zu bilden. Diesen Aspekt zu vernachlässigen weckt in mir nicht gerade Vertrauen.

Zum anderen erschien mir die Orientierung für Stufe 3 in Deidas Buch Der Weg des wahren Mannes darin zu bestehen, bestimmte Perspektiven einzunehmen, Prinzipien zu befolgen und Eigenschaften zu entwickeln. Nach meiner Beschreibung der drei Stufen, dürfte klar sein, dass das bestenfalls zu einer Veränderung innerhalb Stufe 1 führen kann. Es beinhaltet keine Verletzlichkeit, keine Offenheit und keine Konfrontation des eigenen Abgrunds, die alle auf dem Weg zu Stufe 2 notwendig sind. Im Gegenteil, diese vereinfachte Orientierung verstärkt die Überzeugung auf Stufe 1, durch die Einnahme der „richtigen Rolle“ in die Polarität zu kommen und verschärft genau das Problem, aus dem ich auf Stufe 1 gerne herausgekommen wäre. Und genau so hab ich es damals auch aufgenommen: Als Anleitung dafür, eine Frau anzuziehen, die ich attraktiv finde, indem ich anders bin, als ich wirklich bin. Das widerspricht vollkommen meinem heutigen Verständnis von Stufe 3, ist aber nicht verwunderlich angesichts von Deidas Entwertung von Stufe 2.

Das heißt, wir haben es hier mit einer sogenannten Prä/-Trans-Verwechslung nach Ken Wilber zu tun: nennen wir Stufe 1 „prä-konsensual“, weil sie die Fähigkeiten für bewussten Konsens vermissen lässt und Stufe 3 „trans-konsensual“, da sie Konsens mit einbeschließt, aber darüber hinausgeht, so wirken Verhaltensweisen von beiden Stufen unter Umständen „nicht-konsensual“. Ohne scharfe Kriterien für den Unterschied von prä und trans kann man sie also leicht verwechseln. Konkret heißt das, dass wir einerseits eine missbräuchliche Stufe-1-Beziehung zu einer spirituellen Stufe-3-Beziehung erheben können, andererseits eine wirklich bewusste und spielerisch wilde Stufe-3-Beziehung auf eine missbräuchliche Stufe-1-Beziehung reduzieren können. Und wenn David Deida von Kunst spricht, klingt das in meinen Ohren wie ein offenes Tor zur Erhebung von Stufe-1-Beziehungen und damit nach Legitimierung von Missbrauch.

Unterm Strich ist mir wichtig, Stufe 2 ernst genug zu nehmen, dass die Lust eine Chance hat, auf der Basis echten Vertrauens zwischen zwei Menschen ihre volle Kraft zu entfalten. Die Hausaufgaben für eine bewusste Beziehung können sehr mühsam sein, ohne das man wissen kann, wo man damit landet. Aber die Freude am erotischen Spiel ist um so größer, wenn wir unser Spielfeld so gut kennen, dass wir es riskieren können, etwas ganz Neues zu erleben.