Plan- aber nicht orientierungslos

Ich bin in meiner Arbeit als Psychotherapeut immer wieder mit dem Wunsch nach einem Plan oder Ratschlägen konfrontiert, den ich weder erfüllen kann noch will. Ich möchte an dieser Stelle meinen Umgang damit in Form eines Dialoges darlegen, wie er in meiner Praxis schon oft vorgekommen ist. Darin erläutere ich einige Eckpunkte meiner inneren Orientierung, wie ich sie aktuell sehen kann, und demonstriere, wie ich Klientinnen und Klienten damit in Berührung bringe.

Es ist Mittwoch, 12h, 3. probatorische Sitzung. Die Klientin ist Mitte 40 und erzählt von einem Leben in Enge und einigen scheinbar ausweglosen Situationen. Mir fällt wiederholt auf, dass sie an bestimmten Punkten das Gesicht verzieht und ich spreche sie darauf an.

Klientin: „Ja… ich kenne das von mir. Das mache ich immer, wenn ich kurz davor bin zu weinen.“

Therapeut: „Ok… und warum stoppen Sie sich?“

Klientin hält inne, Tränen tauchen auf und sie schluckt: „Was habe ich denn davon, wenn ich dann losheule… das muss ich nachher nur alles wieder mühsam verpacken.“

Therapeut: „Sie haben Angst, von Ihren Gefühlen überflutet zu werden?“

Die Klientin nickt.

Therapeut: „Und dass Sie sie dann später um so schwerer verstecken können, wenn Sie z.B. bei Ihren Kindern sind?“

Klientin: „Ja, genau.“ Sie atmet tief durch und sagt: „Ich bin hier, weil ich Ratschläge möchte, nicht um hier auseinanderzufließen.“

Der Therapeut wird still und sagt nach einer Weile: „Hmmm… ich fürchte, dass ich Ihnen dann nicht werde helfen können.“

Die Klientin schaut erstaunt auf:Warum nicht? Eigentlich dachte ich, dass es bei Therapie genau darum ginge…“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sagen, denn ich würde Sie gerne so früh wie möglich über meine Haltung dazu aufklären. Es ist nämlich so, dass ich keinen Plan davon habe, was gut für Sie wäre.“

Klientin: „Ach nicht? Lernt man das denn nicht in Ihrer Ausbildung?“

Therapeut: „Hm… Ich höre, dass Sie sich jemanden an Ihrer Seite wünschen, der in dieser verwirrenden Lage mehr Orientierung hat, als Sie, stimmt das?“

Die Tränen steigen wieder auf und die Klientin unterdrückt sie mit Mühe: „Ja… die fehlt mir nämlich völlig, zur Zeit.“

Therapeut: „Nun, dass ich keinen Plan habe, bedeutet nicht, dass ich keine Orientierung habe. Aber darunter verstehe ich auch etwas anderes.“

Klientin: „Was meinen Sie denn damit?“

Therapeut: „Ich möchte es Ihnen erklären und Ihnen dafür ein bisschen Hintergrund vermitteln. Ihnen ist sicher bekannt, dass wir Menschen ein asymmetrisches Gehirn haben. Das heißt, unsere zwei Hirnhälften sind sehr unterschiedlich.“

Klientin: „Ja, davon habe ich schon mal gelesen.“

Therapeut: „Dieser Unterschied erlaubt uns zwei sehr unterschiedliche Wahrnehmungsmodi, welche beide eine wichtige Rolle für die Therapie haben. Im Allgemeinen sind wir aber mehr mit dem vertraut, was die linke Hirnhälfte tut. Daher auch die Idee, Ratschläge oder einen Plan an die Hand zu bekommen. Dafür ist nämlich die linke Hemisphäre zuständig. Genau genommen geht es dort um die Fähigkeit, handeln zu können – etwas, was Ihnen gerade total abgeht.“

Klientin: „Ja, das stimmt. Ich weiß gerad überhaupt nicht, was ich tun soll.“

Therapeut: „Ok. Handlungen basieren auf der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten Hierarchien bilden, d.h. entscheiden zu können, was wichtig ist und was nicht. Ohne eine solche Priorität bleiben wir in an bestimmten Punkten im Leben in der Schwebe, können uns nicht entscheiden und entsprechend auch nicht handeln. Das ist bei Ihnen gerade der Fall, denn Sie sagen ja, egal an welcher Stellschraube Sie drehen, etwas daran passt nicht.“

Die Klientin fühlt wieder ihre Tränen aufsteigen und sagt: „Ja, es ist zum Verzweifeln, ich fühle mich total ohnmächtig.“

Therapeut: „Ja, das sehe ich… und ich glaube es ist wichtig, das zunächst mal zu fühlen und auszuhalten.“

Klientin: „Ja, aber warum denn? Das ist so unfassbar unangenehmen… ich möchte, dass das aufhört!“

Therapeut: „Weil Sie ohne Fühlen keine Chance haben, sich stimmig in Ihrem Leben zu orientieren.“

Klientin: „Oh…“ Sie wird still und sagt nach einer Weile: „Ich ahne was Sie meinen, aber ich verstehe es noch nicht…“

Therapeut: „Naja, um handeln zu können, müssen wir wissen, was wichtig ist. Dafür ordnet die linke Hirnhälfte bekannte Reize in Kategorien ein. Ganz grob gesagt haben wir davon drei: Ist es nützlich? Ist es gefählich? Oder ist es egal? Alle Reize, die Sie kennen, werden Sie vermutlich genau so einordnen und alles andere erkennen Sie aktuell einfach nicht. Sie haben da einen blinden Fleck. Die linke Hemisphäre kann Ihnen dabei nicht helfen, da ihre Aufmerksamkeit fokal ist, d.h. auf einen Punkt gerichtet und mit dem Einordnen in genau diese Kategorien beschäftigt ist. Wenn man die Punkte des Fokus aneinanderreiht, ergeben sich daraus lineare Prozesse, wie z.B. die Sprache, die ich gerade einsetze, um Ihnen dieses Verständnis zu vermitteln. Lineare Prozesse sind super, so lange eine Situation einigermaßen übersichtlich bleibt. Wenn Sie von A nach B wollen, kann es sein, dass Sie dafür ein paar Schritte hintereinander machen müssen, die leicht unterscheidbar sind und schon sind Sie da. Genau danach fragen Sie mich, wenn Sie Ratschläge von mir wollen.“

Klientin: „Ok… und Sie wollen mir sagen, dass meine Situation nicht wirklich übersichtlich ist und das deswegen so nicht funktioniert?“

Therapeut: „Ja, genau. Ihre Situation ist komplex und wenn Sie dafür eine lineare Lösung hätten, wären Sie nicht hier.“

Klientin: „Das stimmt wohl. Aber was mache ich dann stattdessen?“

Therapeut: „An dieser Stelle kommt die rechte Hirnhälfte in’s Spiel. Sie ist für etwas zuständig, was ich Feldwahrnehmung nennen möchte. Dabei geht es darum, Reize aufzunehmen, die unbekannt oder unbewusst sind und die wir noch keiner Kategorie zuordnen können. Der Psychiater Iain McGilchrist meint dazu, dass wir in prähistorischer Steppe wahrscheinlich mit der linken Hemisphäre gejagt und uns geschützt haben, während wir die rechte Hirnhälfte dafür gebraucht haben, Ungewöhnliches in unserer Umgebung zu bemerken, um uns vor Gefahr zu warnen: das Rascheln im Gebüsch z.B., das auf Löwen oder andere Raubtiere hinweisen könnte.
Feldwahrnehmung ist nicht linear, sondern parallel. Das heißt, wir nehmen ganz vieles auf einmal wahr, was wir mit der linken Hirnhälfte gar nicht alles erfassen bzw. wiedergeben können. So habe ich z.b. einmal auf der Autobahn plötzlich ein ganz mieses Gefühl im Bauch gehabt und zwei Sekunden später wurde ich geblitzt.“

Die Klientin lacht auf und wirkt einen Moment erleichtert.

Therapeut: „Ja, ich hätte das gerne sofort zugeordnet und gebremst, aber ich habe es in dem Moment nicht verstanden. Aus der Feldwahrnehmung ergeben sich nämlich Muster in der Wahrnehmung und Gefühle im Körper, die wir nur mit bewusster Aufmerksamkeit verstehen und einordnen können. Um uns in einer komplexen Umgebung mit vielen Variablen zurecht zu finden, sind wir auf diese Gefühle angewiesen, so unklar und verschlüsselt sie unserem Bewusstsein manchmal auch vorkommen mögen. Ohne diesen Zugang haben wir nur die linke Hirnhälfte mit ihren Routinen, die sich aber auf neue Situationen nicht übertragen lassen. Das Ergebnis ist Ohmacht, sobald etwas Neues und Unbekanntes auftaucht.“

Klientin: „Hmm… ok. Ich brauche also meine Gefühle, um wahrzunehmen, was wirklich los ist?“

Therapeut: „Ja. Und um wahrzunehmen was Sie wirklich brauchen. Wenn Ihnen das klarer wird, wird es Ihnen aller Voraussicht nach auch gelingen, Prioritäten zu setzen und etwas Neues für sich zu tun, auch gegen Widerstand von außen.“

Die Klientin seufzt: „Verstehe… puh, das finde ich aber ganz schön schwer.“

Therapeut: „Ja… das denke ich mir. Ich nehme wahr, wie schwer die Ohnmacht wiegt, wenn ich zu Ihnen hinspüre.“

Die Klientin spürt wieder den Druck, verzieht das Gesicht und sagt: „Ja… das stimmt.“ Sie schluckt und fährt fort: „Ok, das verstehe ich alles, aber wenn ich diese Gefühle zulasse, wird mir das unheimlich schnell zu viel. Nach den letzten beiden Sitzungen habe ich es gerade so geschafft, danach nicht unkontrolliert loszuheulen… das zieht ja einen ganzen Rattenschwanz nach sich, verstehen Sie?“

Therapeut: „Ich verstehe, dass es sehr intensiv für Sie ist und Sie einen sicheren Raum brauchen, um sich so zu öffnen.“

Klientin: „Ja, das stimmt… danke.“

Therapeut: „Und das zu beachten, finde ich wichtig, weil unser Nervensystem so etwas wie Intensitätgrenzen hat. Gefühle sind nur dann für die Orientierung nützlich, wenn sie intensiv genug, aber nicht zu intensiv sind. Gehen die Gefühle über die aktuelle Obergrenze hinaus, erleben Sie Überflutung und können nicht mehr wahrnehmen und beachten, was Sie fühlen. Das Bewusstsein wird gewissermaßen „geschluckt“ – und genau um das Bewusstsein geht es ja, denn das brauchen Sie zum einen, um sich beruhigen zu können, zum anderen um die Gefühle sinnvoll deuten zu können. Bleiben die Gefühle unter der Untergrenze, sind sie andererseits zu dumpf oder subtil, um sie wirklich wahrnehmen und zur Orientierung nutzen zu können. Wir müssen also zwischen den Grenzen bleiben, wenn wir die Gefühle nutzen wollen.“

Klientin: „Und wie treffe ich jetzt genau diese Zone in der Mitte?“

Therapeut: „Das können wir wohl nur ausprobieren, mit dem Risiko, dass wir manchmal daneben liegen.“

Klientin: „Na toll… das heißt, ich muss schauen, ob ich das will.“

Therapeut: „Ja, das müssen Sie abwägen. Wichtig finde ich allerdings auch zu sehen, dass diese Grenzen nicht fix sind, sondern dehnbar. Ich stelle mir die Kapazität unseres Bewusstseins, intensive Gefühle zu fühlen, manchmal wie ein Goldfischglas mit Lottokugeln drin vor. Wird es heftig, bewegen sich die Kugeln so schnell, dass sie aus dem Glas herausspringen. Dann können wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen und alles wird zu viel. Wird das Glas jedoch größer, steigt auch die Kapazität, intensive Zustände wahrzunehmen, ohne auszusteigen. Und damit wächst die Fähigkeit, wahrzunehmen, wo Sie wirklich sind und wie Sie dort für sich sorgen können.“

Klientin: „Ok und wie kann das Glas größer werden?“

Therapeut: „Wenn Sie sich hier mit mir öffnen, haben Sie nicht nur Ihr Bewusstsein, sondern auch meines zur Verfügung. Der Raum des Goldfischglases kann dann größer werden und das ist in meinem Ermessen eine der Hauptwirkungen von gelingender Psychotherapie. Wenn Sie alleine etwas dafür tun wollen, würde ich Ihnen Meditation empfehlen. Darunter verstehe ich, dass Sie für eine bestimmte Zeit am Tag nichts tun, außer mit dem Fokus in Ihrem Körper zu sein und was Sie dort fühlen. Wenn Sie einen Impuls zum Handeln haben, fragen Sie sich, was Sie fühlen und bleiben mit der Aufmerksamkeit dort. Wenn Sie merken, dass Sie über etwas nachdenken, fragen Sie sich, was Sie zu den Gedanken fühlen und bleiben Sie dort. Es geht nicht darum, etwas zu benennen oder zu analysieren, nur wahrnehmen und beachten. Das erweitert auch das Glas.“

Die Klientin lacht und sagt: „Jetzt haben Sie mir ja doch einen Ratschlag gegeben.“

Der Therapeut lacht auch und antwortet: „Und? Wie finden Sie das?“

Klientin: „Gut… ich glaube, damit kann ich etwas anfangen. Genau genommen ist es ja ein Ratschlag, der mir bei der allgemeinen Orientierung helfen kann und nicht etwas, was mir sagt, was ich zu tun hätte.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie den Unterschied sehen.“

Die Klientin wird still. Sie sieht nachdenklich aus. Dann fragt Sie: „Wissen Sie, ich wundere mich schon darüber, warum das so intensiv wird, wenn ich anfange zu weinen. Ich wäre gerne stärker.“

Therapeut: „Sie meinen, Ihre aktuelle Situation reicht nicht aus, um zu erklären, warum es Ihnen nicht gut geht?“

Klientin: „Naja… einerseits schon, weil es wirklich viel ist. Und ich halte das schon lange aus, habe kaum Menschen, mit denen ich darüber reden kann… aber ich verstehe nicht, warum ich mich so anstelle. Eigentlich müsste ich mir einfach eine Wohnung suchen, ausziehen und gut ist. Warum hampel ich damit so herum?“

Therapeut: „Genau um das herauszufinden brauchen wir die Feldwahrnehmung der rechten Hirnhälfte. Und Sie haben sie gerade auch eingesetzt, denn dieses ‚Irgendwie erklärt es das nicht…‘ ist genau das, was wir durch unsere Gefühle wahrnehmen können. Es geht um die Gewichtung, um die Bedeutungsschwere gemessen am heutigen Kontext. Und ich stimme Ihnen zu, dass da etwas nicht zusammen passt. Was das aber ist, weiß ich noch nicht.“

Klientin: „Und wie lässt sich das herausfinden?“

Therapeut: „Naja, genau dafür hat Sigmund Freud so viel über das Unbewusste gesprochen, das sich der fokalen Aufmerksamkeit unseres Verstandes und der linken Hirnhälfte entzieht. Wir kommen da also nur indirekt dran, über Assoziationen, Träume, Ideen, Gefühle. Und das braucht Zeit. Was ich aber aktuell orientierend sagen kann, ist folgendes:
Teile Ihres Nervensystems tragen die Prägungen der Zeit, in der sie entstanden sind, sind also an die Situation Ihrer Kindheit angepasst. Das heißt, an diesen Stellen fühlen Sie genau so wie als kleines Mädchen. Grundsätzlich gehört zur Kindheitssituation dazu, dass wir auf Menschen angewiesen sind, die in sich Begrenzungen haben, an denen wir als Kind nichts ändern können. Und das kann einen in unfassbare Not bringen, die so unerträglich ist, dass wir sie aus dem Bewusstsein drängen müssen, um am Leben zu bleiben. In dem Maße, wie wir das tun, steht uns unsere Wahrnehmung nicht mehr zur Verfügung und wir verlieren Orientierung. Damit werden Sie es heute auch zu tun haben.“

Klientin: „Das heißt, wir müssen meine Kindheit reflektieren?“

Therapeut: „Ja. Je mehr Sie darüber wissen, wie es damals für Sie war, desto besser können Sie zwischen heute und damals unterscheiden. Das heißt zwar oft noch nicht, dass Sie weniger intensive Gefühle haben, aber Sie glauben dann zumindest nicht mehr, dass Sie daran sterben oder eine Situation wirklich so schlimm und auswegslos für Sie ist, wie sie sich anfühlen mag. Und wenn Sie dort einmal sind, können Sie glaubhafte Vorstellungen davon entwicklen, in welche Richtung Ihr Leben wirklich besser werden könnte.“

Klientin: „Puh… das wird hart.“

Therapeut: „Ja, das kann es sein. Darum ist es wichtig, dass Sie mir einen klaren Auftrag dazu geben, an dem Sie und ich messen können, ob das, was wir gerade tun, den Schmerz wert ist, der dabei auftaucht.“

Klientin: „Ich komme ja wohl nicht darum herum, wenn ich verstehen will, wo ich stehe und was ich brauche, um es mir besser gehen zu lassen.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen.“

Klientin: „Ok, den Auftrag haben Sie. Was wollen Sie wissen?“

Therapeut: „Lassen Sie uns bei Ihren Großeltern beginnen…“

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