„Wasch mich, aber mach mich nicht nass“

Neben der Klärung des Auftrags, gibt es einen weiteren wichtigen Maßstab, den ich prüfe, wenn sich Psychotherapie anstrengend und zäh anfühlt: gibt es unbewussten Widerstand? Das heißt, tut der/die KlientIn trotz klarem Wunsch, sich besser zu verstehen, unbewusst Dinge, die den Verstehensprozess hemmen oder verhindern?

Unter Widerstand verstehe ich grundsätzlich eine Abwehr von inneren Erfahrungsbereichen, die die unbewusste Absicht und den Sinn hat, für psychologische Stabilität zu sorgen. Stabilität erlaubt uns, in einem betimmten Rahmen und auf einem bestimmten Niveau relativ gleichmäßig für uns zu sorgen. Wir wissen ungefähr, wer wir sind, was wir wollen, was unser Lieblingsessen ist und wie wir uns in einer Woche oder einem Monat wahrscheinlich fühlen werden, wenn wir uns zu einem Ausflug oder Urlaub verabreden. Auf diese Weise sind wir für uns selbst und andere vorhersehbar und können relativ stabile Beziehungen führen. Da wir jedoch inhärent komplexe Wesen sind und Stabilität im Dienste der Ordnung oft eine Vereinfachung dessen erfordert, wie wir uns selbst sehen, hat diese Stabilität in den meisten Fällen einen Preis: wir nehmen bestimmte Aspekte unseres Selbst gar nicht oder nicht so genau wahr.

Zuweilen besteht die psychotherapeutische Arbeit vor allem darin, diese Abwehr zu greifen und bewusst zu machen, weil alles Weitere an seinen Platz fallen kann, sobald das gelingt. Wenn wir Abwehr als Verzerrrung der Wahrnehmung verstehen, die die für den gesamten Organismus stimmige Orientierung im Leben verhindert, wird klar, warum Bewusstsein so einen Unterschied im Leben macht. Wird die Verzerrung nämlich bewusst, können wir sie in unserer Wahrnehmung berücksichtigen und die Perspektive entsprechend korrigieren. Die resultierende Klarheit kann sich sehr ermächtigend, aber auch sehr herausfordernd anfühlen. Dieser Aufdeckungsprozess kann schnell gehen oder lange dauern, abhängig davon wie versteckt die Abwehr ist, wie viele Schichten und verschiedene Wechselwirkungen die Arten der Abwehr haben und wie intensiv die abgewehrten Gefühle sind.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich vor allem auf die Situation zu Beginn der Therapie eingehen, wenn die Beziehung zwar noch frisch, aber nicht mehr komplett am Anfang ist und basale Prinzipien des Widerstands bewusst werden dürfen.


Beginn der 15. Sitzung, Dienstags 9 Uhr. Die Klientin, 35 jahre alt, setzt sich, der Therapeut sitzt ihr gegenüber. Er sagt nichts und schaut sie aufmerksam an.

Nach ein paar Sekunden beginnt die Klientin verlegen zu kichern und sagt: „Jetzt machen Sie das schon wieder!“

Therapeut: „Was mache ich denn?“

Klientin: „Sie durchdringen mich. Als könnten Sie direkt in meine Seele schauen.“

Therapeut: „Ok… wie mache ich das denn?“

Klientin: „Keine Ahnung, Sie sind doch der Experte.“

Therapeut: „Ich kann Ihnen sagen, dass ich schon sehr verschiedene Menschen so angeschaut habe und bei Weitem nicht alle so reagieren wie Sie. Das heißt, ich vermute, dass Sie da schon irgendwie mitmachen. Können Sie das erkennen?“

Klientin: „Hm… ich weiß nur, dass ich mir schutzlos vorkomme, wenn Sie mich so ansehen. Als gäb’s keine Möglichkeit mehr, mich ich vor Ihnen zu verstecken.“

Therapeut: „Vor mir oder vor sich selbst?“

Klientin: „Wie meinen Sie das?“

Therapeut: „Naja, Sie sind ja hier, weil Sie etwas über sich erfahren wollen. Und Sie wissen auch, dass Sie sich dafür zeigen müssen, sonst habe ich keine Chance, Sie darin zu unterstützen, sich zu verstehen. Wenn Sie sich aber zeigen, sehe nicht nur ich Sie, sondern Sie sehen sich auch. Und unter Umständen gehen Sie nicht unbedingt liebevoll mit sich um, wenn Sie sich sehen.“

Klientin: „Hmmm… so habe ich darüber noch nicht nachgedacht.“

Therapeut: „Das heißt, es könnte sein, dass Sie bei dem, was Sie ‚Durchdrungen werden‘ nennen, vor allem Ihren eigenen Wunsch spüren, sich zu zeigen, während Sie gleichzeitig Angst fühlen, was Sie mit sich anstellen könnten, wenn Sie sich sehen. Und damit das alles nicht ganz so offensichtlich ist, schieben Sie es unbewusst mir und meinem Blick zu.“ Er zwinkert ihr amüsiert zu.

Klientin: „Sie meinen, Sie durchdringen mich gar nicht?“

Therapeut: „Genau. Ich mache Ihnen nichts weiter als ein Kontakt-Angebot. Mir ist bewusst, dass dieses Angebot mächtig sein und unter Umständen viel bewirken kann. Aber dennoch ist es nicht mehr als ein Angebot, das Sie annehmen oder ausschlagen können. Alles weitere verstehe ich als Konflikt in Ihnen: einerseits wollen Sie gerne den Kontakt, andererseits haben Sie Angst vor Verletzung, Missachtung oder Urteil. Natürlich könnte es theoretisch sein, dass ich Sie verletze, aber in diesem Setting ist es wahrscheinlicher, dass Sie das selber tun.“

Klientin: „Wie meinen Sie das?“

Therapeut: „Die meisten Menschen, die in die Psychotherapie kommen, wollen verstanden werden. Das klingt zunächst mal einfach und geradlinig, ist es aber oft überhaupt nicht. Verstanden zu werden erfordert nämlich, sich zeigen und sichtbar werden zu müssen. Ohne Sichtbarkeit ist Verständnis unmöglich, aber sichtbar zu sein öffnet eben auch die Möglichkeit, verletzt zu werden. Und wenn es Anteile in Ihnen gibt, die grob, verurteilend und verachtend mit anderen Anteilen in Ihnen umgehen, dann bekommen diese damit eine Gelegenheit. So kann es sein, dass Sie mir erzählen, wie es Ihnen heute geht und Sie sich im nächsten Moment dafür beschimpfen, wie schwach und unzulänglich Sie sich finden. Und wenn das so ist, kann ich das nicht verhindern, da Sie mit Ihren inneren Urteilen in jedem Fall schneller sind, als ich mit meinem Verständnis je sein könnte.“

Klientin: „Mist, ja… das scheint zu stimmen… was mache ich denn da jetzt?“

Therapeut: „Das kommt darauf an, was Sie wollen.“

Klientin: „Naja, wie Sie ja sagen, ich bin hier, weil ich mich gerne verstehen würde. Aber wenn sich das so brutal anfühlt, habe ich davor ziemliche Angst. Und wenn Sie mich so anschauen, dann spüre ich das sofort. Dann wäre mir manchmal lieber, Sie würden das nicht tun.“

Therapeut: „Was wäre denn dann?“

Klientin: „Dann könnte ich mich wieder vor mir verstecken und es würde etwas ruhiger in mir werden.“

Therapeut: „Ok. Und dann?“

Klientin: „Hmm… dann wäre es ruhig… aber dummerweise würde dann auch nicht viel passieren.“ Sie grinst und schaut zur Seite.

Therapeut: „Merken Sie, dass Sie grinsen?“

Klientin grinst weiterhin: „Ja…“

Therapeut amüsiert: „Was erheitert Sie denn so?“

Klientin: „Naja, ich sehe schon, dass ich mich selber fragen muss, ob es mir das Risiko der Verletzung wert ist, wenn ich hier wirklich weiterkommen will. Und wenn es stimmt, was Sie sagen, dass ich es selber bin, die mich verletzt, dann können Sie mir dieses Risiko auch nicht abnehmen.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen.“


An diesem Punkt ist es den beiden gelungen, bewusst wahrzunehmen, bei wem welche Verantwortung liegt. Für die Klientin ist es zwar unangenehm zu merken, welche Rolle sie selber dabei spielt, aber es ist der einzige Weg, etwas zu ändern, weil nur sie Einfluss auf ihren Widerstand hat und nur ihr Bewusstsein dafür sorgen kann, dass andere Möglichkeiten sichtbar werden. Der Therapeut spiegelt ihr das und bezeugt mit ihr, was passiert, aber außer Hinweisen und Benennen kann er nichts tun. Diese Ohnmacht auszuhalten ist manchmal das wichtigste, was er tun kann, weil er nur so in Kontakt mit der realen Situation der Klientin bleibt. Und angesichts dessen, dass so viele wichtige Handlungsmöglichkeiten unbewusst sind, ist das dazu passende Gefühle wirklich die Ohnmacht. Ohne die bewusste Bereitschaft, das mit zu tragen, läuft er Gefahr, am Widerstand gegen die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit zu wirken und die Therapie dreht sich im Kreis.

Im zweiten Abschnitt der Sitzung soll deutlich werden, welchen Sinn die Abwehr hat und wie man ihr so begegnen kann, dass sie weder gebrochen wird, noch alles beherrscht. Zur Demonstration ist es in diesem Fall relativ einfach und zugänglich. In anderen Fällen kann dieser Prozess sehr lange dauern und oft hin und her gehen, bevor etwas greifbar wird. Auch hier braucht es vom Therapeuten die Bereitschaft, Ohnmacht auszuhalten, denn Verwirrung, Betäubung, Wegdriften und Druck können immer wieder auftauchen, auch im Erleben des Therapeuten, wenn die Abwehr noch nicht deutlich ist.


Klientin: „Ok, soweit verstehe ich es…“ Sie wird still und scheint nachzudenken. Dann schaut sie den Therapeuten an. Sie wirkt aufgebracht und sagt: „Wenn ich das an mich heranlasse, frag ich mich, warum ich so mit mir umgehe! Das ist doch totaler Mist! Ich will mich nicht so behandeln!“

Therapeut: „Ich halte das für eine gute Frage und bin froh, dass Sie sich dafür interessieren. Und ich verstehe, dass Ihnen das nicht gefällt. Ohne den entsprechenden Hintergrund wirkt Ihre Haltung wahrscheinlich wie sinnlose Quälerei.“

Klientin: „Ja, genau! Was soll das denn? Ich meine, ich merke gerade, wie sehr mir das weh tut. Und wenn ich genau darüber nachdenke, würde ich mich von jedem fernhalten, der mich so behandelt.“

Therapeut: „Meiner Erfahrung nach entwickeln Menschen derlei Umgangsweisen mit sich in der Regel, um Schlimmeres zu verhindern oder in Schach zu halten.“

Klientin: „Noch schlimmeres?!?“

Therapeut: „Ja. Viele Menschen versuchen, sich und ihr Leben nach dem Prinzip ‚Wer auf dem Boden schläft, kann nicht aus dem Bett fallen.‘ zu stabilisieren. Der Boden mag hart sein, aber die Fallhöhe ist reduziert.“

Klientin: „Sie meinen… bevor andere mich verurteilen können, mache ich das lieber selber?“

Therapeut: „Ja, zum Beispiel. So weit ich sehen kann, leben Sie quasi nach dem Motto ‚Bevor ich jemandes Lieblosigkeit ohnmächtig ausgesetzt bin, behandel ich mich lieber selber so. Das ist zwar auch nicht schön, aber zumindest habe ich die Kontrolle.‘ Würden Sie sich außerdem spüren lassen, dass Sie einen liebevolleren Umgang mit sich möchten, würde Ihnen vielleicht auffallen, wie kalt es in Ihrem Leben eigentlich ist bzw. war, als Sie klein waren. Und dass Sie evtl. den Weg nicht kennen.“

Klientin: „Puh… ja, da könnte was dran sein.“

Der Therapeut nickt und wartet kurz, bevor er fragt: „Und wie fühlt sich das an?“

Klientin: „Ziemlich heftig… mir wird ein bisschen schwindelig… und flau im Magen.“

Der Therapeut lässt ein paar Sekunden Raum, bevor er sagt: „Ja, das kann ich mir vorstellen. Lassen Sie uns da einen Moment bleiben.“

Klientin: „Muss das sein? Es ist wirklich sehr sehr unangenehm.“

Therapeut: „Wenn es zu intensiv wird, wäre es wahrscheinlich gut, langsamer vorzugehen. Aber die Gefühle, die Sie da gerade wahrnehmen, halte ich für wertvolle Botschafter Ihres Inneren. Ohne die haben wir keine Chance zu verstehen, wo Sie stehen und was Ihnen gut täte.“

Klientin: „Ich weiß gerade nicht, ob ich das überhaupt wissen will, wenn sich das so anfühlt.“

Therapeut: „Ja, es kann heftig sein, wahrzunehmen, wie es wirklich ist. Ich nehme es Ihnen auch wirklich nicht übel, dass Sie davor zurückschrecken. Ohne guten Grund würde das wahrscheinlich niemand in Kauf nehmen.“

Klientin: „Was soll denn daran gut sein? Ich will ehrlich gesagt lieber meinen Frieden…“

Therapeut: „Ja, das verstehe ich. Wenn Sie möchten, sag ich Ihnen etwas dazu, aber ich möchte auch achten, dass Sie sich gerade überfordert fühlen.“

Klientin: „Ja, danke… es geht schon… im Moment zumindest.“ Sie lacht nervös. „Aber ich würde gerne wissen, wie Sie das meinen.“

Therapeut: „Ok, gut. Also ich verstehe, dass Sie den Frieden mögen, aber leider hat er auch seinen Preis. Sie zahlen nämlichn unter Umständen damit, dass Sie sich darin nicht wirklich orientieren können. Das ist so, als würden Sie sagen: ‚Google, bitte entferne alle Seen und Flüsse auf der Landkarte. Die sind mir zu kompliziert, verwirren mich und machen mir Schwindelgefühle.‘ Wenn Sie dann einen Ausflug machen, kann es sein, dass Sie nass werden und absolut nicht verstehen, wie das sein kann.“

Die Klientin lacht, halb amüsiert, halb nervös: „Hmm… das wäre natürlich blöd. Sie meinen also, dass ich verhindern kann, dass ich nass werde, wenn ich diese Gefühle aushalte?“

Therapeut: „Es wäre ein notwendiger Anfang. Die Gefühle auszuhalten verschafft Ihnen Zeit, sich der Gefühle lange genug bewusst zu sein, dass Sie verstehen können, was sie bedeuten könnten. In der Karten-Analogie müssten Sie die Überwältigung aushalten, um Flüsse und Seen erkennen und entsprechend Ihre Ausflüge planen zu können.“

Klientin: „Ok, aber was sollen diese Gefühle denn bedeuten?“

Therapeut: „Naja, ich glaube ein bisschen wissen Sie schon darüber…“

Die Klientin atmet tief durch, wippt mit dem Fuß und greift sich nervös an die Stirn. „Ich find das gerad alles total schwierig. Sie haben ja Recht… aber ich stell mir gerade vor, wie ich nachher nach Hause gehe und mir wieder alle möglichen Gedanken darüber mache, was wir hier besprochen haben und dann…“ Sie wird still und birgt ihr Gesicht in ihren Händen.

Der Therapeut spürt die Betroffenheit. Er merkt, wie berührt er selber ist und ihm sanft die Augen feucht werden. Er kann das Dilemma der Klientin spüren und nachfühlen, wie zerrissen sie sich fühlen muss. Er sagt: „Ich nehme wahr, wie schmerzhaft das gerade für Sie sein muss.“

Die Klientin fängt an zu weinen, still und tief. Es ist, als dürfte sich etwas im Raum ausbreiten, was lange verborgen und weggedrückt war. Und auch wenn noch schwer zu sagen ist, was genau es ist, fühlt es sich dicht und greifbar an.

Die Klientin putzt sich die Nase und sagt: „Ich weiß gar nicht, wann ich das zuletzt so gefühlt habe…“

Therapeut: „Möchten Sie beschreiben, was das ist?“

Klientin: „Ich versuch’s… Sie haben ja vorhin gemeint, es könnte sein, dass ich mich selbst so grausam behandel, um nicht zu merken, wie kalt mich die Menschen behandeln, die in meinem Leben sind… Ich spüre gerade den Schrecken darüber, wie wahr das sein könnte. Und auch wenn ich das am liebsten weghaben möchte, habe ich gerade eine ganz leise Ahnung davon bekommen, wie schön es wäre, wenn ich so leben könnte… also, so, dass das, was ich da mit mir mache, gar nicht nötig wäre.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen können… ja, das wäre sicher eine große Erleichterung…“

Klientin, unter Tränen: „Ja, das wäre es… und ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ich dahin kommen soll.“

Therapeut: „Ja… und die Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, die Sie wahrscheinlich dabei fühlen, sind ja auch der Grund, warum Sie unbewusst dafür sorgen, dass Sie nicht einmal mitbekommen, dass Sie das wollen könnten.“

Klientin: „Ja, die sind auch echt nicht lustig, ey…“

Der Therapeut hält inne und lässt der Wucht in der letzten Äußerung Raum. Dann sagt er: „Das glaube ich Ihnen. Aber vielleicht wird jetzt klarer, was ich mit Orientierung meine. Erst wenn Sie sich vorstellen können, dass der Umgang mit Ihnen liebevoller sein könnte, haben Sie überhaupt nur eine Ahnung, worum es in Ihrer Situation gehen könnte. Das gibt Ihnen zwar keinen 12-Schritte-Plan dafür, wie Sie weiter vorgehen könnten, aber zumindest eine generelle Richtung und einen groben Maßstab.“

Die Klientin sagt amüsiert: „Ja, ich weiß, Sie sind planlos.“

Der Therapeut antwortet ebenso amüsiert: „So isses.“

Klientin: „Können Sie mir nicht irgendwas sagen? Ich halte das so schwer aus!“

Therapeut: „Was finden Sie denn so schwer aushaltbar?“

Klientin: „Naja, wenn ich ernst nehme, was ich da gerade gefühlt habe, finde ich mein Leben total furchtbar! Meine Eltern gehen genau so missachtend mit mir um, wie ich selbst, mein Job fühlt sich sinnlos an und meine Freunde… die sind schon ok, aber ich weiß nicht, ob die verstehen würden, worüber wir hier reden. Und das kann’s doch nicht sein, oder? Ich bin jetzt Mitte 30 und komme überhaupt nicht klar!“

Therapeut: „Ich kann sehen, wie viel das für Sie ist.“

Klientin: „Jawoll! Und ich will das eigentlich keinen Tag länger ertragen müssen. Aber wenn ich das ändern will… da kriege ich einfach nur Panik!“

Auch hier hält der Therapeut inne, damit die emotionale Wucht Raum bekommt. Nach einigen Sekunden Stille sagt er: „Ich kann den Druck spüren und verstehen… Verstehen Sie die Panik?“

Klientin: „Naja… nicht ganz, aber ich denke mir gerad, dass mir dann ja gar nichts mehr bleibt.“

Therapeut: „Sie meinen, Sie wissen dann nicht mehr, welche Form des Lebens zu Ihnen passt?“

Klientin: „Ja… und vielleicht finde ich ja nie eine passende…“

Therapeut: „Es könnte sein, dass Sie diese Form erfinden müssen und sich dafür nur an sich selber orientieren können.“

Klientin: „Oh Gott… das wird hart.“

Therapeut: „Ja, das kann sehr schwierig sein. Vor allem, wenn Sie dafür gewohnte Rollen aufgeben und Konflikte mit Menschen angehen müssen, die Ihnen wichtig sind.“

Klientin: „Das kann ich nicht!“

Therapeut: „Ich kann sehen, dass es im Moment unüberwindbar erscheint. Aber ich bin guten Mutes, dass wir genug über Ihre Angst verstehen können, wenn wir Ihre frühen Erfahrungen mit Ihren Eltern besser kennen.“

Klientin: „Auweia… ich hab’s befürchtet… darüber denke ich überhaupt nicht gerne nach… Wie soll das denn helfen? Können Sie mich nicht lieber hypnotisieren oder igendsowas?“

Therapeut: „Ich glaube leider nicht, dass es wirklich irgendeine Abkürzung darum herum gibt, auch nicht durch das, was Sie unter Hypnose verstehen mögen. Und manchmal wäre es auch mir lieber, man könnte daraus eine OP mit Narkose machen, bei der man als KlientIn aufwacht und alles ist anders, ohne die dunklen und schmerzhaften Ecken beleuchten zu müssen.“

Klientin: „Ja genau, das will ich! Das hätte ich gerne!“ Sie seufzt und fügt hinzu: „Aber gut, ich hab schon verstanden, dass das nicht geht. Trotzdem würde ich gern wissen, was das Wühlen in der Vergangenheit Gutes bewirken soll.“

Der Therapeut hält einen Moment inne und sammelt sich, bevor er fortfährt: „Schauen Sie, Ihr Nervensystem ist ja gerade auf 180. Das heißt, Sie kommen sich sehr bedroht vor und können sich nicht gut schützen, ohne wieder die Wahrnehmung Ihrer tatsächlichen Lebenssituation aus Ihrem Bewusstsein zu drängen. Daraus schließe ich, dass Anteile Ihres Nervensystems berührt werden, die sich strukturiert haben, als Sie sehr jung waren. Und ohne zu wissen, auf was für eine Situation die sich eigentlich beziehen, können Sie nicht unterscheiden, ob Ihre Angst berechtigt ist oder nicht. Es ist, als würden Sie ein Foto von damals über Ihre Wahrnehmung von heute legen und so reagieren, als sei das Foto die Wahrheit.“

Klientin: „Also, Sie meinen, die Angst davor, mein eigenes Leben zu leben, bedeutet gar nicht, dass das so schwierig ist?“

Therapeut: „Das weiß ich nicht. Es ist sicher nicht einfach. Aber wahrscheinlich ist es nicht lebensgefährlich. Deswegen glaube ich, dass die Intensität Ihrer Angst zu anderen Umständen gehört, die Ihnen noch nicht bewusst sind. Wenn Sie herausfinden, welche das sind, können Sie sich wahrscheinlich an Stellen trösten und beruhigen, an denen Sie aktuell nur weg wollen.“

Die Klientin wirkt überfordert: „Ok… das klingt sehr schwierig, aber es ergibt schon Sinn.“ Sie birgt ihr Gesicht noch einmal in ihren Händen. „… und es ist auch ziemlich viel gerade.“

Therapeut: „Ja… das sehe ich. Ich schlage vor, dass Sie das, was wir heute besprochen haben erstmal verdauen. Wir werden noch genug Gelegenheiten haben, uns dem Hintergrund dieser intensiven Gefühle zuzuweden. Wichtig finde ich für den Moment, dass Sie und ich merken, wie Sie sich aus Angst vor Ihren eigenen Urteilen nicht zeigen. Und dass Ihre Urteile, so unangenehm sie sein mögen, eine stabilisierende Funktion haben, die jedoch Ihre Warhnehmung verzerrt und damit eine stimmige Orientierung in Ihrer heutigen Lebenssituation sehr schwer macht. Über alles Weitere würde ich mir im Moment keine Gedanken machen, da es meiner Einschätzung nach ohnehin von selbst auftauchen wird.“

Klientin: „Ja… das ist gut. Darauf werde ich auch erstmal eine Weile herumkauen müssen…“

Therapeut: „Das glaube ich auch. Und wie gesagt, es eilt nicht und Sie müssen sich jetzt auch nichts überlegen. Bewusstsein reicht für den Moment. Ich wünsche Ihnen erstmal gutes Verdauen und eine gute Woche. Und nächste Woche können wir schauen, was aufgetaucht ist.“

Klientin: „Danke… ok, ja… Ihnen auch.“

Die Klientin verlässt hiermit den Praxisraum und der Therapeut schaut noch eine Weile aus dem Fenster, bevor er Folgendes in seine Notizen schreiben: „Projektion des Wunsches angesprochen, sich zu zeigen, Widerstand teilweise bewusst. Klientin mit dem Aggressor identifiziert, behandelt sich unbewusst ebenso lieblos wie ihre Familie, um die Ohnmacht nicht zu spüren. Intensiver, tiefer Schmerz spürbar, wirkt überwältigend, Hinweis auf Trauma. Zusammenhang mit Orientierung erläutert, große Angst vor Konflikten und der Notwendigkeit, sich eigenständig zu vertreten. Gleichzeitig wirkt der Weg alternativlos, da sie alles andere schon ausprobiert hat. Die Intensität fühlt sich nach längerer Arbeit mit einigen Rückfällen an. Ich bin berührt und optimistisch gestimmt.“

Zufrieden steht er auf und geht in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Er hört die Türklingel und der nächste Klient betritt die Praxis.

Plan- aber nicht orientierungslos

Ich bin in meiner Arbeit als Psychotherapeut immer wieder mit dem Wunsch nach einem Plan oder Ratschlägen konfrontiert, den ich weder erfüllen kann noch will. Ich möchte an dieser Stelle meinen Umgang damit in Form eines Dialoges darlegen, wie er in meiner Praxis schon oft vorgekommen ist. Darin erläutere ich einige Eckpunkte meiner inneren Orientierung, wie ich sie aktuell sehen kann, und demonstriere, wie ich Klientinnen und Klienten damit in Berührung bringe.

Es ist Mittwoch, 12h, 3. probatorische Sitzung. Die Klientin ist Mitte 40 und erzählt von einem Leben in Enge und einigen scheinbar ausweglosen Situationen. Mir fällt wiederholt auf, dass sie an bestimmten Punkten das Gesicht verzieht und ich spreche sie darauf an.

Klientin: „Ja… ich kenne das von mir. Das mache ich immer, wenn ich kurz davor bin zu weinen.“

Therapeut: „Ok… und warum stoppen Sie sich?“

Klientin hält inne, Tränen tauchen auf und sie schluckt: „Was habe ich denn davon, wenn ich dann losheule… das muss ich nachher nur alles wieder mühsam verpacken.“

Therapeut: „Sie haben Angst, von Ihren Gefühlen überflutet zu werden?“

Die Klientin nickt.

Therapeut: „Und dass Sie sie dann später um so schwerer verstecken können, wenn Sie z.B. bei Ihren Kindern sind?“

Klientin: „Ja, genau.“ Sie atmet tief durch und sagt: „Ich bin hier, weil ich Ratschläge möchte, nicht um hier auseinanderzufließen.“

Der Therapeut wird still und sagt nach einer Weile: „Hmmm… ich fürchte, dass ich Ihnen dann nicht werde helfen können.“

Die Klientin schaut erstaunt auf:Warum nicht? Eigentlich dachte ich, dass es bei Therapie genau darum ginge…“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sagen, denn ich würde Sie gerne so früh wie möglich über meine Haltung dazu aufklären. Es ist nämlich so, dass ich keinen Plan davon habe, was gut für Sie wäre.“

Klientin: „Ach nicht? Lernt man das denn nicht in Ihrer Ausbildung?“

Therapeut: „Hm… Ich höre, dass Sie sich jemanden an Ihrer Seite wünschen, der in dieser verwirrenden Lage mehr Orientierung hat, als Sie, stimmt das?“

Die Tränen steigen wieder auf und die Klientin unterdrückt sie mit Mühe: „Ja… die fehlt mir nämlich völlig, zur Zeit.“

Therapeut: „Nun, dass ich keinen Plan habe, bedeutet nicht, dass ich keine Orientierung habe. Aber darunter verstehe ich auch etwas anderes.“

Klientin: „Was meinen Sie denn damit?“

Therapeut: „Ich möchte es Ihnen erklären und Ihnen dafür ein bisschen Hintergrund vermitteln. Ihnen ist sicher bekannt, dass wir Menschen ein asymmetrisches Gehirn haben. Das heißt, unsere zwei Hirnhälften sind sehr unterschiedlich.“

Klientin: „Ja, davon habe ich schon mal gelesen.“

Therapeut: „Dieser Unterschied erlaubt uns zwei sehr unterschiedliche Wahrnehmungsmodi, welche beide eine wichtige Rolle für die Therapie haben. Im Allgemeinen sind wir aber mehr mit dem vertraut, was die linke Hirnhälfte tut. Daher auch die Idee, Ratschläge oder einen Plan an die Hand zu bekommen. Dafür ist nämlich die linke Hemisphäre zuständig. Genau genommen geht es dort um die Fähigkeit, handeln zu können – etwas, was Ihnen gerade total abgeht.“

Klientin: „Ja, das stimmt. Ich weiß gerad überhaupt nicht, was ich tun soll.“

Therapeut: „Ok. Handlungen basieren auf der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten Hierarchien bilden, d.h. entscheiden zu können, was wichtig ist und was nicht. Ohne eine solche Priorität bleiben wir in an bestimmten Punkten im Leben in der Schwebe, können uns nicht entscheiden und entsprechend auch nicht handeln. Das ist bei Ihnen gerade der Fall, denn Sie sagen ja, egal an welcher Stellschraube Sie drehen, etwas daran passt nicht.“

Die Klientin fühlt wieder ihre Tränen aufsteigen und sagt: „Ja, es ist zum Verzweifeln, ich fühle mich total ohnmächtig.“

Therapeut: „Ja, das sehe ich… und ich glaube es ist wichtig, das zunächst mal zu fühlen und auszuhalten.“

Klientin: „Ja, aber warum denn? Das ist so unfassbar unangenehmen… ich möchte, dass das aufhört!“

Therapeut: „Weil Sie ohne Fühlen keine Chance haben, sich stimmig in Ihrem Leben zu orientieren.“

Klientin: „Oh…“ Sie wird still und sagt nach einer Weile: „Ich ahne was Sie meinen, aber ich verstehe es noch nicht…“

Therapeut: „Naja, um handeln zu können, müssen wir wissen, was wichtig ist. Dafür ordnet die linke Hirnhälfte bekannte Reize in Kategorien ein. Ganz grob gesagt haben wir davon drei: Ist es nützlich? Ist es gefählich? Oder ist es egal? Alle Reize, die Sie kennen, werden Sie vermutlich genau so einordnen und alles andere erkennen Sie aktuell einfach nicht. Sie haben da einen blinden Fleck. Die linke Hemisphäre kann Ihnen dabei nicht helfen, da ihre Aufmerksamkeit fokal ist, d.h. auf einen Punkt gerichtet und mit dem Einordnen in genau diese Kategorien beschäftigt ist. Wenn man die Punkte des Fokus aneinanderreiht, ergeben sich daraus lineare Prozesse, wie z.B. die Sprache, die ich gerade einsetze, um Ihnen dieses Verständnis zu vermitteln. Lineare Prozesse sind super, so lange eine Situation einigermaßen übersichtlich bleibt. Wenn Sie von A nach B wollen, kann es sein, dass Sie dafür ein paar Schritte hintereinander machen müssen, die leicht unterscheidbar sind und schon sind Sie da. Genau danach fragen Sie mich, wenn Sie Ratschläge von mir wollen.“

Klientin: „Ok… und Sie wollen mir sagen, dass meine Situation nicht wirklich übersichtlich ist und das deswegen so nicht funktioniert?“

Therapeut: „Ja, genau. Ihre Situation ist komplex und wenn Sie dafür eine lineare Lösung hätten, wären Sie nicht hier.“

Klientin: „Das stimmt wohl. Aber was mache ich dann stattdessen?“

Therapeut: „An dieser Stelle kommt die rechte Hirnhälfte in’s Spiel. Sie ist für etwas zuständig, was ich Feldwahrnehmung nennen möchte. Dabei geht es darum, Reize aufzunehmen, die unbekannt oder unbewusst sind und die wir noch keiner Kategorie zuordnen können. Der Psychiater Iain McGilchrist meint dazu, dass wir in prähistorischer Steppe wahrscheinlich mit der linken Hemisphäre gejagt und uns geschützt haben, während wir die rechte Hirnhälfte dafür gebraucht haben, Ungewöhnliches in unserer Umgebung zu bemerken, um uns vor Gefahr zu warnen: das Rascheln im Gebüsch z.B., das auf Löwen oder andere Raubtiere hinweisen könnte.
Feldwahrnehmung ist nicht linear, sondern parallel. Das heißt, wir nehmen ganz vieles auf einmal wahr, was wir mit der linken Hirnhälfte gar nicht alles erfassen bzw. wiedergeben können. So habe ich z.b. einmal auf der Autobahn plötzlich ein ganz mieses Gefühl im Bauch gehabt und zwei Sekunden später wurde ich geblitzt.“

Die Klientin lacht auf und wirkt einen Moment erleichtert.

Therapeut: „Ja, ich hätte das gerne sofort zugeordnet und gebremst, aber ich habe es in dem Moment nicht verstanden. Aus der Feldwahrnehmung ergeben sich nämlich Muster in der Wahrnehmung und Gefühle im Körper, die wir nur mit bewusster Aufmerksamkeit verstehen und einordnen können. Um uns in einer komplexen Umgebung mit vielen Variablen zurecht zu finden, sind wir auf diese Gefühle angewiesen, so unklar und verschlüsselt sie unserem Bewusstsein manchmal auch vorkommen mögen. Ohne diesen Zugang haben wir nur die linke Hirnhälfte mit ihren Routinen, die sich aber auf neue Situationen nicht übertragen lassen. Das Ergebnis ist Ohmacht, sobald etwas Neues und Unbekanntes auftaucht.“

Klientin: „Hmm… ok. Ich brauche also meine Gefühle, um wahrzunehmen, was wirklich los ist?“

Therapeut: „Ja. Und um wahrzunehmen was Sie wirklich brauchen. Wenn Ihnen das klarer wird, wird es Ihnen aller Voraussicht nach auch gelingen, Prioritäten zu setzen und etwas Neues für sich zu tun, auch gegen Widerstand von außen.“

Die Klientin seufzt: „Verstehe… puh, das finde ich aber ganz schön schwer.“

Therapeut: „Ja… das denke ich mir. Ich nehme wahr, wie schwer die Ohnmacht wiegt, wenn ich zu Ihnen hinspüre.“

Die Klientin spürt wieder den Druck, verzieht das Gesicht und sagt: „Ja… das stimmt.“ Sie schluckt und fährt fort: „Ok, das verstehe ich alles, aber wenn ich diese Gefühle zulasse, wird mir das unheimlich schnell zu viel. Nach den letzten beiden Sitzungen habe ich es gerade so geschafft, danach nicht unkontrolliert loszuheulen… das zieht ja einen ganzen Rattenschwanz nach sich, verstehen Sie?“

Therapeut: „Ich verstehe, dass es sehr intensiv für Sie ist und Sie einen sicheren Raum brauchen, um sich so zu öffnen.“

Klientin: „Ja, das stimmt… danke.“

Therapeut: „Und das zu beachten, finde ich wichtig, weil unser Nervensystem so etwas wie Intensitätgrenzen hat. Gefühle sind nur dann für die Orientierung nützlich, wenn sie intensiv genug, aber nicht zu intensiv sind. Gehen die Gefühle über die aktuelle Obergrenze hinaus, erleben Sie Überflutung und können nicht mehr wahrnehmen und beachten, was Sie fühlen. Das Bewusstsein wird gewissermaßen „geschluckt“ – und genau um das Bewusstsein geht es ja, denn das brauchen Sie zum einen, um sich beruhigen zu können, zum anderen um die Gefühle sinnvoll deuten zu können. Bleiben die Gefühle unter der Untergrenze, sind sie andererseits zu dumpf oder subtil, um sie wirklich wahrnehmen und zur Orientierung nutzen zu können. Wir müssen also zwischen den Grenzen bleiben, wenn wir die Gefühle nutzen wollen.“

Klientin: „Und wie treffe ich jetzt genau diese Zone in der Mitte?“

Therapeut: „Das können wir wohl nur ausprobieren, mit dem Risiko, dass wir manchmal daneben liegen.“

Klientin: „Na toll… das heißt, ich muss schauen, ob ich das will.“

Therapeut: „Ja, das müssen Sie abwägen. Wichtig finde ich allerdings auch zu sehen, dass diese Grenzen nicht fix sind, sondern dehnbar. Ich stelle mir die Kapazität unseres Bewusstseins, intensive Gefühle zu fühlen, manchmal wie ein Goldfischglas mit Lottokugeln drin vor. Wird es heftig, bewegen sich die Kugeln so schnell, dass sie aus dem Glas herausspringen. Dann können wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen und alles wird zu viel. Wird das Glas jedoch größer, steigt auch die Kapazität, intensive Zustände wahrzunehmen, ohne auszusteigen. Und damit wächst die Fähigkeit, wahrzunehmen, wo Sie wirklich sind und wie Sie dort für sich sorgen können.“

Klientin: „Ok und wie kann das Glas größer werden?“

Therapeut: „Wenn Sie sich hier mit mir öffnen, haben Sie nicht nur Ihr Bewusstsein, sondern auch meines zur Verfügung. Der Raum des Goldfischglases kann dann größer werden und das ist in meinem Ermessen eine der Hauptwirkungen von gelingender Psychotherapie. Wenn Sie alleine etwas dafür tun wollen, würde ich Ihnen Meditation empfehlen. Darunter verstehe ich, dass Sie für eine bestimmte Zeit am Tag nichts tun, außer mit dem Fokus in Ihrem Körper zu sein und was Sie dort fühlen. Wenn Sie einen Impuls zum Handeln haben, fragen Sie sich, was Sie fühlen und bleiben mit der Aufmerksamkeit dort. Wenn Sie merken, dass Sie über etwas nachdenken, fragen Sie sich, was Sie zu den Gedanken fühlen und bleiben Sie dort. Es geht nicht darum, etwas zu benennen oder zu analysieren, nur wahrnehmen und beachten. Das erweitert auch das Glas.“

Die Klientin lacht und sagt: „Jetzt haben Sie mir ja doch einen Ratschlag gegeben.“

Der Therapeut lacht auch und antwortet: „Und? Wie finden Sie das?“

Klientin: „Gut… ich glaube, damit kann ich etwas anfangen. Genau genommen ist es ja ein Ratschlag, der mir bei der allgemeinen Orientierung helfen kann und nicht etwas, was mir sagt, was ich zu tun hätte.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie den Unterschied sehen.“

Die Klientin wird still. Sie sieht nachdenklich aus. Dann fragt Sie: „Wissen Sie, ich wundere mich schon darüber, warum das so intensiv wird, wenn ich anfange zu weinen. Ich wäre gerne stärker.“

Therapeut: „Sie meinen, Ihre aktuelle Situation reicht nicht aus, um zu erklären, warum es Ihnen nicht gut geht?“

Klientin: „Naja… einerseits schon, weil es wirklich viel ist. Und ich halte das schon lange aus, habe kaum Menschen, mit denen ich darüber reden kann… aber ich verstehe nicht, warum ich mich so anstelle. Eigentlich müsste ich mir einfach eine Wohnung suchen, ausziehen und gut ist. Warum hampel ich damit so herum?“

Therapeut: „Genau um das herauszufinden brauchen wir die Feldwahrnehmung der rechten Hirnhälfte. Und Sie haben sie gerade auch eingesetzt, denn dieses ‚Irgendwie erklärt es das nicht…‘ ist genau das, was wir durch unsere Gefühle wahrnehmen können. Es geht um die Gewichtung, um die Bedeutungsschwere gemessen am heutigen Kontext. Und ich stimme Ihnen zu, dass da etwas nicht zusammen passt. Was das aber ist, weiß ich noch nicht.“

Klientin: „Und wie lässt sich das herausfinden?“

Therapeut: „Naja, genau dafür hat Sigmund Freud so viel über das Unbewusste gesprochen, das sich der fokalen Aufmerksamkeit unseres Verstandes und der linken Hirnhälfte entzieht. Wir kommen da also nur indirekt dran, über Assoziationen, Träume, Ideen, Gefühle. Und das braucht Zeit. Was ich aber aktuell orientierend sagen kann, ist folgendes:
Teile Ihres Nervensystems tragen die Prägungen der Zeit, in der sie entstanden sind, sind also an die Situation Ihrer Kindheit angepasst. Das heißt, an diesen Stellen fühlen Sie genau so wie als kleines Mädchen. Grundsätzlich gehört zur Kindheitssituation dazu, dass wir auf Menschen angewiesen sind, die in sich Begrenzungen haben, an denen wir als Kind nichts ändern können. Und das kann einen in unfassbare Not bringen, die so unerträglich ist, dass wir sie aus dem Bewusstsein drängen müssen, um am Leben zu bleiben. In dem Maße, wie wir das tun, steht uns unsere Wahrnehmung nicht mehr zur Verfügung und wir verlieren Orientierung. Damit werden Sie es heute auch zu tun haben.“

Klientin: „Das heißt, wir müssen meine Kindheit reflektieren?“

Therapeut: „Ja. Je mehr Sie darüber wissen, wie es damals für Sie war, desto besser können Sie zwischen heute und damals unterscheiden. Das heißt zwar oft noch nicht, dass Sie weniger intensive Gefühle haben, aber Sie glauben dann zumindest nicht mehr, dass Sie daran sterben oder eine Situation wirklich so schlimm und auswegslos für Sie ist, wie sie sich anfühlen mag. Und wenn Sie dort einmal sind, können Sie glaubhafte Vorstellungen davon entwicklen, in welche Richtung Ihr Leben wirklich besser werden könnte.“

Klientin: „Puh… das wird hart.“

Therapeut: „Ja, das kann es sein. Darum ist es wichtig, dass Sie mir einen klaren Auftrag dazu geben, an dem Sie und ich messen können, ob das, was wir gerade tun, den Schmerz wert ist, der dabei auftaucht.“

Klientin: „Ich komme ja wohl nicht darum herum, wenn ich verstehen will, wo ich stehe und was ich brauche, um es mir besser gehen zu lassen.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen.“

Klientin: „Ok, den Auftrag haben Sie. Was wollen Sie wissen?“

Therapeut: „Lassen Sie uns bei Ihren Großeltern beginnen…“

Auftrag

Ich liebe meinen Beruf. Psychotherapeut zu sein erlaubt mir, im Einklang mit meinem Inneren, meinen Werten und meiner Leidenschaft Zeit zu verbringen, während für meine Existenzgrundlage gesorgt ist. Ich könnte es mir nicht schöner vorstellen.

Es gibt allerdings eine Seite an dem Beruf, die mich herausfordert, sehr genau auf meine Grenzen zu achten, wenn ich nicht ausgelaugt, angespannt, ängstlich und überfordert leben möchte. Ich hatte in der Vergangenheit Sitzungen und ganze Verläufe, in denen es mir so erging und von KollegInnen höre ich immer wieder, dass sie mit solchen Empfindungen zu kämpfen haben. Wer dafür keine Lösung findet, kann diesen Beruf und andere Helfer- oder Berater-Berufe wie z.b. Coach oder Trainer nicht ausüben, ohne früher oder später in einen Burnout zu rutschen. Auch mir hätte das passieren können und das könnte es noch, wenn ich nicht achtsam bin. Ich möchte hiermit teilen, wie ich das Problem verstehe und wie ich mich davor schütze, in der Hoffnung, dass andere davon profitieren können.

Das ideale Gegenüber

Wie vermutlich alle meine KollegInnen verbinde ich mit dem Beruf etwas sehr Persönliches. Ich bin meinen KlientInnen idealerweise ein Gegenüber, wie ich es selbst gern gehabt hätte, als ich klein war. Die Einstimmung, die Wärme, das Interesse, der Überblick… alles Qualitäten, die mir als Kind unfassbar wertvoll gewesen wären, insofern sie mir fehlten. Unreflektiert kann das dazu führen, dass die Psychotherapie zum Spielfeld dafür wird, dass ich mir selbst demonstriere, dass es diese Qualitäten gibt. Dass sie auf dieser Welt möglich sind. Es ist dann, als würde ich den kleinen Niklas in den Sessel setzen, indem mein/e KlientIn sitzt und zu ihm sprechen, ihn umsorgen und vermitteln, dass er geliebt wird. Das projiziere ich dann auf meine KlientInnen. Somit werde ich für den kleinen Niklas zum Modell für das, was ich als Kind gebraucht hätte.

Abgesehen von der schwerwiegenden Konsequenz, dass ich meine KlientInnen auf diese Weise nicht in ihrer Eigenart, ihrer einzigartigen Situation und ihren eigenen Wünschen wahrnehmen kann, ist außerdem problematisch, dass diese Inszenierung nur gelingt, wenn mein Gegenüber mitmacht. Denn das habe ich nicht in der Hand. Und wenn ich unbewusst versuche, diese Inszenierung zum Gelingen zu bringen, mein Gegenüber aus irgendeinem Grund aber nicht will oder nicht kann, bin ich ohnmächtig. Ich will etwas, was ich alleine nicht herstellen kann. Und so lange mir dieser Versuch nicht bewusst ist, gerate ich während der Arbeit regelmäßig in Angst- und Erschöpfungszustände, die mittelfristig in Burnout münden.

Machen Sie das bitte weg!

Als ich im Rahmen meiner Approbationsausbildung damit anfing, mit KlientInnen zu arbeiten, begegnete mir ein Klient, der von Angstzuständen sprach, die urplötzlich und ohne ihm zugängliche Erklärung in seinem Leben aufgetaucht seien. Er hätte gerne, dass die weggingen. Als er nicht mehr sagte, entstand eine Stille, die ich äußerst unangenehm empfand, da ich ohne Gesprächsfluss mit voller Breitseite wahrnahm, wieviel ich mir abverlangte. Ich bemerkte den Anspruch, dass ich nun mit Hilfe meines Kopfes eine ausgiebige Anamnese mit Analyse und Diagnose stellen müsste, um dann genau zu wissen, wie ich den Herrn behandeln müsste, damit auch ja ganz sicher seine Ängste weggingen. Und das alles, ohne dass der Klient mehr von sich einbrächte oder aktiv beteiligt wäre. Ich erwartete von mir, den Klienten dazu bringen zu können, sich zu öffnen und mir von Schichten in sich zu erzählen, die er selber noch gar nicht kannte. Wie sollte ich das machen? Ich kannte ihn doch auch nicht! Und woher die Ängste kommen – keine Ahnung! Steht das in irgendeinem Lehrbuch? Das alles fühlte sich unfassbar schwer und zäh an.

Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht, in unterschiedlicher Art und Weise. Mal war jemand besonders passiv, manchmal waren „auch einfach alle anderen schuld“, mal sollte ich für Entspannung sorgen oder eben so mitfühlend und liebevoll sein, wie Mama es nie war, obwohl ich fand, dass mein Gegenüber selbst aktiv (wenn auch unbewusst) an seiner Misere beteiligt war. Ich brachte mich immer wieder in Bredouille, weil ich mir auftrug, meine KlientInnen zu retten, obwohl ich das nicht kann und die das mitunter gar nicht wollten. So ging das weiter, bis ich von Dozenten und Supervisoren den Hinweis bekam, dass ich die Klärung des Auftrags nicht auf dem Schirm zu haben scheine.

Eine Grundvoraussetzung

Der Auftrag ist eine der wichtigsten Grundlagen dafür, dass Psychotherapie gelingen kann. Im Kern bedeutet das, dass mein Gegenüber weiß, wofür es zu mir kommt und die Verantwortung für diese Entscheidung trägt. Das ist so wichtig, denn meine KlientInnen lassen mich unfassbar nah an sich heran. Es ist nicht so offensichtlich wie bei einem Zahnarzt, der mir in den Mund schauen darf, damit er mir hilft, gesunde Zähne zu behalten. Es geht um Innerlichkeit und die ist selten so klar definiert, wie ein gesunder Zahn. Was darf ich sagen? Welche Maßstäbe darf ich dafür anlegen, was für mein Gegenüber gut wäre? Worauf darf ich hinweisen? Darf ich mitteilen, was ich wahrnehme, auch wenn es furchtbar unangenehm und konflikthaft ist? Ohne den Auftrag habe ich kein Recht dazu, denn es geht mich nichts an, wie andere Menschen ihr Leben führen. Mein Engagement kann schnell übergriffig wirken, wenn der Zusammenhang zu dem, was meine KlientInnen ursprünglich bei mir wollten, nicht mehr klar ist.

Das heißt, mit klarem Auftrag schütze ich mich davor, mich mit einer Aufgabe zu verausgaben, die ich nicht in der Hand habe. Und ich schütze meine KlientInnen davor, den Überblick über den Sinn des Geschehens zu verlieren, sowie Opfer meiner (bzw. des kleinen Niklas‘) Ansprüche zu werden, die sie höchstwahrscheinlich als unangenehmen Druck wahrnehmen könnten, wenn sie genug Bewusstsein dafür haben.

Aus dieser Klarheit ergeben sich nun zwei weitere Herausforderungen: Wie können meine KlientInnen einen klaren Auftrag definieren? Und welche Aufträge nehme ich an und welche nicht?

Das verflixte am Unbewussten…

… ist bekanntlich, dass es wirklich unbewusst ist. Das heißt, da der Ausgangspunkt für eine Psychotherapie meistens darin besteht, dass meine KlientInnen bzgl. ihrer Lebenssituation und ihrer Möglichkeiten verwirrt sind und sich verloren und orientierungslos vorkommen, stellt die Frage nach einem bewussten Auftrag oft eine Überforderung dar. Es ist ja gerade diese Unklarheit und der Einfluss unbewusster Gedanken-, Gefühls- und Handlungsmuster, die zu den Symptomen führen, welche den Leidensdruck ausmachen und Anlass für eine Psychotherapie darstellen. Und die Verknüpfung zwischen Symptom, Ursache und Erkenntnissen, die auf Wachstum und Erfüllung hinweisen, ist gerade auf der seelischen Ebene nicht linear oder sofort erfassbar. Ich habe schon Fälle gehabt, in denen ich rein intuitiv entscheiden musste, ob mein Gegenüber einen Auftrag hat, selbst wenn der Auftrag fern des Bewusstseins erschien. So habe ich z.B. mit einer Frau gearbeitet, die jeden Versuch meinerseits, festzustellen, worum es ginge, damit beantwortete, dass es doch etwas anderes sei, als was sie gerade gesagt hatte. Sie war nicht zu greifen. Und genau das war ihr Problem, denn es führte in vielen Lebenssituationen dazu, dass sie sich innerlich so fern von ihren eigenen Wünschen hielt, dass sie keine Freude an noch so schönen Umständen emfinden konnte. Hatte sie damit keinen Auftrag?

Ich hatte zwei Indizien, dass das nicht stimmte: Zum einen fühle ich in der Regel eine gewisse, lebendige Spannung, wenn mein Gegenüber einen echten Wunsch hat, zu arbeiten. Die war anwesend. Zum anderen sagte die Klientin, wenn ich danach fragte, es sei ihr unfassbar wichtig, dass sie kommen könne. Den Auftrag zu formulieren jedoch hätte von ihr erfordert, dass sie sich ihrer Abwehr dagegen bewusst wurde, in irgendeiner Art sichtbar, greifbar und damit auch „angreifbar“ zu sein. Dazu war sie zu Beginn der Therapie nicht in der Lage.

In der Praxis begegne ich diesem Problem, indem ich mit meinen KlientInnen zu Beginn der Therapie ein Gespräch darüber führe, welchen Auftrag ich annehme. Im Kern gibt es tatsächlich nur einen, auch wenn er an der Oberfläche unterschiedlich aussehen kann: „Bitte helfen Sie mir zu verstehen, in was für einer Situation ich mich befinde und welchen Einfluss ich darauf habe, ohne das bisher gemerkt zu haben.“ In der Regel sorgt die Klarheit über diese Möglichkeit für Erleichterung und eine gute Grundlage, damit zu arbeiten. Denn selbst wenn der klare Blick auf einen selbst zuweilen sehr schmerzhaft und unangenehm sein kann, wird durch diesen Auftrag klar, wofür sich das lohnen könnte. Und dass meine KlientInnen von nichts und niemandem dazu gedrängt werden, außer ihrem Wunsch, den eigenen Leidensdruck zu reduzieren.

Nichtsdestotrotz erlebe ich selten Prozesse ohne Abwehr oder Widerstand, in denen die unbewussten Versuche, nicht allzu viel durcheinander zu bringen und eine gewisse Grundstabilität zu bewahren, den Erkenntnisprozess beeinflussen. Das ist zu erwarten, denn in der Regel ist es ja genau die Abwehr, die die Wahrnehmung der Situation, wie sie ist, verhindert. Habe ich den oben formulierten Auftrag, kann ich das benennen und darauf hinweisen. Ohne, dass der Auftrag auf dem Tisch wäre, würde ich mich das unter Umständen nicht trauen, weil ich niemandem zu nahe treten will. Und wer diese Konfrontation nicht möchte, kann mit mir über den Auftrag sprechen und im Fall zur Entscheidung kommen, ihn mir zu entziehen.

Ohne Auftrag kein „Saft

Dass Aufträge unbewusst sein können, bedeutet dennoch nicht, dass immer einer da ist. Der Unterschied ist spürbar, denn in meinem Empfinden stellt sich in diesem Fall eine gewisse Zähigkeit und Kraftlosigkeit ein. Das kann Widerstand sein, muss es aber nicht. Dafür Kriterien zu haben finde ich wichtig. Ansonsten kann das Argument des unbewussten Auftrags dazu führen, dass ich nicht erkenne, wann wirklich keiner da ist. Damit würde ich letztlich wieder eine Situation schaffen, in der ich meinen KlientInnen meine Vorstellungen davon aufzwänge, was gut für sie wäre, und mich dabei verausgaben.

Direkt zu Anfang

Zum einen gibt es den Fall, dass KlientInnen mit einem bestimmten Bild zur ersten Sprechstunde kommen und feststellen, dass Psychotherapie ihnen etwas abverlangt, wozu sie nicht bereit sind. Vielleicht nur zu diesem Zeitpunkt nicht, vielleicht aber auch nie. Gerade die Vorstellung einer „psychotherapeutischen Behandlung“ vermittelt etwas passives, bei dem KlientInnen etwas geschieht, am besten, ohne dass sie es selbst mitbekommen. Das Bild erinnert an eine chirurgische Behandlung unter Narkose.

So hatte ich mal einen Klienten, Anfang 60, in der ersten Sprechstunde, der Angst um seine Ehe hatte, nachdem seine Frau ihn wiederholt dabei beobachtet hatte, wie er Fotos von fremden Frauen machte. Dies war eine voyeuristisch angehauchte Gewohnheit, die er schon vor der Ehe gehabt hatte und von der seine Frau ihm gesagt hatte, dass sie damit nicht leben könne. So war es auch jetzt. An mich hatte er den Auftrag, ihn so zu behandeln, dass er diese Gewohnheit loswürde und so seine Ehe schützen könne. Nach einigen Fragen über seine Situation wurde mir klar, dass ich diesen Auftrag so nicht annehmen würde. Mir schien der eigentliche Konflikt darin zu liegen, welche Rolle Sexualität in der Ehe spielen durfte (nämlich gar keine und das seit Jahren schon) und inwiefern und warum er bereit war, das hinzunehmen. Nach der Sitzung teilte er mir per Email mit, dass er unter diesen Umständen von einer Psychotherapie absehen wolle.

Verantwortlich für dieses Bild einer Behandlung unter Narkose halte ich einen berufspolitischen Druck, den es schon seit den Zeiten Sigmund Freuds gibt: da der Gegenstand von Psychotherapie etwas unsichtbares und tendenziell unbewusstes ist, muss sich der Berufsstand des Verdachtes der Quacksalberei erwehren, die im besten Falle nichts nützt und im schlimmsten Falle (evtl. auch finanziell) schadet. Wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit von Psychotherapie-Verfahren zu liefern und damit die Glaubwürdigkeit (und die öffentliche Finanzierung) zu sichern, erfordert jedoch, dass Bedingungen und Vorgehensweisen gemäß gewisser Richtlinien standardisiert werden, da man sie sonst nicht vergleichen kann. Ohne immer gleiche Bedingungen gibt es zu viel Chaos im Ergebnis, als dass sich die Prozesse von KlientInnen wirklich einer Psychotherapie, geschweige denn bestimmten Therapieschulen zuordnen ließen.

Was jedoch für das Design einer randomisierten Studie wichtig ist, widerspricht einem der wichtigsten Wirkprinzipien der Psychotherapie: Das Bewusstsein der KlientInnen selbst sorgt dafür, dass Ordnung entsteht, wo vorher Chaos war, dass Erkenntnisse auftauchen und Zusammenhänge ersichtlich werden dürfen, die letztendlich für so etwas wie „Heilung“ sorgen. Als Psychotherapeut begleite und fördere ich diesen Erkenntnisprozess, trete in Beziehung und setze ein, was ich an Wahrnehmung und Instrument habe. Jedoch wirkt der Prozess nur, wenn er in den KlientInnen selbst stattfindet. Da jeder Mensch sein eigenes Bewusstsein hat, ist dieser Prozess hochindividuell und eben nur sehr begrenzt standardisier- bzw. manualisierbar. Die Essenz, scheint mir, bleibt dabei außen vor.

Für den unerfahrernen Laien kann das Fehlen eines solchen Plans unübersichtlich und beängstigend wirken. KlientInnen also, die zu große Angst vor dem eigenen Erleben und den Folgen dieser Art von Aufdeckung haben, können von daher keinen Auftrag an mich haben, den ich annehmen wollte bzw. könnte.

Ein Plateau

Zum anderen gibt es den Fall, dass der Verlauf einer Psychotherapie bis zu einem bestimmten Punkt gekommen ist, an dem KlientInnen ein Entwicklungs-Plateau erreicht haben, das mit Erlebnissen gefüllt werden will, bevor es durch neue Erkenntnisse weitergehen kann. Dieses Plateau kann unter Umständen Jahre andauern, vielleicht auch bis zum Tod.

So hatte ich mal eine Klientin, Mitte 40, die ich 1 1/2 Jahre lang darin begleitet hatte, sich im Rahmen ihrer Ehe eine in ihrem Leben zuvor noch nie dagewesene emotionale Unabhängigkeit zu erarbeiten. Zu Beginn bezog sie sich auf alles, was ihr Mann tat, sagte, dachte, bzw. was ihr darin fehlte. Sie versuchte sein Verhalten so zu beeinflussen, dass er sich ihr liebevoll zuwand, um über seine Zuwendung die tiefen Konflikte in Schach zu halten, die sie in sich trug, seit sie klein war: „Was mache ich hier eigentlich? Wofür bin ich hier, wenn es doch nur Angst, Einsamkeit und Leid gibt?“ Diese Kontrollversuche waren auslaugend, erschöpfend und funktionierten nicht. Im Laufe der Psychotherapie bekamen ihre inneren Konflikte zunehmend Raum in ihrem Bewusstsein und es gelang ihr, unabhängig von ihrem Mann, eine Balance darin zu erleben. Sie begann Hobbys aufzunehmen und es sich, unabhängig von ihm, gut gehen zu lassen. Da er parallel keine solche Entwicklung durchlief, entstand zwischen beiden ein Abstand, den er nicht mochte, sie jedoch brauchte und genoss.

Einige Stunden lang war dieser Genuss Thema und in mir entstand eine Art Spannungsabfall. Die Klientin hatte Großes erreicht… aber wozu kam sie jetzt noch in die Praxis? Ich überlegte, was nun ein nächster Entwicklungsschritt sein könnte und sprach das Thema Nähe und Sexualität an, welches in meinen Augen den anderen Pol zur jetzt gewonnenen Autonomie der Klientin darstellte. Sie reagierte darauf mit Abwehr und Anspannung. Sie sei doch zu alt für sowas und das sei jetzt nicht dran. Da sie ja dennoch noch kam, fragte ich, ob es ihr schwer falle, Abschied zu nehmen und sie den Kontakt in den Stunden genieße, auch wenn klar sei, dass es gerade gut sei. Dies bestätigte sie und fügte hinzu, dass sie derzeit konsolidieren wolle, was sie erreicht hätte und es nicht durch neue Entwicklungen destabilisieren wolle, bevor sie dazu wirklich bereit sei. Damit war klar, dass einstweilen ein Abschied bevorstand.


Hiermit schließe ich vorerst meine Betrachtungen zum Thema Auftrag. Ich bin dankbar dafür, relativ früh in meiner Laufbahn auf die Notwendigkeit desselben hingewiesen worden zu sein und diese Klarheit erhalten zu haben. Ich wünsche mir und anderen Kollegen möglichst lange die Freude und Begeisterung an dem Beruf, die ich dank dessen fühlen darf.

Grenzen und Sex

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

„Ich verstehe mich einfach nicht. Wie kann es sein, dass ich scheinbar nur auf Typen stehe, die sich einen Dreck um mich scheren, und dann schon fast angewidert bin, wenn ein Mann mich respektvoll und freundlich behandelt? Hab ich sie noch alle? Halte ich wirklich so wenig von mir, dass sich eine Beziehung nur ‚richtig‘ anfühlt, wenn ich darum kämpfen muss, beachtet zu werden?“

Sowohl privat als auch in der Praxis höre ich immer wieder von diesem Dilemma, wenn es um sexuelle Beziehungen geht. Irgendetwas scheint gar nicht zusammen zu passen, für Männer und für Frauen: einerseits sehnen wir uns nach liebevollem Kontakt, Gemeinsamkeit, Nähe, Geborgenheit. Andererseits wollen wir Aufregung, Leidenschaft, Unvorhersehbarkeit, viel Energie und Bewegung. Scheinbar ist einerseits Sicherheit wichtig, andererseits ist es langweilig, wenn alles so läuft, wie erhofft oder erwartet. Wie kann das sein? Was ist da los?

Ich ringe in diesem Thema schon lange um Klarheit. Denn was die Klientin in dem Zitat beschreibt, kenne ich als Mann als Doppelbotschaft an mich, an der ich schon manches Mal verzweifelt bin: einerseits wünscht sich meine Liebste Entschiedenheit, andererseits Einfühlsamkeit. Sie will sowohl klare Ansagen als auch weiches Auffangen und zwar ohne, dass sie mir sagen muss, wann was für sie dran ist. Wenn ich dann noch vergesse, wofür ich eigentlich selber in die Beziehung gegangen bin, was ich von meiner Partnerin will und wozu, verliere ich gänzlich den Überblick. Es kann sehr verwirrend sein. Was also kann als Orientierung dienen, um Licht in dieses Dunkel zu bringen?

Was ich zu dieser Frage im Folgenden beschreibe, verstehe ich lediglich als eine von mehreren möglichen Herangehensweisen an das benannte Problem. Ich erhebe nicht den Anspruch, damit alle möglichen Hintergründe erschöpfend behandelt zu haben.

Feminin und Maskulin

Es gibt zum Thema Beziehung und Sexualität sehr viel Literatur, die ich hilfreich finde, allerdings verdanke ich vor allem David Deida einige Grundgedanken, durch die ich in diesem Thema an Orientierung gewonnen habe. Er hat 10 Bücher geschrieben, die in 25 Sprachen übersetzt wurden, leitet Seminare und lehrt spirituelle Sexualität. In diesem Kontext verstehe ich unter „spirituell“ etwas Überpersönliches, denn wir kommen in der von Deida beschriebenen Sexualität mit Seins-Qualitäten in Kontakt, die uns mit einer anderen Wahrnehmung von uns selbst und der Welt verbinden können. Mit Deida als Lehrer habe ich leider immer auch ein mulmiges Gefühl gehabt, weswegen es lange gedauert hat, bis ich aus seinen Ideen etwas für mich verwend- und verwertbares extrahieren konnte. Im letzten Abschnitt dieses Artikels gehe ich darauf ein, was an seiner Art ich kritisch sehe, aber für jetzt möchte ich vorstellen, was mir wertvoll erscheint und welche Sichtweise sich für mich daraus ergeben kann.

Deida behauptet, dass erotische Spannung, die wir als lustvoll erleben, immer dann auftaucht, wenn ein Partner im maskulinen und einer im femininen Pol ist. Und nur dann. Die Pole werden maskulin und feminin genannt, weil nicht festgelegt ist, welches Geschlecht in welchen Pol geht, aber mit jedem Pol bestimmte Qualitäten einhergehen, die mit der geschlechtlichen Anatomie und den Neigungen der meisten Männer und Frauen korrespondieren. Und auch homosexuelle Paare erleben Lust in dieser Polarität. Da ich aber mit den Besonderheiten von homosexueller Polarität leider keine Erfahrung habe, beschränke ich mich hier auf heterosexuelle Polarität.

David Deida

Deida bringt das Maskuline und das Feminine mit dem in Verbindung, was im Buddhismus das Zusammenspiel von „Leere und Form“ genannt wird. Auch das Yin/Yang-Symbol aus dem Taoismus, das u.a. für Chaos und Ordnung steht, passt dazu. Dabei repräsentiert das Maskuline die Leere und das Feminine die Form. Mit Leere ist hier Potential und Ungeborenes gemeint, das Geistige, die Idee, so wie eine leere Tasse Platz für Tee bietet oder ein leerer Fensterrahmen eine Sicht freigibt. Die Leere ist Freiheit, nicht festgelegt, offen, still. Ein Ursprung, von dem etwas ausgehen kann, Raum, in dem etwas geschehen kann. Das Feminine repräsentiert hingegen die Fülle, den Inhalt, das Konkrete, Geborene, Manifeste, welches sich im Raum der Leere ausbreiten und halten lassen kann. Im Raum bekommt die Fülle Form, bewegt sich in die vorgegebene Richtung und ist einfach, was immer sie gerade ist.

Bildlich ist der maskuline Pol mit einem Flussbett vergleichbar, während der feminine Pol durch den Fluss repräsentierbar ist. Das Maskuline hält, gibt Richtung vor, ist präsent, ruhig und konzentriert. Es drückt einen Willen aus, führt und begrenzt. Das Feminine ist Energie und Empfinden, breitet sich aus, bewegt sich unentwegt hierhin und dorthin, ohne eigene Richtung. Es drückt in voller Ladung aus, was ist und erscheint in allen Farben des Lebens. Beide Pole sind in ihrer Form mächtig und kraftvoll. Das Flussbett äußert seine Kraft im Halten, der Vorgabe der Richtung und Begrenzung. Die Kraft des Flusses drückt sich in der Bewegung, Geschwindigkeit und Wendigkeit aus und steht in Spannung zur Führung des Flussbettes, manchmal mehr, manchmal weniger. So lange es Unterschiede zwischen den Polen gibt, also zwischen dem, was das Maskuline vorgibt und dem, wie das Feminine folgt, gibt es Spannung und Reibung. Das macht Lust und ist aufregend, für beide Partner.

Idealerweise.

Wie schon hier beschrieben, erleben wir Spannung in einem Spektrum. Das heißt, je besser wir uns mit etwas auskennen, je geordneter und strukturierter etwas ist, desto mehr Herausforderung wollen wir, um einen Kitzel, Aufregung, Sinn und Neues zu erleben. Landen wir dabei zu weit im Unbekannten, können wir Angst und Panik bekommen und uns nach strukturierten Umständen sehnen. Diese können dann für Halt und Sicherheit sorgen, aber ebenso die erotische Polarität stören, da zu wenig Unterschiede und Fremdheit zwischen den Partnern besteht, dass es noch aufregend wäre. Genau das scheint das Dilemma zu sein, von dem die Klientin im obigen Zitat spricht. Aber wie lässt sich das lösen?

Sexuelle Entwicklung

Es gibt einige Autoren, die davon sprechen, dass die menschliche Entwicklung mit dem Erreichen des Erwachsenenalters nicht abgeschlossen sei. Vor allem Ken Wilber verdanke ich hier einen Überblick über die vielen verschiedenen Forscher, die Modelle zur Beschreibung von Entwicklungsstufen erstellt und durch Studien untermauert haben. Sie zeigen auch für Erwachsene noch neue Möglichkeiten auf, sich und die Welt zu erleben. Wohl am bekanntesten ist die Bedürfnispyramide von Maslow, die eine Sequenz von Lebensthemen beschreibt, zu denen wir in einer bestimmten Reihenfolge Zugang gewinnen können. Andere Autoren wie Clare Graves und Don Beck beispielsweise beschreiben die Entwicklung von Werteprioritäten (Spiral Dynamics), Jane Loevinger beschreibt Ich-Entwicklung, Lawrence Kohlberg moralische Entwicklung. Soll diese Entwicklung gesund sein, gilt das von Ken Wilber postulierte Prinzip, dass jeder Mensch, der auf eine neue Entwicklungsstufe gelangt, über die vorherige Stufe hinausgeht, aber Elemente der vorhergegangenen Stufe integriert (transcend and include). Gelingt das nicht, gibt es Konflikte, Fixierungen, Verzerrungen und eine Menge Verwirrung.

Genau diese Phänomene finde ich auch in dem Zitat meiner Klientin. Und zu deren Aufklärung möchte ich an dieser Stelle vorstellen, wie David Deida in drei Stufen die sexuelle Entwicklung von Männern und Frauen skizziert und was sich für mich daraus ergibt. Die Unterscheidung dieser Stufen erlebe ich als heilsame Klärung von scheinbar unauflösbaren Widersprüchen. Allerdings zeigen diese Stufen auch Herausforderungen auf dem Weg zu Erfüllung in Liebe und Sexualität auf, die massiv sein und nur mit Mut und der Bereitschaft, schmerzhafte und beängstigende Ecken im eigenen Innern anzuschauen und gelten zu lassen, zu bewältigen sein können.

Wenn du so bist, kann ich so sein

Die erste Stufe in Deidas Entwicklungsmodell nenne ich „Unbewusste Deals“. Sie ist davon geprägt, dass wir uns unseren Zustand und unser Verhalten als Resultat dessen erklären, wie der andere ist und was er tut. Ich habe im Artikel über Lust, Spannung und Depression beschrieben, wie wir in Beziehung zu unseren Eltern Verhaltens- und Abstimmungsmuster entwickeln, die gewissermaßen unsere erste unbewusste Orientierung dafür darstellen, wie wir in Beziehung gehen. Darin ist enthalten, wie gut wir die Wünsche und Grenzen von uns selbst und anderen kennen, was wir glauben und für möglich halten und wie gut wir es aushalten, wenn es Unterschiede gibt, die wir nicht auf einfache Weise lösen können. All diese Überzeugungen und Haltungen sind ohne Selbsterfahrung und Reflexionsarbeit unbewusst, das heißt, wir wissen entweder nicht, dass wir so empfinden oder wir können nicht zwischen unserer Überzeugung und der Welt unterscheiden. Dass das so ist, hat neben der Tatsache, dass wir nur durch die Bildung von Unterschieden und Kontrasten Bewusstsein erlangen, die Funktion, dass wir die überlebenswichtige Beziehung zu den Eltern stabil halten. Wenn bestimmte Impulse bei den Eltern Wut oder Depression auslösen, ist es sicherer, die Impulse nicht nur vor den Eltern, sondern auch vor sich selbst zu verstecken.

Ich denke dabei an die zitierte Klientin, die über Jahre hinweg an einem Mann hing, der wenig Bereitschaft hatte, sich auf sie einzustimmen, oft nicht verfügbar war, wenn sie Zeit mit ihm wollte und regelmäßig in Schwierigkeiten steckte, bei denen sie ihm bereitwillig aushalf. Einmal hatte er die Beziehung sogar für eine andere Frau beendet, was die Klientin sehr verletzte. Dennoch nahm sie ihn zurück, als er wieder frei war. Sie rätselte in den Sitzungen oft darüber, warum sie sich so nach ihm sehnte, wo sie doch jedem Recht geben musste, der ihr sagte, dass es ihr mit jemand anderem besser gehen könnte. Lange Zeit wusste sie nur, dass sie nur in seinen Armen eine Beruhigung erfuhr, die sie sonst nicht kannte und die sie mit den Worten „Nur da fühle ich mich wertvoll“ umschrieb. Sie war abhängig, weil ihr unbewusstes Abstimmungsmuster mit dem ihres Partners zusammenpasste und sie in dieser Passung etwas fühlen konnte, wozu sie sonst keinen Zugang hatte. Dafür nahm sie auch Respektlosigkeit, Grenzüberschreitung und Unehrlichkeit in Kauf, denn meldete er sich abends bei ihr zum Kuscheln oder Sex, gelang es ihr nicht, das abzulehnen, selbst wenn sie sich das tagsüber vorgenommen hatte. Was dahinter steckte, erläutere ich im Abschnitt zu Stufe 2.

Auf Stufe 1 erleben wir Himmel und Hölle. Wenn etwas zueinander zu passen scheint und wir in unserem Gegenüber endlich den Partner finden, der uns ergänzt, uns bestimmte Erfahrungen ermöglicht oder erspart, die wir alleine nicht erreichen oder mit denen wir nicht zurechtkommen, und wir uns auf einer Ebene endlich angekommen fühlen, gibt es wahrscheinlich kaum eine größere Erleichterung, keinen tieferen Rausch und keine intensiveren Schmetterlinge im Bauch. Wir wollen jemanden und zwar so ganz. Und zu wollen an sich gibt uns Energie und Lebenskraft. Aber da die Passung auf unbewussten Mustern beruht, ist sie auch extrem störanfällig. Sie erfordert relativ rigide Übereinstimmungen und eine unbewusste Abmachung die sagt „Wenn du so zu mir bist, bin ich so zu dir.“ Das heißt, im Denken ist mein Gegenüber für meine Gefühle verantwortlich. „Du machst mich glücklich/unglücklich“. Das lässt wenig Raum für Andersartigkeit oder Veränderung, erfordert unter Umständen die Kapazität, alles zu verdrängen, was nicht in’s Idealbild passt und ist manchmal sogar gefährlich. Denn die Ängste, die auftauchen, wenn es nicht mehr passt, können so intensiv sein, dass wir sie mittels Gewalt und Druck auf den Partner ausagieren, damit der andere endlich wieder so tickt, wie wir uns das vorgestellt haben, als wir uns verliebt hatten.

Ein Aspekt von Stufe 1 ist auch, dass wir einander eher in den traditionellen Rollen als Mann und Frau begegnen und begehren, als in den wirklichen Eigenheiten als Person. Martin Ucik hat in seinem Buch Integrale Beziehungen von „primären Phantasien“ gesprochen, die beschreiben, welche Eigenschaften Männer und Frauen auf Basis des Fortpflanzungstriebs aneinander heiß finden. Demnach stehen Männer auf alles, was auf Fruchtbarkeit und Gesundheit hinweist und die Chancen auf gesunde und kräftige Kinder anzeigt, also das Alter, das Verhältnis zwischen Hüfte und Taille, die Struktur der Haare und Beschaffenheit der Haut. Frauen finden an Männern alles scharf, was auf die Kapazität hinweist, Ressourcen zu generieren. Dazu gehören Körperkraft, Status, das Einkommen, aber auch Eigenschaften wie Souveränität und Humor, da diese Zuversicht signalisieren und damit indirekt versprechen, dass der Mann in der Lage ist, den materiell sicheren Rahmen für Nachwuchs zu schaffen, der mindestens 3 Jahre Stabilität verschafft. Auch das ist in der Regel unbewusst und offensichtlich sehr reduktionistisch und oberflächlich. Aber es ergibt Sinn und es wirkt. Phantasien wie „50 Shades of Grey“ und „9 1/2 Wochen“ basieren auf den primären Phantasien von Frauen, die meiste Pornographie auf der von Männern.

Für die Polarität bedeutet das, dass mit der passenden primären Phantasie und unbewussten Passung die Leidenschaft sehr intensiv sein kann. Wir geben für das Zusammensein Grenzen und Eigenarten auf und fühlen uns gewissermaßen „symbiotisch“ verbunden. Als Mann kann ich eine Frau unendlich begehren und dafür ganz viel in Kauf nehmen, was ich in ruhigem Zustand nicht hinnehmen würde. Dieses Wollen kann für mein Gegenüber so erregend sein, dass sie Lust hat, sich dem ganz hinzugeben, ebenfalls unter Aufgabe bestimmter Eigenarten und Grenzen. So lange die Vorstellung der Symbiose und die unbewussten Deals funktionieren („Wir sind eins“), fühlt sich das sehr aufregend und schön an. Aber da die Unbewusstheit eben bedeutet, dass eigene Grenzen und Wünsche nicht klar sind, kann das natürlich total schief gehen. Im einen Moment war es dann noch schön, sich gegenseitig herauszufordern oder nach einem „Nein“ noch weiter zu gehen, im nächsten fühlt es sich plötzlich ganz schrecklich an. Und der andere, der einen so glücklich „gemacht“ hatte, wird plötzlich zur größten Enttäuschung oder sogar Bedrohung.

Für den Sex bedeutet das oft, dass er gemieden wird, wenn der Punkt der Symbiose überschritten ist. Von Verliebtheit wird oft gesagt, dass sie nicht länger als 6 Monate anhalten kann. Ich würde sagen, dass das für Stufe 1 gilt, denn länger halten wir in der Regel die Illusion der absoluten Passung nicht aufrecht. Zumindest wird sie brüchig und die Lücken sorgen dafür, dass wir uns nicht mehr in die Polarität fallen lassen, denn sowohl im maskulinen als auch im femininen Pol brauchen wir Vertrauen. Als Mann möchte ich mit meinen Impulsen Lust entfachen, nicht weh tun. Das heißt, ich brauche Vertrauen, dass ich Wünsche und Grenzen mitgeteilt bekomme, die ich nicht selber erahnen kann. Wenn eine Frau sich hingibt, braucht sie Vertrauen, dass sie ernst genommen wird, wenn wirklich etwas über ihre Grenzen geht. Gelingt das nicht, kann es immer noch sein, dass wir weiterhin Sex haben, aber ohne wirkliche Nähe und mit Hilfe von Substanzen oder Phantasien. Frauen erfüllen ihre „ehelichen Pflichten“ oder erhoffen sich vom Sex, dass der Mann besser gelaunt ist und sie versorgt. Männer erleben vielleicht eine kurzfristige Entspannung dabei, aber es fließt keine Energie zu ihnen, die sie öffnet und sich lebendig fühlen lässt. Früher oder später entsteht ohne Weiterentwicklung der Eindruck, sich auf den „falschen“ Partner eingelassen zu haben. Das Problem lösen die meisten mit Affären, mit einer Trennung, oder, wenn die existenzielle Abhängigkeit zu groß ist, mit asexuellem Zusammenleben. Unter Umständen aber taucht auch der Impuls auf, wirklich verstehen zu wollen, was da eigentlich passiert.

Du bist du und ich bin ich

Die zweite Stufe in Deidas Entwicklungsmodell nenne ich „Verantwortung und Grenzen“. Auf ihr geht es um eine klare Differenzierung zwischen Ich und Du, so dass wir uns nicht in der Verbundenheit miteinander verlieren. Denn es ist wahrscheinlich keine Überraschung, dass wir aus den unbewussten Deals nur herauskommen, wenn wir uns Klarheit darüber verschaffen, nach welchen unbewussten Mustern wir uns unseren Partner ausgesucht haben und wie wir uns selbst um die dahinterliegenden Sehnsüchte und Bedürfnisse kümmern können. Auf eine Weise könnte man sagen, dass alle Arbeit, die den Sinn hat uns zu bewussteren, erwachseneren und verantwortungsvolleren Menschen zu machen, mit Stufe 2 zu tun hat. Das ist mitunter ein langer und steiniger Weg, der viel Reflexion und Selbsterfahrung erfordert und von viel Verwirrung, Leid und wiederholtem „Nein, so geht’s nicht“ geprägt sein kann. Ist der Leidensdruck auf Stufe 1 nur hoch genug, weil die unbewusste Passung immer wieder zu Enttäuschungen geführt hat, wirkt das jedoch alternativlos.

Für sexuelle Beziehungen ist auf Stufe 2 vor allem die Freiwilligkeit und der Konsens entscheidend. Da der Leidensdruck, der uns animiert, uns über Stufe 1 hinaus zu entwickeln, vor allem aus Verletzungen, Enttäuschungen, Übergriffen und Resignation entsteht, brauchen wir eine scharfe Wahrnehmung dafür, wo wir anfangen und wo wir aufhören, um mitzubekommen, wann wir uns wieder in Gefahr bringen. Das bedeutet auch, dass wir erkennen müssen, an welchen Stellen wir uns auf unbewusste Deals eingelassen haben, weil wir etwas davon haben, was wir uns alleine nicht zu geben vermögen. Das ist oft nicht so einfach, denn die Konfrontation mit einem Deal verdeutlicht auch die Herausforderung, wirklich erwachsen und eigenständig mit unseren Wünschen umzugehen und sie anderen nicht aufzudrücken. Ich muss also bereit sein, der mitunter lang in meine Kindheit zurückreichenden Entbehrung die Stirn zu bieten, sie zu fühlen und zuzulassen, ohne mir oder anderen etwas anzutun. Erst wenn ich meinem Gegenüber die Freiheit zugestehen kann, Nein zu sagen, ohne dabei in Panik zu geraten, kann ich selbst ruhigen Gewissens eine Grenze setzen und jemanden enttäuschen. Und die Fähigkeit zu enttäuschen ist unverzichtbar, wenn ich mich nicht verlieren will. Wer einmal bewusst erkannt hat, was es bedeutet, sich zu verlieren und/oder mit jemandem zu leben, der sich verloren hat, erkennt in der Grenze ein höheres Gut als in einem Ja, dessen Preis zu hoch ist. Das macht Enttäuschungen erträglich und vertretbar.

Ein Gradmesser für diese Fähigkeit lässt sich auch in der Beziehung zu den Eltern ablesen, egal, ob sie noch leben oder wir sie nur noch als inneres Bild (Introjekt) mit uns herumtragen. Die Eltern zu enttäuschen konfrontiert uns nämlich mit genau dem Abgrund, gegen den wir uns mit unseren Abstimmungsmustern unbewusst abgesichert haben. Bange Fragen wie „Was wenn wir uns mal wirklich zoffen?“, „Kann meine Mutter überhaupt alleine zurechtkommen, ohne zu sterben?“, „Wie überlebe ich das nächste Weihnachten, wenn ich jetzt die Wahrheit sage?“ geben einen Indikator dafür, an welchen Stellen wir noch nicht in Stufe 2 gelangt sind, weil wir die unbewusste oder auch reale existenzielle Abhängigkeit von den Eltern noch nicht gelöst haben.

Die zitierte Klientin beispielsweise entdeckte mit der Zeit, wie ihr Empfinden, in den Armen ihres Partners „wertvoll“ zu sein, davon geprägt war, wie sie gelernt hatte, den Kontakt zu ihrer Mutter zu regulieren. Ihre Eltern hatten sich früh getrennt und sie hatte eine fürsorgliche Rolle für ihre beiden jüngeren Geschwister und ihre Mutter übernommen. Unbewusst hatte sie in einem kritischen Alter registriert, dass ihre Mutter keinen Raum für die Bedürfnisse der Klientin hatte, wenn sie nicht direkt in ihren Kram passten. Stattdessen war die Klientin gewohnt, umgestimmt oder übergangen zu werden, wenn sie etwas Eigenes wollte. Um diese Spannung zu vermeiden hatte sie gelernt, sich nützlich und hilfreich zu machen, um so wenig Ärger wie möglich zu erleben und die Beziehung zur Mutter stabil zu halten. Erst wenn ihr das gelang, konnte sie sich entspannen. Dies übertrug sie unbewusst auf ihre Beziehung, denn da ihr Partner immer wieder Anlass dazu gab, dass man ihm helfen und um seine Beachtung kämpfen musste, konnte die Klientin diese Rolle auch mit ihm leben. In seinen Armen zu liegen war dann die Bestätigung, dass ihr unbewusstes Muster funktionierte und sie beruhigt sein konnte.

Im Prinzip wäre das der Moment gewesen, an dem sie ihre eigenen Wünsche und Pläne hätte verfolgen können, aber so weit kam sie innerhalb der Beziehung nie. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass das kein Zufall war. Hätte sie wirklich Raum für sich bekommen, hätte sie sich fragen müssen, was sie wirklich wollte. Und damit wäre sie in Territorium vorgestoßen, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt immer gemieden hatte, auch um keinen Konflikt mit ihrer Mutter zu bekommen. Die Schwierigkeiten mit ihrem Partner boten dazu eine unbewusst willkommene Ablenkung, denn bei all der Regulation blieb kein Raum dafür, dass die Klientin sich wirklich auf sich konzentrieren konnte. Und damit konnte sie auch die Herausforderungen bannen, die ein selbstbestimmtes Leben mit all seinen Komplikationen bereitet hätte. Erst als sie dies erkannte, beschloss sie, sich von ihrem Partner zu trennen und blieb auch dabei.

Stufe 2 ist im besten Sinne das Ergebnis unserer humanistischen Weiterentwicklung im letzten Jahrhundert, die jedem Menschen ein eigenes, selbstbestimmtes Leben ermöglichen will. Dass wir für eine sexuelle Beziehung Konsens als notwendige Bedingung definieren ist noch nicht lange und längst nicht überall selbstverständlich. Man bedenke nur, dass der Tatbestand der Vergewaltigung in Deutschland bis 1997 (!) nur für außereheliche Beziehungen galt. Und bei allen Auswüchsen der #metoo-Bewegung, die an Selbstjustiz und Rache grenzen können, bin ich über den Kern der Bewegung sehr froh: Bewusstsein für die Sicherheit und Achtung von Grenzen und Integrität von Seele und Körper.

Es gibt nur leider einen Haken: wenn zwei Menschen selbstbestimmt, abgegrenzt und verantwortungsvoll nebeneinander stehen entsteht keine erotische Polarität. Für den Funken braucht es gewissermaßen die Bereitschaft, dass etwas „überspringt“, dass eine Grenze sich auflöst, und der Wille des einen zu dem des anderen wird. Penetration ist inhärent grenzüberschreitend, Hingabe immer an etwas Anderes, was ich in mich hineinlasse. Und damit meine ich gerad nicht nur die offensichtliche Öffnung der Frau, denn auch der Mann lässt über das Herz die Energie der Frau in sich hinein, wenn er die Polarität zulässt. Wie kriegen wir das hin, wenn wir gleichzeitig alles selber machen wollen?

Ich kann mich an eine Falschmeldung im Internet erinnern, laut der das schwedische Parlament ein Gesetz erlassen hätte, nach welchem jeder Schritt bei einer sexuellen Begegnung, zu dem keine verbale Zustimmung erfolgt sei, als Vergewaltigung gewertet werden könne. Dazu gab es empört-hämische Kommentare von hauptsächlich Männern, die meinten, das ganze ginge zu weit, denn damit sei jede Spontaneität und Erotik gestorben. Ich verstehe die Empörung als Ausdruck von Überforderung, denn Stufe 2 erfordert wesentlich mehr Bewusstheit als Menschen auf Stufe 1 aufbringen können. Und Überforderung killt die Lust. Da das auch für Frauen gilt, die um ihre Sicherheit fürchten müssen, könnte man das einen fairen Deal nennen und die Herren auffordern, ihre Hausaufgaben zu machen. Aber nicht nur. Denn auch wenn die Schweden dieses Gesetz nie verabschiedet haben, ist diese Phantasie doch Ausdruck der Extreme von Stufe 2, die wiederum einen Leidensdruck und Anlass zur Weiterentwicklung schaffen. Im Prinzip erfordert die erotische Polarität eine Aufgabe von Grenzen, während Stufe 2 gerade das Ziehen von Grenzen fordert. Dieser klassisch-hegelianische Widerspruch einer These und einer Anti-These ruft nach einer Synthese auf höherer Ebene. Und hier kommt Stufe 3 ins Spiel.

Konsens zum Nicht-Konsens

Ich nenne diese dritte Stufe „Konsens zum Nicht-Konsens“, denn genau wie Stufe 1 erlaubt Stufe 3 Unterschiede und verschiedene Rollen, wodurch Reibung und erotische Spannung entstehen können. Konkret heißt das, dass wir auf Stufe 3 in jedem Moment darauf achten, was die Spannung erhält oder erhöht. Zwischen Mann und Frau kann das z.B. folgende Situation ergeben:

Es ist 18:37h und er passt sie an der Wohnungstür ab, als sie von der Arbeit nach Hause kommt. Er überrascht sie mit einem intensiven Zungenkuss. Ihr ist das ein wenig zu schnell, aber sie hält sich genug, dass sie nicht in Schreck oder Empörung verfällt. Stattdessen gibt sie ihm spielerischen Widerstand und sagt „Schatz, ich liebe es, deinen Drang zu spüren, aber ich fänd’s ganz gut, erstmal anzukommen.“ Er spürt einen kurzen Stich der Enttäuschung, hält den aber und erwidert „Ich weiß noch nicht, ob ich das erlauben kann.“ Sie grinst und sagt „Darf ich? Bitte?“ Darauf er, ebenfalls grinsend „Es sei dir vergönnt… aber ich schau dir zu!“ worauf sie lachend mit „Ich weiß gar nicht, wie ich mich dabei konzentrieren soll…“ antwortet und im Bad verschwindet. Er geht ihr hinterher, stellt sich nah hinter sie und knabbert an ihrem Nacken, während sie sich abschminkt. Sie hält inne, stöhnt ein bisschen und sagt „Ich weiß nicht, wie ich so fertig werden soll…“ Er macht weiter, lässt aber immer wieder kurz Raum dafür, dass sie den nächsten Schritt macht. So dauert es etwas länger als sonst, aber sie spürt ihn die ganze Zeit als wollende und begrenzende Kraft, was die erotische Spannung erhält und erhöht. Als sie fertig ist, dreht sie sich um, küsst ihn auf den Mund, grinst und sagt „Ich verhungere fast, hast du was zu essen gemacht?“ Er schluckt kurz, weil er für einen Moment glaubt, er sei dafür verantwortlich, wenn er schon Lust auf sie hat, hält die Angst jedoch und raunt, dass sie mit dem Vorspiel beginnen könnten, während das Sushi kommt, das er gleich bestellen will. Sie spürt darüber, dass er Raum und Präsenz für sie hat, ohne den Kontakt zu seinem Wollen zu verlieren und lässt sich tiefer in den femininen Pol fallen…

An der Oberfläche kann das so aussehen, als wäre das Verhältnis nicht von einer Stufe-1-Beziehung unterscheidbar. Jedoch die Entwicklung durch Stufe 2 sorgt für entscheidende Unterschiede, die nur im Gespräch und in kritischen Situationen offensichtlich werden können. Zur Erinnerung: Auf Stufe 1 sind schnell Störungen und Entgleisungen möglich, wenn ein Partner gerade an seine Grenzen kommt, auf eine alte Verletzung stößt, oder ein Thema noch nicht überblickt. In der Beispiel-Situation sind das die Momente, in denen etwas zu viel oder enttäuschend sein könnte, die beiden sich darin jedoch halten und in’s Spiel zurück kommen können. Die Kompetenzen, die Männer und Frauen auf Stufe 2 erwerben, erlauben ihnen an solchen Stellen bewusst Verantwortung zu übernehmen und ihre Ressourcen zu nutzen, um sich um sich selbst zu kümmern, ohne dass sie dafür komplett aus dem Kontakt gehen müssen. Diese Fähigkeiten vermitteln Vertrauen, einmal für sich selbst, aber auch dem Partner, denn dank ihnen können wir uns in all unserer Komplexität zeigen, ohne vom Gegenüber zu erwarten, dass es unsere Arbeit übernimmt. Damit löst sich die existenzielle Abhängigkeit auf, von der Stufe 1 so geprägt ist. Und ohne diese Abhängigkeit können wir auf Augenhöhe miteinander spielen.

Deida beschreibt Stufe 3 als hingebungsvolles Spiel mit den Polen, ohne dass wir damit voll identifiziert wären. Wir können für eine Zeit Rollen einnehmen, von denen wir wissen und spüren, dass es Rollen sind, von denen wir uns wieder lösen können. Frei nach dem Motto: „Wenn ich weiß, dass es ein Spiel ist, macht es Spaß, mich auf meinen Körper reduzieren zu lassen. Ich will dann nur das eine sein, auch wenn ich weiß, dass ich noch ganz vieles andere bin.“ Diese Qualität des Spiels ist aber nur möglich, wenn ich genug Klarheit über mich und mein Wollen habe, dass ich mich wiederfinde, während ich in der Rolle bin bzw. nachdem ich wieder aus ihr herauskomme.

Dieses Meta-Bewusstsein erlaubt auch Extreme in der Polarität, bei denen die Person im femininen Pol sich vollkommen hingibt, keine eigenen Impulse mehr ausdrückt, sondern sagt „Tu mit mir, was du willst“. In diesem Zustand lässt sie ihr eigenes Maskulines komplett los und ist für eine Weile in einem unfassbar offenen und fließendem Zustand, nur in der Hingabe an die Impulse vom Gegenüber. Dieser Zustand erfordert allerdings die temporäre Aufgabe ihrer Fähigkeit, sich und ihre Umgebung zu strukturieren. Währenddessen behält die Person im maskulinen Pol die komplette Übersicht und Präsenz für die Situation. Sie ist offen für die Impulse, die in ihr spontan und wie von woandersher geführt erscheinen und drückt sie genau dort aus, wo es der Spannung dient und ihr Gegenüber herausfordert und begrenzt. Das wiederum erfordert die temporäre Aufgabe der Fähigkeit, selbst zu zerfließen und mit den eigenen Gefühlen zu gehen. Sofern beide wissen, dass sie sich, sollte es wirklich eine Grenze geben, gut um sich kümmern und jederzeit mit dem Respekt und der Kooperation des Gegenübers rechnen können, kann das ein exquisiter Zustand sein, der über Stunden am Stück Spaß und Lust bereiten kann.

Damit will ich nicht sagen, dass erotische Polarität jemals komplett sicher wäre. Es ist ja gerade der Kitzel, sich auf etwas „Fremdes“ einzulassen, etwas „anderes“, der Erotik so aufregend und lustvoll macht. Der koreanisch-deutsche Philosoph Byung Chul-Han drückt das in seinem Buch Agonie des Eros so aus, dass die narzisstischen Versuche in unserer Gesellschaft, Unterschiede auszumerzen, und dadurch Spannung zu reduzieren, darin resultieren, dass uns der Eros abhanden kommt. Er muss fremd und chaotisch sein, damit wir etwas zu entdecken haben. Das heißt, für mich drückt Stufe 3 auch die Erkenntnis und Bereitschaft aus, dass Chaos zum Leben dazu gehört und sich ab einem bestimmten Punkt nicht reduzieren lässt. Ich finde das enorm hilfreich, denn, wenn ich weiß, dass ich das Risiko in einer Begegnung nicht weiter reduzieren kann, erwarte ich von mir auch nicht, dass ich das muss. Es ist ok, wenn etwas schief geht, anders läuft als erwartet oder mich umhaut. Ich komme da wieder heraus, kann die Fahrt genießen und den nächsten Impuls setzen.

Ich glaube nicht, dass die Entwicklung zwischen Stufe 1 und 2 wirklich vollständig abgeschlossen sein kann und muss, bevor wir Zugang zu Stufe 3 haben können. Trotz gewisser narzisstischer Größenphantasien glaube ich nicht, dass ich mit der Entdeckung meiner unbewussten Muster jemals gänzlich fertig sein könnte. Aber das ist vielleicht auch nicht nötig. Es reicht, wenn es „gut genug“ ist und ich Überblick darüber habe, was ich will und was nicht, so dass ich dafür Verantwortung übernehmen und es vertreten kann. Das geht nicht mit jedem gleich gut, aber danach kann ich entscheiden, mit wem und wie ich leben will.

Verwirrungen auflösen

Ich hoffe, dass die Beschreibung der drei Stufen aufzeigen kann, dass das Zitat vom Anfang und die von mir erlebten Doppelbotschaften einer Mischung aus Stufe 1 und 2 entspringen und deswegen so widersprüchlich scheinen. Sie sind einerseits Ausdruck der unbewussten Hoffnung, ein passendes Gegenüber möge uns die Ängste und Unsicherheiten ersparen, die mit unseren Abstimmungsmustern einhergehen. „Mrs. oder Mr. Right“ müssten doch dafür sorgen, dass erkennbar ist, was wir wollen, ohne dass wir das selber spüren, ausdrücken und mit der Reaktion umgehen müssen. Und das betrifft sowohl Männer als auch Frauen. Zu einer Doppelbotschaft führt hier verwirrenderweise, dass die Enttäuschungen von Stufe 1 uns dazu bringen, Stufe 2 wertzuschätzen und erreichen zu wollen. Wir identifizieren uns z.B. als feinfühliger, empathischer Mann, der Grenzen achtet und nichts ohne Erlaubnis seines Gegenübers tut oder als selbstbewusste, eigenständige Frau, die sich selbst genug ist. Dann aber wissen wir nicht, wie wir mit der Polarität umgehen sollen. Das drückt sich z.B. darin aus, dass Frauen auf Stufe 2 Augenhöhe und Respekt total wichtig finden, sexuell aber von Männern angezogen werden, die etwas Fremdes oder Gefährliches für sie haben und mitunter überhaupt keinen Respekt zeigen. Genauso können Männer darauf bestehen, dass die Beziehung auf Augenhöhe sein muss, sich jedoch von Frauen angezogen fühlen, die ihnen die Führung überlassen und sich hingeben, ob sie wollen oder nicht.

Ohne von Stufe 3 zu wissen, kommt einem das wie ein unauflösbarer Widerspruch vor, als würde einen der Körper verraten und daran hindern, ein Ideal zu leben. So können wir auf Stufe 2 dazu verführt werden, die Polarität auch wieder in unbewussten Deals zu suchen, da uns die bewusste Begegnung auf Augenhöhe zu langweilig erscheint, selbst, wenn wir sie ethisch und politisch noch so richtig finden. Dieser Move zu Stufe 1 kann innerhalb bestimmter Grenzen auch gut gehen, jedoch wird die Unbewusstheit früher oder später dafür sorgen, dass wir wieder an Abgründe oder Sackgassen geraten, die nur mit innerer Arbeit und Verantwortungsübernahme klar werden. Wir kommen für eine erfüllte Beziehung an Stufe 2 nicht vorbei. Und für erfüllten Sex auf Basis einer erfüllten Beziehung, sehe ich auch keine Alternative zu Stufe 3.

Kritische Auseinandersetzung

Zum Abschluss möchte ich noch eine Differenzierung zur kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeit David Deidas einbringen, ohne den Anspruch zu erheben, diese komplett durchdrungen zu haben. Sollte ich Deida damit Unrecht tun, tut mir das leid. Für Hinweise bin ich dankbar.

Als ich Deidas Arbeit kennenlernte, stießen mir zwei Dinge auf, von denen das eine das andere erklärt. Zum einen sagte er in der Aufnahme eines Seminars, das sein Fokus ganz betont nicht dabei liege, Stufe 2 tiefer zu behandeln, weil das das Feld der Therapeuten und Heiler sei, die sich auf eine andere Arbeit konzentrierten als er. Er betonte, dass es ihm um Kunst ginge und Kunst sei auch möglich, wenn man völlig kaputt und fragmentiert sei. Ich kann nicht wissen, warum er das sagte, aber in meinen Ohren klang das wie eine Entwertung von Stufe 2, zumindest aber eine krasse Vernachlässigung darin, aufzuzeigen, wie wichtig Stufe 2 ist, um eine vertrauensvolle Basis frei von Missbrauch für die intensiven Polaritäten auf Stufe 3 zu bilden. Diesen Aspekt zu vernachlässigen weckt in mir nicht gerade Vertrauen.

Zum anderen erschien mir die Orientierung für Stufe 3 in Deidas Buch Der Weg des wahren Mannes darin zu bestehen, bestimmte Perspektiven einzunehmen, Prinzipien zu befolgen und Eigenschaften zu entwickeln. Nach meiner Beschreibung der drei Stufen, dürfte klar sein, dass das bestenfalls zu einer Veränderung innerhalb Stufe 1 führen kann. Es beinhaltet keine Verletzlichkeit, keine Offenheit und keine Konfrontation des eigenen Abgrunds, die alle auf dem Weg zu Stufe 2 notwendig sind. Im Gegenteil, diese vereinfachte Orientierung verstärkt die Überzeugung auf Stufe 1, durch die Einnahme der „richtigen Rolle“ in die Polarität zu kommen und verschärft genau das Problem, aus dem ich auf Stufe 1 gerne herausgekommen wäre. Und genau so hab ich es damals auch aufgenommen: Als Anleitung dafür, eine Frau anzuziehen, die ich attraktiv finde, indem ich anders bin, als ich wirklich bin. Das widerspricht vollkommen meinem heutigen Verständnis von Stufe 3, ist aber nicht verwunderlich angesichts von Deidas Entwertung von Stufe 2.

Das heißt, wir haben es hier mit einer sogenannten Prä/-Trans-Verwechslung nach Ken Wilber zu tun: nennen wir Stufe 1 „prä-konsensual“, weil sie die Fähigkeiten für bewussten Konsens vermissen lässt und Stufe 3 „trans-konsensual“, da sie Konsens mit einbeschließt, aber darüber hinausgeht, so wirken Verhaltensweisen von beiden Stufen unter Umständen „nicht-konsensual“. Ohne scharfe Kriterien für den Unterschied von prä und trans kann man sie also leicht verwechseln. Konkret heißt das, dass wir einerseits eine missbräuchliche Stufe-1-Beziehung zu einer spirituellen Stufe-3-Beziehung erheben können, andererseits eine wirklich bewusste und spielerisch wilde Stufe-3-Beziehung auf eine missbräuchliche Stufe-1-Beziehung reduzieren können. Und wenn David Deida von Kunst spricht, klingt das in meinen Ohren wie ein offenes Tor zur Erhebung von Stufe-1-Beziehungen und damit nach Legitimierung von Missbrauch.

Unterm Strich ist mir wichtig, Stufe 2 ernst genug zu nehmen, dass die Lust eine Chance hat, auf der Basis echten Vertrauens zwischen zwei Menschen ihre volle Kraft zu entfalten. Die Hausaufgaben für eine bewusste Beziehung können sehr mühsam sein, ohne das man wissen kann, wo man damit landet. Aber die Freude am erotischen Spiel ist um so größer, wenn wir unser Spielfeld so gut kennen, dass wir es riskieren können, etwas ganz Neues zu erleben.