Selbstfürsorge

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

Manchmal werde ich gefragt, wie ich es aushalte in meiner Position als Psychotherapeut von so viel persönlichem Leid, Elend und Schmerz zu erfahren. Ich höre in meinem Arbeits-Alltag von Zeit zu Zeit von heftigen Geschichten, in denen von Gewalt, Gemeinheiten, Grausamkeit und Einsamkeit die Rede ist. Nicht selten sind diese Erfahrungen so verinnerlicht, dass sich meine KlientInnen inzwischen (meist unbewusst) längst selbst antun, was ihnen angetan wurde. Und um ehrlich zu sein, manchmal halte ich es nicht aus. Manchmal verdränge ich, werde taub oder rette mich in rationale Distanz. Ich versuche die Übersicht zu behalten, tröste mich mit den Möglichkeiten der Entwicklung und Heilung und hoffe auf Besserung über die Zeit hinweg. Aber im gegenwärtigen Moment bin ich manchmal überwältigt.

Das mitzubekommen finde ich gar nicht so einfach. Zuweilen merke ich es erst nach Wochen, manchmal schon direkt nach einer Stunde, in der etwas sehr Intensives zur Sprache kam. Es kann sich anfühlen, als sei die Welt etwas weiter entrückt, meine Sinne benebelt oder verschlossen. Innerlich sage ich mir, das zu halten sei meine Rolle, dafür sei ich ausgebildet und würde dafür bezahlt. Ich sage mir, ich dürfe nicht davor einknicken. Damit einher kann die bange Frage gehen, wie ich diese Aufgabe erfüllen sollte, wenn ich mir eingestünde, dass mich der Schmerz so einnimmt. Solch ein Zweifel kann nicht nur mein Einkommen bedrohen, sondern auch das Sinn-Erleben in der Arbeit, für das ich im Allgemeinen sehr dankbar bin.

Aber zuweilen nimmt der Schmerz mich ein. Und wie soll er das auch nicht tun, wenn ich wirklich offen für das bin, was meine KlientInnen mir erzählen? Es prallt nicht an mir ab, wenn ich erfahre, wie einsam, wütend, traurig und verletzt Menschen sein können. Wie festgefahren in Situationen, die unbefriedigend oder existenziell bedrohlich sind. Wie Menschen ein Leben führen können, bei dem der Tod wie eine Erleichterung erscheint: endlich Freiheit von der Last des Schmerzes über innere und äußere Konflikte und der Verantwortung, sie lösen zu müssen, wenn etwas anderes, besseres passieren soll. Zuweilen erfahre ich, wie erbarmungslos Menschen einander (und auch sich selbst) benutzen, um ihre eigenen Abgründe, tiefsten Ängste und Verletzungen nicht fühlen zu müssen. Wie eingeschränkt die Sicht sein kann, völlig entrückt von jeglichem Mitgefühl, weder für sich selbst noch andere. All dies kann schwer auf meinem Herzen liegen und fragt nach einem reifen Umgang.

Im Artikel zum Thema Auftrag habe ich beschrieben, wie wichtig ich es in helfenden Berufen wie dem meinen finde, klar zu unterscheiden, was meine KlientInnen in der Therapie erreichen möchten und können, gegenüber dem, was ich für möglich oder richtig halten könnte. Dass es zum einen zu einem ethischen Umgang, aber auch zur Selbstfürsorge gehört, zu erkennen, ob ich als Therapeut meine Kindheitserfahrungen auf mein Gegenüber projiziere und versuche, den Jungen, der ich war, stellvertreten durch eine Klientin oder einen Klienten, indirekt zu trösten. Erkenne ich das nicht, kann ich mich in diesem Versuch verausgaben und sowohl meinen Klienten als auch den Jungen in mir verfehlen. Denn wirklich trösten kann ich mich nur, wenn ich Kontakt zu mir habe. Und mein Gegenüber braucht vielleicht etwas ganz anderes, als der Junge, der ich war.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich darüber schreiben, dass zur Selbstfürsorge noch etwas anderes gehört: Raum für den Schmerz, der im Mitgefühl und in der Anteilnahme am Schicksal anderer in mir selbst ausgelöst werden kann, ganz ohne dass es direkt etwas mit meiner Biographie zu tun hätte. Pro forma will ich erwähnen, dass an dieser Stelle im Psycho-Jargon von „Psycho-Hygiene“ die Rede ist. Diesen Begriff mag ich jedoch nicht, da er etwas sehr Steriles hat und die Seele damit wie zum Badezimmer wird, welches man mit Meister Proper zum Glänzen kriegen könnte. Bei der Selbstfürsorge, von der ich spreche, geht es eben nicht darum, dass etwas glänzt, sondern dass es beachtet wird, genau wie es gerade ist – egal wie unordentlich, durcheinander, schmutzig oder bedrohlich es wirken mag.

Die Macht der Aufmerksamkeit

Dieser Raum für den Schmerz, von dem ich dabei spreche, hat etwas sehr einfaches, etwas sehr herausforderndes und auch etwas sehr mysteriöses und wunderbares. Ich erinnere mich an einen Klienten, der in einer Gruppentherapiesession sagte „Der Schmerz ist im Leben nicht vermeidbar, aber es ist die Solidarität miteinander, die ihn erträglich macht.“ Und genau dieses Erleben von bewusster Beachtung für das, was so weh tut, macht diesen Raum aus. Dabei ist heraufordernd dafür zu sorgen, dass es keinen Druck gibt, dass die Dinge anders sein sollten, als sie sind – kein Ziehen, Verzerren, Aufhübschen oder Dramatisieren. Da wir Druck-machen in der Regel unbewusst gewohnt sind, bedarf dies oft einiger Bewusstwerdung und Übung. Reines Gewahrsein für das, was ist, wirkt wie Sonnenstrahlen bei einer Blüte: Die Wärme kann die Lust in ihr wecken, sich von innen her zu öffnen und das Licht zu empfangen.

Wenn ich darüber schreibe, spüre ich, wie mir die Qualität dieses Raumes mit jedem Wort zu entrinnen droht. Es ist ein körperlich sinnliches Gewahrsein dessen, was in genau diesem Moment in meinem Erleben und in meinem Körperempfinden geschieht. Worte können wie Boten sein, die meine Aufmerksamkeit an den Platz schicken, der genau jetzt lebendig ist. Wenn ich diesen Raum in mir aufsuche, geht es jedoch nicht darum, die richtige Sprache zu finden. Es geht um die reine Aufmerksamkeit. Beachte ich mein lebendiges Empfinden genau dort, wo es gerade wahrnehmbar ist, können Worte auch im Weg sein.

Diese Präsenz mit einem anderen Menschen zu erleben, der in dieser Weise anwesend, interessiert und offen ist, ist ein großes Geschenk und kann sehr heilsam sein. Es war Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), der mir darin das erste Vorbild war. Er sprach von Empathie, Mitgefühl, dem Fokus auf dem, was in unserem Inneren lebendig ist und davon ausgehend kreative Ideen darüber, was das Leben wundervoll machen könnte. Und wenn ich ihn in diesem Sinne mit anderen Menschen arbeiten sah und hörte, ist mein Herz sehr schnell warm geworden. Er war sehr treffsicher darin, intuitiv einzuschätzen, worum es seinem Gegenüber gerade gehen könnte, was es wohl fühlen mag und was ihm wichtig sein könnte. Und selbst der intensivste Schmerz konnte auf diese Weise Raum bekommen, sich ausdehnen und dann einer körperlich spürbaren Erleichterung weichen.

Überflutet

Auch Rosenberg hat mit vielen Menschen gearbeitet, die tiefes Leid erlebten oder in bedrohlichen Konflikten steckten. Dabei kam er mit dem gleichen Elend in Berührung, das auch mich immer wieder mal einzunehmen droht: Gewalt, Grausamkeit, Einsamkeit, Verzweiflung, Leere, Hoffnungslosigkeit. An einem bestimmten Punkt auf seinem Weg wurde er auf Joanna Macy aufmerksam, die mit der Entmutigung von politischen Aktivisten befasst war, die aufkam, wenn die Sache, die ihnen am Herzen lag, auswegslos und der Schmerz über die Lage der Welt unüberwindbar zu sein schien. Sie prägte den Begriff der Verzweiflungsarbeit, die anerkennt, dass unser Herz Raum für das Erleben und den Ausdruck von dem Schmerz braucht, den wir fühlen, wenn wir mit schwierigen Problemen und Leid befasst sind. Wenn wir von diesem Schmerz nicht beherrscht werden wollen, brauchen wir einen Bewusstseinsraum, der größer ist, als der Schmerz darin. Der Unterschied lässt sich mit der Frage beschreiben: „Habe ich den Schmerz oder hat der Schmerz mich?“

Ohne diesen Raum für Beachtung und Empathie mit dem Schmerz, kann er sehr mächtig und handlungsleitend werden. Meistens taucht er zunächst unbewusst auf, in passiver Aggression und ich spüre einen Widerstand dagegen, wirklich für jemanden da zu sein oder bürokratische Aufgaben zu erledigen (mehr noch als sonst). Vielleicht spüre ich in Sitzungen auch Druck, etwas erreichen zu müssen und werde ungeduldig mit KlientInnen, wenn sich augenscheinlich nichts bewegt. Wenn ich nicht in Kontakt mit meiner eigenen Lebendigkeit bin, fällt es mir schließlich auch schwer, konzentriert und offen für die Lebendigkeit in meinen KlientInnen zu sein. Der Schmerz kann sich aber auch in Leere äußern, an Stellen, an denen ich mich normalerweise freue. Diese Leere ist das Resultat von Depression, also wortwörtlich das unbewusst aktive Wegdrücken von Schmerz.

Auch der Begriff des Traumas verweist auf einen Zustand, in welchem der Schmerz eher mich hat, als dass ich den Schmerz habe. Einfachere Mechanismen, die wir gegen intensive Bedrohungen mobilisieren können, haben Vorrang vor bewussten, feinsinnigen Antworten auf komplexe Situationen. Wenn ich den Drang spüre, zu kämpfen oder zu flüchten, wenn ich von innen her Nebel spüre, der mich (manchmal angenehm) betäubt oder wenn ich alles in mir mobilisiere, um Frieden in eine Beziehung zu bringen, koste es was es wolle, hat der Schmerz eher mich, als dass ich ihn habe. In seltenen Fällen mag das eine rettende Antwort sein, aber meistens richten wir damit mindestens ebenso viel Schaden an.

Auftauchen und Auftauen

Rosenberg schuf einen Rahmen für den Bewusstseinsraum, der größer als der Schmerz ist, indem er von „Feiern und Bedauern“ sprach und dafür in seinen Intensiv-Workshops ein Ritual vorstellte, das jeden Tag ein fester Programmteil war. In vielen Trainings, Seminaren und Festivals für Gewaltfreie Kommunikation gibt es dieses Ritual auch heute noch. Es lädt dazu ein, ganz im Einklang mit dem eigenen Erleben auszudrücken, was mich heute gefreut und was mich geschmerzt hat. Dabei geht es nicht um eine Veränderung des Zustandes oder der Situation, um eine Wiedergutmachung oder Lösung eines Problems, weil all diese Absichten von dem gegenwärtigen Erleben wegführen können. Es geht darum, dass ich es fühlen und ausdrücken kann und mein Bewusstsein für die Gefühle dadurch größer in mir wird, als meine Gefühle selbst es sind. Auf diese Weise komme ich aus einem Zustand des „überflutet-seins“ heraus, wie als wenn ich endlich den Kopf über Wasser strecken und atmen könnte. Ich werde weiter unten konkrete Hinweise darauf geben, wie das gehen kann.

Rosenberg sprach dabei nicht nur vom Bedauern und von Schmerz, sondern auch vom Feiern, also der Beachtung erfüllenden Erlebens. Ich denke hierbei an das Buch Verletzlichkeit macht stark von Brené Brown, in dem die Autorin darauf hinweist, wie verletzlich wir sind, wenn wir Freude empfinden. Ich bin ihr dafür dankbar, weil ich zuweilen übersehe, wie schwierig ich es finde, ganz bewusst wahrzunehmen, wie wertvoll mir bestimmte Menschen, Dinge und Umstände sind. Und wie schrecklich es wäre, sie zu verlieren! Ich schätze, mehr oder weniger leben wir alle nach dem Motto „Wer auf dem Boden schläft, kann nicht aus dem Bett fallen.“ und meiden von daher die Intensität schöner Gefühle genauso, wie die Wahrnehmung von Schmerz. Nehme ich die Einladung zum Feiern und Bedauern aber wirklich an, werde ich mir bewusst, wie sensibel, feinfühlig, genau, berührbar und verletzlich ich bin. Und die Intensität dieser Erkenntnis kann überwältigend sein.

Gehe ich dieser Überwältigung bis zum tiefsten Grund nach, komme ich fast immer bei der Frage an, wie ich überleben soll, wenn ich wirklich so sensibel bin. Wie soll ich irgendetwas hinbekommen? Ist es nicht offensichtlich, dass ich nur unter der Brücke landen kann, wenn es mir wirklich so geht? Bis zum Ende verfolgt komme ich bei diesem Strang also bei einer Angst vor dem Sterben an – was ihre Intensität erklärt. Aber genau genommen ist das kein Gefühl, sondern ein Gedanke, eine Geschichte, Befürchtung oder Einschätzung meiner Situation. Vielleicht haben andere Menschen mir das vermittelt, vielleicht habe ich es auch selbst einmal so erlebt, daraus diesen Schluss gezogen und ihn verallgemeinert.

Bei vollem Bewusstsein habe ich noch nie erlebt, dass die Intensität von Gefühlen mich wirklich bedroht oder außer Gefecht setzt. Es ist eher das unbewusste Erleben, bei dem ich nicht erkenne, welche Bedeutung die Intensität hat, die mich und meine Fähigkeit, für mich zu sorgen, bedroht hat. Auch darum ist der Bewusstseinsraum, den Feiern und Bedauern schaffen können, so kostbar: er stabilisiert ohne zu betäuben.

Empathie und Selbst-Empathie

Wie schon erwähnt kann es sehr kostbar sein, wenn ich mit jemandem sprechen oder sein kann, der in dieser interessierten und offenen Art präsent mit mir ist. Der GFK-Trainer Kelly Bryson verglich es in seinem Buch Sei nicht nett, sei echt! mit folgendem Bild: Möchte ich wahrnehmen, was in meinem Inneren passiert, sitze ich am Steuer eines Segelbootes, das über das Meer der inneren Erforschung fährt. Kommt jemand in präsenter Haltung hinzu, ist er wie eine leichte Brise, die mir die Bewegung erleichtert. Ich kann es auch alleine machen, aber der erweiterte Bewusstseinsraum kann enorm dabei helfen, so lange kein Druck von diesem Wind ausgeht und ich nach wie vor das Steuer in der Hand habe. Ist letzteres der Fall, macht es eher Stress. Aber eine sanfte Brise kann wie Rückenwind beim Fahrradfahren sein.

Ich erinnere mich, wie ich zu meiner Studienzeit oft einsam war, ebenso oft jedoch eine dumpfe Taubheit darüber lag. Betrat ich einen öffentlichen Bus mit vielen Menschen konnte es sein, dass ich meine Traurigkeit direkt viel deutlicher wahrnahm. Mir kam es vor, dass allein die Anwesenheit von Menschen das Gefühl intensivierte, ganz ohne, dass sich irgendwer mit mir beschäftigt hätte. Ich glaube, dass es mein eigenes Inneres war, das sich regte und angesichts der Anwesenheit eine Chance sah, zum Ausdruck zu kommen und gesehen zu werden.

So wertvoll das Geschenk von Empathie auch sein mag, einfordern können wir es nicht. Selbst bei einer Therapeutin, einem Therapeuten haben wir keine direkte Macht darüber, dass wir diese Art der Begleitung bekommen. Es gibt zwar Netzwerke in der Subkultur der GFK, in denen Menschen über Messenger-Gruppen um Empathie bitten können und nur antwortet, wer gerade wirklich kann und möchte. Auch hat Marshall Rosenberg dazu ermutigt, Beziehungen zu kultivieren, in denen der Austausch von Empathie zum festen Bestandteil gehört – eine Empathie-Hotline sozusagen. Denn Empathie ist ein Bedürfnis, das wir täglich haben. Aber dennoch kann es sein, dass gerade keine Unterstützung zur Verfügung steht, oder dass ich mich selbst um mich kümmern möchte.

In diesem Fall hilft es, das eigene Gewahrsein als Rückenwind erfahren zu können. Dies geht vor allem dann gut, wenn das, worum es gerade geht, einigermaßen bewusst ist. Oft ist es auch teilbewusst und die aufmerksame Wendung nach innen kann es aufdecken.

Feiern und Bedauern

Das Ritual schafft durch die Art der Fragen eine geistige Orientierung, die auch bei teilbewussten Prozessen weiterhelfen kann. Ich kann mich dafür mit jemandem verabreden, mit dem ich im Wechsel teile, was mir wichtig ist. Oder ich kann es auch alleine für mich machen, entweder schriftlich oder geistig im Kopf. Zu schreiben hat den Vorteil, dass ich nicht zu viele Inhalte auf einmal im Kopf behalten muss. Wie auch immer das Setting ist, die Fragen sind folgende:

  • Was genau ist geschehen? Beschreibe eine Handlung, Situation, Wahrnehmung, die heute wichtig für dich war. Sei dabei möglichst genau und unterscheide zwischen konkreten Beobachtungen und deiner inneren Verarbeitung. Das erhöht die Realitätsschärfe.
  • Was spürst und fühlst du dabei in deinem Körper? Dabei ist nicht das „richtige“ Wort entscheidend, sondern ob du mit der Aufmerksamkeit ganz an der Stelle in deinem Körper bist, wo es intensiv und lebendig ist. Bleibe dabei, bis es ruhiger wird.
  • Mit welchem Wert und welcher Lebensqualität verbindest du das Erlebte? Hierbei geht es um das Bewusstsein dafür, wie wir leben wollen, was das Leben wundervoll macht bzw. wie traurig es sein kann, wenn die Qualität in der erlebten Situation gefehlt hat.
  • Nun, da dir Werte und Qualitäten in Bezug auf das Erlebte bewusst sind, wie nimmst du deinen Körper jetzt wahr? Kannst du eine Veränderung, einen Wechsel bemerken?

Ob ich alles erfasst habe, was mit der Situation zu tun hat, merke ich daran, dass ich ruhiger werde und sich ein gewisser Trost und Erleichterung einstellen. Ist das nicht der Fall, habe ich etwas übersehen.

Zur Demonstration möchte ich zwei Dinge aufschreiben, ein Beispiel zum Feiern und eines zum Bedauern, bei denen ich die Fragen in dem Sinne beantworte, wie ich sie meine. Zunächst das Bedauern.

  • Beschreibung der Situation, des Kontextes: Ich erinnere mich daran in einer der letzten Sitzungen erfahren zu haben, dass eine Klientin mit dem Wunsch zu tun hat, sich das Leben zu nehmen. Sie wüsste auch, wie sie das machen könnte, auch wenn sie aktuell keine konkreten Pläne dazu hat. Grundsätzlich wolle sie leben, aber die aktuellen Konflikte in ihrem Leben kämen ihr überwältigend und unlösbar vor.
  • Gefühle im Körper: Ich empfinde dabei Anspannung und eine Art Schrecken. Meine Brust fühlt sich schwer an. Auch eine Betroffenheit macht sich breit. In meinem Kopf bemerke ich Geschichten darüber, welche Verantwortung ich gerade trage. Damit verbunden sind auch Ängste um meine eigene Existenz. Was, wenn sie das wirklich tut? Was geschieht dann mit mir und meiner Zulassung? Ganz abgesehen davon, wie es mich persönlich treffen würde und was mit meiner Freude am Beruf passieren könnte. In meinem Herzen spüre ich Angst um mein Leben und die Art, wie ich es jetzt führe.
    Nach einem kleinen Moment taucht aber auch Traurigkeit auf, tiefe Traurigkeit. „Wie kann das sein!?“ möchte ich fragen. Wieso müssen Menschen so leiden, dass ihnen der Tod wie eine Erleichterung vorkommt? Was ist das für eine Welt, die Menschen in solche Einsamkeit und Verzweiflung treibt?
  • Werte und Lebensqualitäten: Wende ich mich der dritten Frage zu, taucht der Wert auf, Menschen mögen in ihrem Leid nicht alleine sein. Ich möchte, dass Menschen wissen, dass sie von einer tiefen Verbundenheit untereinander getragen sind. Und ich wünsche mir, dass Menschen das ausdrücken und einander wissen lassen. O wie schlimm ich es finde, wenn das fehlt! Und wie kostbar und lebensrettend es sein kann, wenn wir jemanden haben, der in dieser Weise da ist! Auch bemerke ich, dass mir die Unversehrtheit des Körpers kostbar ist. Dass ich möchte, dass der Körper liebevoll gesund erhalten wird. Und dann spüre ich, dass ich gerne meine Arbeit in dieser Weise weitermachen können möchte. Dass ich gerne weiterhin das Vertrauen genießen mag, mit welchem Menschen zu mir kommen, ohne mich zu kennen, nur aufgrund des Titels.
  • Veränderung im Körper: Mit diesen Werten im Bewusstsein spüre ich eine Weite in der Brust. Ich kann wieder schwingen. Ich nehme die Kostbarkeit des Lebens wahr und auch der Gelegenheit, für diesen Menschen in dieser Situation genau das zu sein, was mir so wertvoll ist: ein Botschafter der Verbundenheit und Anteilnahme. Die damit einhergehende Gefahr überrollt mich nicht mehr, sondern ist Ausdruck eben dieser Kostbarkeit. Ich spüre die Intensität, aber sie bedroht mich nicht mehr.

Der letzte Punkt bedeutet nicht, dass die Situation nicht dennoch eine Herausforderung sein kann. Aber ohne die Überflutung ist es mir möglich, damit eine spielerische Haltung einzunehmen, das Herz zu spüren und ihm entsprechend anwesend zu sein. Ich weiß dann noch nicht, was ich im Weiteren tu, aber das Vertrauen, dass aus meinem Inneren schon etwas Passendes kommen wird, ist wieder da. Und das ist sehr beruhigend.

Und nun zum Feiern:

  • Beschreibung der Situation, des Kontextes: Ich erinnere mich daran, wie mir bei einer kürzlich erlebten Sitzung mit einem Paar die Klientin sagte, dass sie nun nach ein paar Sitzungen ausdrücken will, wie überraschend gut ihr die Paartherapie gefalle. Sie habe schon einige Therapieerfahrung und arbeite außerdem in einem Institut für Verhaltenstherapie in der Verwaltung. Sie kenne es so, dass viele TherapeutInnen eine Diagnose stellten, das für die Diagnose passende Manual herauskramten und dies dann abarbeiteten. Das erlebe sie als Abstempeln, in einer Schublade feststecken und nicht wirklich wahrgenommen werden. Genau dies sei mit mir jedoch nicht passiert. Im Gegenteil, es seien ihr sehr viele neue Aspekte ihres Erlebens mit sich und ihrem Partner aufgefallen, sie fühle sich wohl und wolle sagen, dass ich das gut mache.
  • Gefühle im Körper: Bei der Erinnerung empfinde ich zunächst einen Anflug von Überwältigung. Ich bemerke den Widerstand, das Gesagte in all seiner Bedeutung wirklich anzuerkennen. Bleibe ich damit präsent, fällt mir auf, dass es mir Angst macht, solch einer Beurteilung ausgesetzt zu sein. Erkenne ich sie an, gehört auch die Möglichkeit dazu, dass dieselbe Klientin oder jemand anderes, meine Arbeit ganz anders bewertet. Ich spüre diese Angst, halte sie im Gewahrsein und werde damit langsam ruhiger.
    Als die Angst in den Hintergrund tritt, kommt ganz organisch eine Freude zum Vorschein, die sich verletzlich anfühlt. Ich erkenne an: ich habe diese Klientin bis hierhin wahrhaftig gut begleiten können! Und sie hat etwas artikuliert, das mir bezogen auf mein Berufsfeld selbst schmerzlich bewusst ist. Ich erkenne den Impuls, mich arrogant über meine Kollegen erheben zu wollen, wohl auch um mich vor Abwertung und Gefahr meiner Existenzgrundlage in Sicherheit wähnen zu können. Ich nehme die Angst noch einmal in meine Mitte, bis sie sich wieder beruhigt.
    Dann bemerke ich die aufrichtige Berührtheit und Dankbarkeit der Klientin. Und jetzt bin auch ich berührt. Ich spüre Tränen in den Augen.
  • Werte und Lebensqualitäten: Mit der dritten Frage im Sinn wird mir bewusst, wie wertvoll ich die Offenheit finde, mit der Menschen im Kontakt fein und sinnlich erspüren, wer gerade da ist und was gerade wirklich passiert – auch und gerade wenn es sich nicht von alleine direkt zeigt. Diese Qualität der Präsenz und Wahrnehmung, die uns ermöglicht uns wahrlich nicht alleine zu fühlen, ist wohl einer der ersten Gründe, warum ich das Leben lange überhaupt als lebenswert empfunden habe. Es macht mich wach, so einen Kontakt zu erleben, weckt meine Sinne, macht die Lebensenergie spürbar, die mich und alles Lebende durchströmt. Ich spüre, wie sehr das zu erleben mich nährt, wenn es da ist und wie leer und sinnlos alles wirken kann, wenn es fehlt.
    Mir bewusst zu machen, dass ich derjenige in dem bin, was die Klientin berichtet, der dieser Qualität eine Form gegeben und sie für die Klientin erlebbar gemacht hat, erweckt schon fast Ehrfurcht in mir. Ungläubig schaue ich mich an und frage „Wie bitte? Ich?“ Mir fällt der Spruch aus dem Kurs in Wundern ein, der mich daran erinnert, dass es das Licht ist, nicht die Dunkelheit, die mir am meisten Angst macht. Denn wenn ich solche Macht habe, das Leben eines anderen Menschen zu berühren und zu bereichern… müsste ich dann nicht viel mehr damit tun? Verpflichtet mich das nicht dazu, dieses Geschenk so viel und oft zu teilen, wie es nur geht? Hat Superman Freizeit? Darin wird mir auch bewusst, dass das Geschenk nicht erzwungen sein kann, auch nicht durch mich. Es war in diesem Moment mit der Klientin möglich und auch ich empfinde Dankbarkeit, dass diese Kraft durch mich Gestalt annehmen konnte, wo immer sie auch hergekommen sein mag.
  • Veränderung im Körper: Während die Wucht dieser tiefen Bedeutungen noch in meinem Körper hallt, nehme ich wahr, wie tief verbunden und lebendig ich mich fühle. Ja, Energie strömt durch mich durch und findet durch mich Ausdruck. Darin spüre ich auch etwas beruhigendes, denn das heißt ja, dass auch ich von ihr genährt werde. Es muss nicht aus mir herauskommen. Gerade finde ich es phänomenal in dieser Form auf der Welt zu sein.

Schlussbetrachtungen

Ich möchte zum Schluss noch zwei Dinge zum Thema bemerken, die mir wichtig erscheinen. Zum einen habe ich das Ritual des Feierns und Bedauerns lange gemieden, da ich in der Zeit, in der ich es kennenlernte, noch große Angst davor hatte, was an rohen Gefühlen und Zuständen in mir auftauchen könnte, wenn ich diese Fragen ernst nähme und sinnlich erforschte. Stattdessen bin ich die Fragen aus der sicher wirkenden Distanz im Kopf durchgegangen, was entsprechend unergiebig war. Das heißt, es braucht auch Mut, sich in dieser Tiefe darauf einzulassen. Vorbereitend dafür empfinde ich unter Anderem meine Meditationspraxis, in welcher ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf das nicht-sprachliche Gewahrsein von sinnlich erfahrbarem Körpererleben richte. Darin kann es durchaus vorkommen, dass mein Empfinden sehr intensiv wird und mir Impulse kommen, jetzt möglichst schnell etwas zu tun, um die Flutwelle aufzuhalten. Beispielsweise können meine Gedanken zu einer bedrohlichen Situation wandern und ich spüre vor allem Angst bis hin zu Panik. Gerade dann ist es eine neue Erfahrung, wenn ich die Gefühle zulasse und still bleibe, obwohl unfassbar viel passiert. Zu wissen, dass ich das überlebe und die Intensität von alleine auch wieder nachlässt, wenn sie Beachtung findet, ist eine kostbare Erfahrung.

Zum anderen möchte ich noch auf etwas hinweisen, was euch beim Lesen evtl. auch aufgefallen sein könnte: zwar steht vorne Feiern und Bedauern dran, aber es gibt Punkte, an dem die beiden Modi nicht so klar voneinander unterscheidbar sind. Stoße ich beim Bedauern auf die Werte, spüre ich in jedem Fall, wie kostbar mir das Leben ist, was hinter meinen Empfindungen zum Vorschein kommen kann. Und diese Kostbarkeit wahrzunehmen hat auch etwas vom Feiern. Setze ich mich hingegen beim Feiern auch mit den Gefühlen auseinander, die mit der Verletzlichkeit der Freude zu tun haben, kann ich auch auf Traurigkeit, Wut und Angst stoßen. Auch die Wahrnehmung der Werte kann überwältigend sein. Letzten Endes kann ich beides mit dem Satz „Kontakt mit der Energie des lebendigen Lebens aufnehmen“ zusammenfassen, bei dem ab einem bestimmten Punkt gleich-gültig ist, ob es um Erfüllung oder Fehlen derselben geht: beides ist mit dem Herzen spürbar und belebt. Und wenn es gelingt, regelmäßig diesen Kontakt wiederherzustellen, ist im Umgang mit dem Schmerz in der Welt erstaunlich viel erreichbar, ohne dafür auf die Selbstfürsorge verzichten zu müssen.

„Wasch mich, aber mach mich nicht nass“

Neben der Klärung des Auftrags, gibt es einen weiteren wichtigen Maßstab, den ich prüfe, wenn sich Psychotherapie anstrengend und zäh anfühlt: gibt es unbewussten Widerstand? Das heißt, tut der/die KlientIn trotz klarem Wunsch, sich besser zu verstehen, unbewusst Dinge, die den Verstehensprozess hemmen oder verhindern?

Unter Widerstand verstehe ich grundsätzlich eine Abwehr von inneren Erfahrungsbereichen, die die unbewusste Absicht und den Sinn hat, für psychologische Stabilität zu sorgen. Stabilität erlaubt uns, in einem betimmten Rahmen und auf einem bestimmten Niveau relativ gleichmäßig für uns zu sorgen. Wir wissen ungefähr, wer wir sind, was wir wollen, was unser Lieblingsessen ist und wie wir uns in einer Woche oder einem Monat wahrscheinlich fühlen werden, wenn wir uns zu einem Ausflug oder Urlaub verabreden. Auf diese Weise sind wir für uns selbst und andere vorhersehbar und können relativ stabile Beziehungen führen. Da wir jedoch inhärent komplexe Wesen sind und Stabilität im Dienste der Ordnung oft eine Vereinfachung dessen erfordert, wie wir uns selbst sehen, hat diese Stabilität in den meisten Fällen einen Preis: wir nehmen bestimmte Aspekte unseres Selbst gar nicht oder nicht so genau wahr.

Zuweilen besteht die psychotherapeutische Arbeit vor allem darin, diese Abwehr zu greifen und bewusst zu machen, weil alles Weitere an seinen Platz fallen kann, sobald das gelingt. Wenn wir Abwehr als Verzerrrung der Wahrnehmung verstehen, die die für den gesamten Organismus stimmige Orientierung im Leben verhindert, wird klar, warum Bewusstsein so einen Unterschied im Leben macht. Wird die Verzerrung nämlich bewusst, können wir sie in unserer Wahrnehmung berücksichtigen und die Perspektive entsprechend korrigieren. Die resultierende Klarheit kann sich sehr ermächtigend, aber auch sehr herausfordernd anfühlen. Dieser Aufdeckungsprozess kann schnell gehen oder lange dauern, abhängig davon wie versteckt die Abwehr ist, wie viele Schichten und verschiedene Wechselwirkungen die Arten der Abwehr haben und wie intensiv die abgewehrten Gefühle sind.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich vor allem auf die Situation zu Beginn der Therapie eingehen, wenn die Beziehung zwar noch frisch, aber nicht mehr komplett am Anfang ist und basale Prinzipien des Widerstands bewusst werden dürfen.


Beginn der 15. Sitzung, Dienstags 9 Uhr. Die Klientin, 35 jahre alt, setzt sich, der Therapeut sitzt ihr gegenüber. Er sagt nichts und schaut sie aufmerksam an.

Nach ein paar Sekunden beginnt die Klientin verlegen zu kichern und sagt: „Jetzt machen Sie das schon wieder!“

Therapeut: „Was mache ich denn?“

Klientin: „Sie durchdringen mich. Als könnten Sie direkt in meine Seele schauen.“

Therapeut: „Ok… wie mache ich das denn?“

Klientin: „Keine Ahnung, Sie sind doch der Experte.“

Therapeut: „Ich kann Ihnen sagen, dass ich schon sehr verschiedene Menschen so angeschaut habe und bei Weitem nicht alle so reagieren wie Sie. Das heißt, ich vermute, dass Sie da schon irgendwie mitmachen. Können Sie das erkennen?“

Klientin: „Hm… ich weiß nur, dass ich mir schutzlos vorkomme, wenn Sie mich so ansehen. Als gäb’s keine Möglichkeit mehr, mich ich vor Ihnen zu verstecken.“

Therapeut: „Vor mir oder vor sich selbst?“

Klientin: „Wie meinen Sie das?“

Therapeut: „Naja, Sie sind ja hier, weil Sie etwas über sich erfahren wollen. Und Sie wissen auch, dass Sie sich dafür zeigen müssen, sonst habe ich keine Chance, Sie darin zu unterstützen, sich zu verstehen. Wenn Sie sich aber zeigen, sehe nicht nur ich Sie, sondern Sie sehen sich auch. Und unter Umständen gehen Sie nicht unbedingt liebevoll mit sich um, wenn Sie sich sehen.“

Klientin: „Hmmm… so habe ich darüber noch nicht nachgedacht.“

Therapeut: „Das heißt, es könnte sein, dass Sie bei dem, was Sie ‚Durchdrungen werden‘ nennen, vor allem Ihren eigenen Wunsch spüren, sich zu zeigen, während Sie gleichzeitig Angst fühlen, was Sie mit sich anstellen könnten, wenn Sie sich sehen. Und damit das alles nicht ganz so offensichtlich ist, schieben Sie es unbewusst mir und meinem Blick zu.“ Er zwinkert ihr amüsiert zu.

Klientin: „Sie meinen, Sie durchdringen mich gar nicht?“

Therapeut: „Genau. Ich mache Ihnen nichts weiter als ein Kontakt-Angebot. Mir ist bewusst, dass dieses Angebot mächtig sein und unter Umständen viel bewirken kann. Aber dennoch ist es nicht mehr als ein Angebot, das Sie annehmen oder ausschlagen können. Alles weitere verstehe ich als Konflikt in Ihnen: einerseits wollen Sie gerne den Kontakt, andererseits haben Sie Angst vor Verletzung, Missachtung oder Urteil. Natürlich könnte es theoretisch sein, dass ich Sie verletze, aber in diesem Setting ist es wahrscheinlicher, dass Sie das selber tun.“

Klientin: „Wie meinen Sie das?“

Therapeut: „Die meisten Menschen, die in die Psychotherapie kommen, wollen verstanden werden. Das klingt zunächst mal einfach und geradlinig, ist es aber oft überhaupt nicht. Verstanden zu werden erfordert nämlich, sich zeigen und sichtbar werden zu müssen. Ohne Sichtbarkeit ist Verständnis unmöglich, aber sichtbar zu sein öffnet eben auch die Möglichkeit, verletzt zu werden. Und wenn es Anteile in Ihnen gibt, die grob, verurteilend und verachtend mit anderen Anteilen in Ihnen umgehen, dann bekommen diese damit eine Gelegenheit. So kann es sein, dass Sie mir erzählen, wie es Ihnen heute geht und Sie sich im nächsten Moment dafür beschimpfen, wie schwach und unzulänglich Sie sich finden. Und wenn das so ist, kann ich das nicht verhindern, da Sie mit Ihren inneren Urteilen in jedem Fall schneller sind, als ich mit meinem Verständnis je sein könnte.“

Klientin: „Mist, ja… das scheint zu stimmen… was mache ich denn da jetzt?“

Therapeut: „Das kommt darauf an, was Sie wollen.“

Klientin: „Naja, wie Sie ja sagen, ich bin hier, weil ich mich gerne verstehen würde. Aber wenn sich das so brutal anfühlt, habe ich davor ziemliche Angst. Und wenn Sie mich so anschauen, dann spüre ich das sofort. Dann wäre mir manchmal lieber, Sie würden das nicht tun.“

Therapeut: „Was wäre denn dann?“

Klientin: „Dann könnte ich mich wieder vor mir verstecken und es würde etwas ruhiger in mir werden.“

Therapeut: „Ok. Und dann?“

Klientin: „Hmm… dann wäre es ruhig… aber dummerweise würde dann auch nicht viel passieren.“ Sie grinst und schaut zur Seite.

Therapeut: „Merken Sie, dass Sie grinsen?“

Klientin grinst weiterhin: „Ja…“

Therapeut amüsiert: „Was erheitert Sie denn so?“

Klientin: „Naja, ich sehe schon, dass ich mich selber fragen muss, ob es mir das Risiko der Verletzung wert ist, wenn ich hier wirklich weiterkommen will. Und wenn es stimmt, was Sie sagen, dass ich es selber bin, die mich verletzt, dann können Sie mir dieses Risiko auch nicht abnehmen.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen.“


An diesem Punkt ist es den beiden gelungen, bewusst wahrzunehmen, bei wem welche Verantwortung liegt. Für die Klientin ist es zwar unangenehm zu merken, welche Rolle sie selber dabei spielt, aber es ist der einzige Weg, etwas zu ändern, weil nur sie Einfluss auf ihren Widerstand hat und nur ihr Bewusstsein dafür sorgen kann, dass andere Möglichkeiten sichtbar werden. Der Therapeut spiegelt ihr das und bezeugt mit ihr, was passiert, aber außer Hinweisen und Benennen kann er nichts tun. Diese Ohnmacht auszuhalten ist manchmal das wichtigste, was er tun kann, weil er nur so in Kontakt mit der realen Situation der Klientin bleibt. Und angesichts dessen, dass so viele wichtige Handlungsmöglichkeiten unbewusst sind, ist das dazu passende Gefühle wirklich die Ohnmacht. Ohne die bewusste Bereitschaft, das mit zu tragen, läuft er Gefahr, am Widerstand gegen die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit zu wirken und die Therapie dreht sich im Kreis.

Im zweiten Abschnitt der Sitzung soll deutlich werden, welchen Sinn die Abwehr hat und wie man ihr so begegnen kann, dass sie weder gebrochen wird, noch alles beherrscht. Zur Demonstration ist es in diesem Fall relativ einfach und zugänglich. In anderen Fällen kann dieser Prozess sehr lange dauern und oft hin und her gehen, bevor etwas greifbar wird. Auch hier braucht es vom Therapeuten die Bereitschaft, Ohnmacht auszuhalten, denn Verwirrung, Betäubung, Wegdriften und Druck können immer wieder auftauchen, auch im Erleben des Therapeuten, wenn die Abwehr noch nicht deutlich ist.


Klientin: „Ok, soweit verstehe ich es…“ Sie wird still und scheint nachzudenken. Dann schaut sie den Therapeuten an. Sie wirkt aufgebracht und sagt: „Wenn ich das an mich heranlasse, frag ich mich, warum ich so mit mir umgehe! Das ist doch totaler Mist! Ich will mich nicht so behandeln!“

Therapeut: „Ich halte das für eine gute Frage und bin froh, dass Sie sich dafür interessieren. Und ich verstehe, dass Ihnen das nicht gefällt. Ohne den entsprechenden Hintergrund wirkt Ihre Haltung wahrscheinlich wie sinnlose Quälerei.“

Klientin: „Ja, genau! Was soll das denn? Ich meine, ich merke gerade, wie sehr mir das weh tut. Und wenn ich genau darüber nachdenke, würde ich mich von jedem fernhalten, der mich so behandelt.“

Therapeut: „Meiner Erfahrung nach entwickeln Menschen derlei Umgangsweisen mit sich in der Regel, um Schlimmeres zu verhindern oder in Schach zu halten.“

Klientin: „Noch schlimmeres?!?“

Therapeut: „Ja. Viele Menschen versuchen, sich und ihr Leben nach dem Prinzip ‚Wer auf dem Boden schläft, kann nicht aus dem Bett fallen.‘ zu stabilisieren. Der Boden mag hart sein, aber die Fallhöhe ist reduziert.“

Klientin: „Sie meinen… bevor andere mich verurteilen können, mache ich das lieber selber?“

Therapeut: „Ja, zum Beispiel. So weit ich sehen kann, leben Sie quasi nach dem Motto ‚Bevor ich jemandes Lieblosigkeit ohnmächtig ausgesetzt bin, behandel ich mich lieber selber so. Das ist zwar auch nicht schön, aber zumindest habe ich die Kontrolle.‘ Würden Sie sich außerdem spüren lassen, dass Sie einen liebevolleren Umgang mit sich möchten, würde Ihnen vielleicht auffallen, wie kalt es in Ihrem Leben eigentlich ist bzw. war, als Sie klein waren. Und dass Sie evtl. den Weg nicht kennen.“

Klientin: „Puh… ja, da könnte was dran sein.“

Der Therapeut nickt und wartet kurz, bevor er fragt: „Und wie fühlt sich das an?“

Klientin: „Ziemlich heftig… mir wird ein bisschen schwindelig… und flau im Magen.“

Der Therapeut lässt ein paar Sekunden Raum, bevor er sagt: „Ja, das kann ich mir vorstellen. Lassen Sie uns da einen Moment bleiben.“

Klientin: „Muss das sein? Es ist wirklich sehr sehr unangenehm.“

Therapeut: „Wenn es zu intensiv wird, wäre es wahrscheinlich gut, langsamer vorzugehen. Aber die Gefühle, die Sie da gerade wahrnehmen, halte ich für wertvolle Botschafter Ihres Inneren. Ohne die haben wir keine Chance zu verstehen, wo Sie stehen und was Ihnen gut täte.“

Klientin: „Ich weiß gerade nicht, ob ich das überhaupt wissen will, wenn sich das so anfühlt.“

Therapeut: „Ja, es kann heftig sein, wahrzunehmen, wie es wirklich ist. Ich nehme es Ihnen auch wirklich nicht übel, dass Sie davor zurückschrecken. Ohne guten Grund würde das wahrscheinlich niemand in Kauf nehmen.“

Klientin: „Was soll denn daran gut sein? Ich will ehrlich gesagt lieber meinen Frieden…“

Therapeut: „Ja, das verstehe ich. Wenn Sie möchten, sag ich Ihnen etwas dazu, aber ich möchte auch achten, dass Sie sich gerade überfordert fühlen.“

Klientin: „Ja, danke… es geht schon… im Moment zumindest.“ Sie lacht nervös. „Aber ich würde gerne wissen, wie Sie das meinen.“

Therapeut: „Ok, gut. Also ich verstehe, dass Sie den Frieden mögen, aber leider hat er auch seinen Preis. Sie zahlen nämlichn unter Umständen damit, dass Sie sich darin nicht wirklich orientieren können. Das ist so, als würden Sie sagen: ‚Google, bitte entferne alle Seen und Flüsse auf der Landkarte. Die sind mir zu kompliziert, verwirren mich und machen mir Schwindelgefühle.‘ Wenn Sie dann einen Ausflug machen, kann es sein, dass Sie nass werden und absolut nicht verstehen, wie das sein kann.“

Die Klientin lacht, halb amüsiert, halb nervös: „Hmm… das wäre natürlich blöd. Sie meinen also, dass ich verhindern kann, dass ich nass werde, wenn ich diese Gefühle aushalte?“

Therapeut: „Es wäre ein notwendiger Anfang. Die Gefühle auszuhalten verschafft Ihnen Zeit, sich der Gefühle lange genug bewusst zu sein, dass Sie verstehen können, was sie bedeuten könnten. In der Karten-Analogie müssten Sie die Überwältigung aushalten, um Flüsse und Seen erkennen und entsprechend Ihre Ausflüge planen zu können.“

Klientin: „Ok, aber was sollen diese Gefühle denn bedeuten?“

Therapeut: „Naja, ich glaube ein bisschen wissen Sie schon darüber…“

Die Klientin atmet tief durch, wippt mit dem Fuß und greift sich nervös an die Stirn. „Ich find das gerad alles total schwierig. Sie haben ja Recht… aber ich stell mir gerade vor, wie ich nachher nach Hause gehe und mir wieder alle möglichen Gedanken darüber mache, was wir hier besprochen haben und dann…“ Sie wird still und birgt ihr Gesicht in ihren Händen.

Der Therapeut spürt die Betroffenheit. Er merkt, wie berührt er selber ist und ihm sanft die Augen feucht werden. Er kann das Dilemma der Klientin spüren und nachfühlen, wie zerrissen sie sich fühlen muss. Er sagt: „Ich nehme wahr, wie schmerzhaft das gerade für Sie sein muss.“

Die Klientin fängt an zu weinen, still und tief. Es ist, als dürfte sich etwas im Raum ausbreiten, was lange verborgen und weggedrückt war. Und auch wenn noch schwer zu sagen ist, was genau es ist, fühlt es sich dicht und greifbar an.

Die Klientin putzt sich die Nase und sagt: „Ich weiß gar nicht, wann ich das zuletzt so gefühlt habe…“

Therapeut: „Möchten Sie beschreiben, was das ist?“

Klientin: „Ich versuch’s… Sie haben ja vorhin gemeint, es könnte sein, dass ich mich selbst so grausam behandel, um nicht zu merken, wie kalt mich die Menschen behandeln, die in meinem Leben sind… Ich spüre gerade den Schrecken darüber, wie wahr das sein könnte. Und auch wenn ich das am liebsten weghaben möchte, habe ich gerade eine ganz leise Ahnung davon bekommen, wie schön es wäre, wenn ich so leben könnte… also, so, dass das, was ich da mit mir mache, gar nicht nötig wäre.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen können… ja, das wäre sicher eine große Erleichterung…“

Klientin, unter Tränen: „Ja, das wäre es… und ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ich dahin kommen soll.“

Therapeut: „Ja… und die Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, die Sie wahrscheinlich dabei fühlen, sind ja auch der Grund, warum Sie unbewusst dafür sorgen, dass Sie nicht einmal mitbekommen, dass Sie das wollen könnten.“

Klientin: „Ja, die sind auch echt nicht lustig, ey…“

Der Therapeut hält inne und lässt der Wucht in der letzten Äußerung Raum. Dann sagt er: „Das glaube ich Ihnen. Aber vielleicht wird jetzt klarer, was ich mit Orientierung meine. Erst wenn Sie sich vorstellen können, dass der Umgang mit Ihnen liebevoller sein könnte, haben Sie überhaupt nur eine Ahnung, worum es in Ihrer Situation gehen könnte. Das gibt Ihnen zwar keinen 12-Schritte-Plan dafür, wie Sie weiter vorgehen könnten, aber zumindest eine generelle Richtung und einen groben Maßstab.“

Die Klientin sagt amüsiert: „Ja, ich weiß, Sie sind planlos.“

Der Therapeut antwortet ebenso amüsiert: „So isses.“

Klientin: „Können Sie mir nicht irgendwas sagen? Ich halte das so schwer aus!“

Therapeut: „Was finden Sie denn so schwer aushaltbar?“

Klientin: „Naja, wenn ich ernst nehme, was ich da gerade gefühlt habe, finde ich mein Leben total furchtbar! Meine Eltern gehen genau so missachtend mit mir um, wie ich selbst, mein Job fühlt sich sinnlos an und meine Freunde… die sind schon ok, aber ich weiß nicht, ob die verstehen würden, worüber wir hier reden. Und das kann’s doch nicht sein, oder? Ich bin jetzt Mitte 30 und komme überhaupt nicht klar!“

Therapeut: „Ich kann sehen, wie viel das für Sie ist.“

Klientin: „Jawoll! Und ich will das eigentlich keinen Tag länger ertragen müssen. Aber wenn ich das ändern will… da kriege ich einfach nur Panik!“

Auch hier hält der Therapeut inne, damit die emotionale Wucht Raum bekommt. Nach einigen Sekunden Stille sagt er: „Ich kann den Druck spüren und verstehen… Verstehen Sie die Panik?“

Klientin: „Naja… nicht ganz, aber ich denke mir gerad, dass mir dann ja gar nichts mehr bleibt.“

Therapeut: „Sie meinen, Sie wissen dann nicht mehr, welche Form des Lebens zu Ihnen passt?“

Klientin: „Ja… und vielleicht finde ich ja nie eine passende…“

Therapeut: „Es könnte sein, dass Sie diese Form erfinden müssen und sich dafür nur an sich selber orientieren können.“

Klientin: „Oh Gott… das wird hart.“

Therapeut: „Ja, das kann sehr schwierig sein. Vor allem, wenn Sie dafür gewohnte Rollen aufgeben und Konflikte mit Menschen angehen müssen, die Ihnen wichtig sind.“

Klientin: „Das kann ich nicht!“

Therapeut: „Ich kann sehen, dass es im Moment unüberwindbar erscheint. Aber ich bin guten Mutes, dass wir genug über Ihre Angst verstehen können, wenn wir Ihre frühen Erfahrungen mit Ihren Eltern besser kennen.“

Klientin: „Auweia… ich hab’s befürchtet… darüber denke ich überhaupt nicht gerne nach… Wie soll das denn helfen? Können Sie mich nicht lieber hypnotisieren oder igendsowas?“

Therapeut: „Ich glaube leider nicht, dass es wirklich irgendeine Abkürzung darum herum gibt, auch nicht durch das, was Sie unter Hypnose verstehen mögen. Und manchmal wäre es auch mir lieber, man könnte daraus eine OP mit Narkose machen, bei der man als KlientIn aufwacht und alles ist anders, ohne die dunklen und schmerzhaften Ecken beleuchten zu müssen.“

Klientin: „Ja genau, das will ich! Das hätte ich gerne!“ Sie seufzt und fügt hinzu: „Aber gut, ich hab schon verstanden, dass das nicht geht. Trotzdem würde ich gern wissen, was das Wühlen in der Vergangenheit Gutes bewirken soll.“

Der Therapeut hält einen Moment inne und sammelt sich, bevor er fortfährt: „Schauen Sie, Ihr Nervensystem ist ja gerade auf 180. Das heißt, Sie kommen sich sehr bedroht vor und können sich nicht gut schützen, ohne wieder die Wahrnehmung Ihrer tatsächlichen Lebenssituation aus Ihrem Bewusstsein zu drängen. Daraus schließe ich, dass Anteile Ihres Nervensystems berührt werden, die sich strukturiert haben, als Sie sehr jung waren. Und ohne zu wissen, auf was für eine Situation die sich eigentlich beziehen, können Sie nicht unterscheiden, ob Ihre Angst berechtigt ist oder nicht. Es ist, als würden Sie ein Foto von damals über Ihre Wahrnehmung von heute legen und so reagieren, als sei das Foto die Wahrheit.“

Klientin: „Also, Sie meinen, die Angst davor, mein eigenes Leben zu leben, bedeutet gar nicht, dass das so schwierig ist?“

Therapeut: „Das weiß ich nicht. Es ist sicher nicht einfach. Aber wahrscheinlich ist es nicht lebensgefährlich. Deswegen glaube ich, dass die Intensität Ihrer Angst zu anderen Umständen gehört, die Ihnen noch nicht bewusst sind. Wenn Sie herausfinden, welche das sind, können Sie sich wahrscheinlich an Stellen trösten und beruhigen, an denen Sie aktuell nur weg wollen.“

Die Klientin wirkt überfordert: „Ok… das klingt sehr schwierig, aber es ergibt schon Sinn.“ Sie birgt ihr Gesicht noch einmal in ihren Händen. „… und es ist auch ziemlich viel gerade.“

Therapeut: „Ja… das sehe ich. Ich schlage vor, dass Sie das, was wir heute besprochen haben erstmal verdauen. Wir werden noch genug Gelegenheiten haben, uns dem Hintergrund dieser intensiven Gefühle zuzuweden. Wichtig finde ich für den Moment, dass Sie und ich merken, wie Sie sich aus Angst vor Ihren eigenen Urteilen nicht zeigen. Und dass Ihre Urteile, so unangenehm sie sein mögen, eine stabilisierende Funktion haben, die jedoch Ihre Warhnehmung verzerrt und damit eine stimmige Orientierung in Ihrer heutigen Lebenssituation sehr schwer macht. Über alles Weitere würde ich mir im Moment keine Gedanken machen, da es meiner Einschätzung nach ohnehin von selbst auftauchen wird.“

Klientin: „Ja… das ist gut. Darauf werde ich auch erstmal eine Weile herumkauen müssen…“

Therapeut: „Das glaube ich auch. Und wie gesagt, es eilt nicht und Sie müssen sich jetzt auch nichts überlegen. Bewusstsein reicht für den Moment. Ich wünsche Ihnen erstmal gutes Verdauen und eine gute Woche. Und nächste Woche können wir schauen, was aufgetaucht ist.“

Klientin: „Danke… ok, ja… Ihnen auch.“

Die Klientin verlässt hiermit den Praxisraum und der Therapeut schaut noch eine Weile aus dem Fenster, bevor er Folgendes in seine Notizen schreiben: „Projektion des Wunsches angesprochen, sich zu zeigen, Widerstand teilweise bewusst. Klientin mit dem Aggressor identifiziert, behandelt sich unbewusst ebenso lieblos wie ihre Familie, um die Ohnmacht nicht zu spüren. Intensiver, tiefer Schmerz spürbar, wirkt überwältigend, Hinweis auf Trauma. Zusammenhang mit Orientierung erläutert, große Angst vor Konflikten und der Notwendigkeit, sich eigenständig zu vertreten. Gleichzeitig wirkt der Weg alternativlos, da sie alles andere schon ausprobiert hat. Die Intensität fühlt sich nach längerer Arbeit mit einigen Rückfällen an. Ich bin berührt und optimistisch gestimmt.“

Zufrieden steht er auf und geht in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Er hört die Türklingel und der nächste Klient betritt die Praxis.

Plan- aber nicht orientierungslos

Ich bin in meiner Arbeit als Psychotherapeut immer wieder mit dem Wunsch nach einem Plan oder Ratschlägen konfrontiert, den ich weder erfüllen kann noch will. Ich möchte an dieser Stelle meinen Umgang damit in Form eines Dialoges darlegen, wie er in meiner Praxis schon oft vorgekommen ist. Darin erläutere ich einige Eckpunkte meiner inneren Orientierung, wie ich sie aktuell sehen kann, und demonstriere, wie ich Klientinnen und Klienten damit in Berührung bringe.

Es ist Mittwoch, 12h, 3. probatorische Sitzung. Die Klientin ist Mitte 40 und erzählt von einem Leben in Enge und einigen scheinbar ausweglosen Situationen. Mir fällt wiederholt auf, dass sie an bestimmten Punkten das Gesicht verzieht und ich spreche sie darauf an.

Klientin: „Ja… ich kenne das von mir. Das mache ich immer, wenn ich kurz davor bin zu weinen.“

Therapeut: „Ok… und warum stoppen Sie sich?“

Klientin hält inne, Tränen tauchen auf und sie schluckt: „Was habe ich denn davon, wenn ich dann losheule… das muss ich nachher nur alles wieder mühsam verpacken.“

Therapeut: „Sie haben Angst, von Ihren Gefühlen überflutet zu werden?“

Die Klientin nickt.

Therapeut: „Und dass Sie sie dann später um so schwerer verstecken können, wenn Sie z.B. bei Ihren Kindern sind?“

Klientin: „Ja, genau.“ Sie atmet tief durch und sagt: „Ich bin hier, weil ich Ratschläge möchte, nicht um hier auseinanderzufließen.“

Der Therapeut wird still und sagt nach einer Weile: „Hmmm… ich fürchte, dass ich Ihnen dann nicht werde helfen können.“

Die Klientin schaut erstaunt auf:Warum nicht? Eigentlich dachte ich, dass es bei Therapie genau darum ginge…“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sagen, denn ich würde Sie gerne so früh wie möglich über meine Haltung dazu aufklären. Es ist nämlich so, dass ich keinen Plan davon habe, was gut für Sie wäre.“

Klientin: „Ach nicht? Lernt man das denn nicht in Ihrer Ausbildung?“

Therapeut: „Hm… Ich höre, dass Sie sich jemanden an Ihrer Seite wünschen, der in dieser verwirrenden Lage mehr Orientierung hat, als Sie, stimmt das?“

Die Tränen steigen wieder auf und die Klientin unterdrückt sie mit Mühe: „Ja… die fehlt mir nämlich völlig, zur Zeit.“

Therapeut: „Nun, dass ich keinen Plan habe, bedeutet nicht, dass ich keine Orientierung habe. Aber darunter verstehe ich auch etwas anderes.“

Klientin: „Was meinen Sie denn damit?“

Therapeut: „Ich möchte es Ihnen erklären und Ihnen dafür ein bisschen Hintergrund vermitteln. Ihnen ist sicher bekannt, dass wir Menschen ein asymmetrisches Gehirn haben. Das heißt, unsere zwei Hirnhälften sind sehr unterschiedlich.“

Klientin: „Ja, davon habe ich schon mal gelesen.“

Therapeut: „Dieser Unterschied erlaubt uns zwei sehr unterschiedliche Wahrnehmungsmodi, welche beide eine wichtige Rolle für die Therapie haben. Im Allgemeinen sind wir aber mehr mit dem vertraut, was die linke Hirnhälfte tut. Daher auch die Idee, Ratschläge oder einen Plan an die Hand zu bekommen. Dafür ist nämlich die linke Hemisphäre zuständig. Genau genommen geht es dort um die Fähigkeit, handeln zu können – etwas, was Ihnen gerade total abgeht.“

Klientin: „Ja, das stimmt. Ich weiß gerad überhaupt nicht, was ich tun soll.“

Therapeut: „Ok. Handlungen basieren auf der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten Hierarchien bilden, d.h. entscheiden zu können, was wichtig ist und was nicht. Ohne eine solche Priorität bleiben wir in an bestimmten Punkten im Leben in der Schwebe, können uns nicht entscheiden und entsprechend auch nicht handeln. Das ist bei Ihnen gerade der Fall, denn Sie sagen ja, egal an welcher Stellschraube Sie drehen, etwas daran passt nicht.“

Die Klientin fühlt wieder ihre Tränen aufsteigen und sagt: „Ja, es ist zum Verzweifeln, ich fühle mich total ohnmächtig.“

Therapeut: „Ja, das sehe ich… und ich glaube es ist wichtig, das zunächst mal zu fühlen und auszuhalten.“

Klientin: „Ja, aber warum denn? Das ist so unfassbar unangenehmen… ich möchte, dass das aufhört!“

Therapeut: „Weil Sie ohne Fühlen keine Chance haben, sich stimmig in Ihrem Leben zu orientieren.“

Klientin: „Oh…“ Sie wird still und sagt nach einer Weile: „Ich ahne was Sie meinen, aber ich verstehe es noch nicht…“

Therapeut: „Naja, um handeln zu können, müssen wir wissen, was wichtig ist. Dafür ordnet die linke Hirnhälfte bekannte Reize in Kategorien ein. Ganz grob gesagt haben wir davon drei: Ist es nützlich? Ist es gefählich? Oder ist es egal? Alle Reize, die Sie kennen, werden Sie vermutlich genau so einordnen und alles andere erkennen Sie aktuell einfach nicht. Sie haben da einen blinden Fleck. Die linke Hemisphäre kann Ihnen dabei nicht helfen, da ihre Aufmerksamkeit fokal ist, d.h. auf einen Punkt gerichtet und mit dem Einordnen in genau diese Kategorien beschäftigt ist. Wenn man die Punkte des Fokus aneinanderreiht, ergeben sich daraus lineare Prozesse, wie z.B. die Sprache, die ich gerade einsetze, um Ihnen dieses Verständnis zu vermitteln. Lineare Prozesse sind super, so lange eine Situation einigermaßen übersichtlich bleibt. Wenn Sie von A nach B wollen, kann es sein, dass Sie dafür ein paar Schritte hintereinander machen müssen, die leicht unterscheidbar sind und schon sind Sie da. Genau danach fragen Sie mich, wenn Sie Ratschläge von mir wollen.“

Klientin: „Ok… und Sie wollen mir sagen, dass meine Situation nicht wirklich übersichtlich ist und das deswegen so nicht funktioniert?“

Therapeut: „Ja, genau. Ihre Situation ist komplex und wenn Sie dafür eine lineare Lösung hätten, wären Sie nicht hier.“

Klientin: „Das stimmt wohl. Aber was mache ich dann stattdessen?“

Therapeut: „An dieser Stelle kommt die rechte Hirnhälfte in’s Spiel. Sie ist für etwas zuständig, was ich Feldwahrnehmung nennen möchte. Dabei geht es darum, Reize aufzunehmen, die unbekannt oder unbewusst sind und die wir noch keiner Kategorie zuordnen können. Der Psychiater Iain McGilchrist meint dazu, dass wir in prähistorischer Steppe wahrscheinlich mit der linken Hemisphäre gejagt und uns geschützt haben, während wir die rechte Hirnhälfte dafür gebraucht haben, Ungewöhnliches in unserer Umgebung zu bemerken, um uns vor Gefahr zu warnen: das Rascheln im Gebüsch z.B., das auf Löwen oder andere Raubtiere hinweisen könnte.
Feldwahrnehmung ist nicht linear, sondern parallel. Das heißt, wir nehmen ganz vieles auf einmal wahr, was wir mit der linken Hirnhälfte gar nicht alles erfassen bzw. wiedergeben können. So habe ich z.b. einmal auf der Autobahn plötzlich ein ganz mieses Gefühl im Bauch gehabt und zwei Sekunden später wurde ich geblitzt.“

Die Klientin lacht auf und wirkt einen Moment erleichtert.

Therapeut: „Ja, ich hätte das gerne sofort zugeordnet und gebremst, aber ich habe es in dem Moment nicht verstanden. Aus der Feldwahrnehmung ergeben sich nämlich Muster in der Wahrnehmung und Gefühle im Körper, die wir nur mit bewusster Aufmerksamkeit verstehen und einordnen können. Um uns in einer komplexen Umgebung mit vielen Variablen zurecht zu finden, sind wir auf diese Gefühle angewiesen, so unklar und verschlüsselt sie unserem Bewusstsein manchmal auch vorkommen mögen. Ohne diesen Zugang haben wir nur die linke Hirnhälfte mit ihren Routinen, die sich aber auf neue Situationen nicht übertragen lassen. Das Ergebnis ist Ohmacht, sobald etwas Neues und Unbekanntes auftaucht.“

Klientin: „Hmm… ok. Ich brauche also meine Gefühle, um wahrzunehmen, was wirklich los ist?“

Therapeut: „Ja. Und um wahrzunehmen was Sie wirklich brauchen. Wenn Ihnen das klarer wird, wird es Ihnen aller Voraussicht nach auch gelingen, Prioritäten zu setzen und etwas Neues für sich zu tun, auch gegen Widerstand von außen.“

Die Klientin seufzt: „Verstehe… puh, das finde ich aber ganz schön schwer.“

Therapeut: „Ja… das denke ich mir. Ich nehme wahr, wie schwer die Ohnmacht wiegt, wenn ich zu Ihnen hinspüre.“

Die Klientin spürt wieder den Druck, verzieht das Gesicht und sagt: „Ja… das stimmt.“ Sie schluckt und fährt fort: „Ok, das verstehe ich alles, aber wenn ich diese Gefühle zulasse, wird mir das unheimlich schnell zu viel. Nach den letzten beiden Sitzungen habe ich es gerade so geschafft, danach nicht unkontrolliert loszuheulen… das zieht ja einen ganzen Rattenschwanz nach sich, verstehen Sie?“

Therapeut: „Ich verstehe, dass es sehr intensiv für Sie ist und Sie einen sicheren Raum brauchen, um sich so zu öffnen.“

Klientin: „Ja, das stimmt… danke.“

Therapeut: „Und das zu beachten, finde ich wichtig, weil unser Nervensystem so etwas wie Intensitätgrenzen hat. Gefühle sind nur dann für die Orientierung nützlich, wenn sie intensiv genug, aber nicht zu intensiv sind. Gehen die Gefühle über die aktuelle Obergrenze hinaus, erleben Sie Überflutung und können nicht mehr wahrnehmen und beachten, was Sie fühlen. Das Bewusstsein wird gewissermaßen „geschluckt“ – und genau um das Bewusstsein geht es ja, denn das brauchen Sie zum einen, um sich beruhigen zu können, zum anderen um die Gefühle sinnvoll deuten zu können. Bleiben die Gefühle unter der Untergrenze, sind sie andererseits zu dumpf oder subtil, um sie wirklich wahrnehmen und zur Orientierung nutzen zu können. Wir müssen also zwischen den Grenzen bleiben, wenn wir die Gefühle nutzen wollen.“

Klientin: „Und wie treffe ich jetzt genau diese Zone in der Mitte?“

Therapeut: „Das können wir wohl nur ausprobieren, mit dem Risiko, dass wir manchmal daneben liegen.“

Klientin: „Na toll… das heißt, ich muss schauen, ob ich das will.“

Therapeut: „Ja, das müssen Sie abwägen. Wichtig finde ich allerdings auch zu sehen, dass diese Grenzen nicht fix sind, sondern dehnbar. Ich stelle mir die Kapazität unseres Bewusstseins, intensive Gefühle zu fühlen, manchmal wie ein Goldfischglas mit Lottokugeln drin vor. Wird es heftig, bewegen sich die Kugeln so schnell, dass sie aus dem Glas herausspringen. Dann können wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen und alles wird zu viel. Wird das Glas jedoch größer, steigt auch die Kapazität, intensive Zustände wahrzunehmen, ohne auszusteigen. Und damit wächst die Fähigkeit, wahrzunehmen, wo Sie wirklich sind und wie Sie dort für sich sorgen können.“

Klientin: „Ok und wie kann das Glas größer werden?“

Therapeut: „Wenn Sie sich hier mit mir öffnen, haben Sie nicht nur Ihr Bewusstsein, sondern auch meines zur Verfügung. Der Raum des Goldfischglases kann dann größer werden und das ist in meinem Ermessen eine der Hauptwirkungen von gelingender Psychotherapie. Wenn Sie alleine etwas dafür tun wollen, würde ich Ihnen Meditation empfehlen. Darunter verstehe ich, dass Sie für eine bestimmte Zeit am Tag nichts tun, außer mit dem Fokus in Ihrem Körper zu sein und was Sie dort fühlen. Wenn Sie einen Impuls zum Handeln haben, fragen Sie sich, was Sie fühlen und bleiben mit der Aufmerksamkeit dort. Wenn Sie merken, dass Sie über etwas nachdenken, fragen Sie sich, was Sie zu den Gedanken fühlen und bleiben Sie dort. Es geht nicht darum, etwas zu benennen oder zu analysieren, nur wahrnehmen und beachten. Das erweitert auch das Glas.“

Die Klientin lacht und sagt: „Jetzt haben Sie mir ja doch einen Ratschlag gegeben.“

Der Therapeut lacht auch und antwortet: „Und? Wie finden Sie das?“

Klientin: „Gut… ich glaube, damit kann ich etwas anfangen. Genau genommen ist es ja ein Ratschlag, der mir bei der allgemeinen Orientierung helfen kann und nicht etwas, was mir sagt, was ich zu tun hätte.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie den Unterschied sehen.“

Die Klientin wird still. Sie sieht nachdenklich aus. Dann fragt Sie: „Wissen Sie, ich wundere mich schon darüber, warum das so intensiv wird, wenn ich anfange zu weinen. Ich wäre gerne stärker.“

Therapeut: „Sie meinen, Ihre aktuelle Situation reicht nicht aus, um zu erklären, warum es Ihnen nicht gut geht?“

Klientin: „Naja… einerseits schon, weil es wirklich viel ist. Und ich halte das schon lange aus, habe kaum Menschen, mit denen ich darüber reden kann… aber ich verstehe nicht, warum ich mich so anstelle. Eigentlich müsste ich mir einfach eine Wohnung suchen, ausziehen und gut ist. Warum hampel ich damit so herum?“

Therapeut: „Genau um das herauszufinden brauchen wir die Feldwahrnehmung der rechten Hirnhälfte. Und Sie haben sie gerade auch eingesetzt, denn dieses ‚Irgendwie erklärt es das nicht…‘ ist genau das, was wir durch unsere Gefühle wahrnehmen können. Es geht um die Gewichtung, um die Bedeutungsschwere gemessen am heutigen Kontext. Und ich stimme Ihnen zu, dass da etwas nicht zusammen passt. Was das aber ist, weiß ich noch nicht.“

Klientin: „Und wie lässt sich das herausfinden?“

Therapeut: „Naja, genau dafür hat Sigmund Freud so viel über das Unbewusste gesprochen, das sich der fokalen Aufmerksamkeit unseres Verstandes und der linken Hirnhälfte entzieht. Wir kommen da also nur indirekt dran, über Assoziationen, Träume, Ideen, Gefühle. Und das braucht Zeit. Was ich aber aktuell orientierend sagen kann, ist folgendes:
Teile Ihres Nervensystems tragen die Prägungen der Zeit, in der sie entstanden sind, sind also an die Situation Ihrer Kindheit angepasst. Das heißt, an diesen Stellen fühlen Sie genau so wie als kleines Mädchen. Grundsätzlich gehört zur Kindheitssituation dazu, dass wir auf Menschen angewiesen sind, die in sich Begrenzungen haben, an denen wir als Kind nichts ändern können. Und das kann einen in unfassbare Not bringen, die so unerträglich ist, dass wir sie aus dem Bewusstsein drängen müssen, um am Leben zu bleiben. In dem Maße, wie wir das tun, steht uns unsere Wahrnehmung nicht mehr zur Verfügung und wir verlieren Orientierung. Damit werden Sie es heute auch zu tun haben.“

Klientin: „Das heißt, wir müssen meine Kindheit reflektieren?“

Therapeut: „Ja. Je mehr Sie darüber wissen, wie es damals für Sie war, desto besser können Sie zwischen heute und damals unterscheiden. Das heißt zwar oft noch nicht, dass Sie weniger intensive Gefühle haben, aber Sie glauben dann zumindest nicht mehr, dass Sie daran sterben oder eine Situation wirklich so schlimm und auswegslos für Sie ist, wie sie sich anfühlen mag. Und wenn Sie dort einmal sind, können Sie glaubhafte Vorstellungen davon entwicklen, in welche Richtung Ihr Leben wirklich besser werden könnte.“

Klientin: „Puh… das wird hart.“

Therapeut: „Ja, das kann es sein. Darum ist es wichtig, dass Sie mir einen klaren Auftrag dazu geben, an dem Sie und ich messen können, ob das, was wir gerade tun, den Schmerz wert ist, der dabei auftaucht.“

Klientin: „Ich komme ja wohl nicht darum herum, wenn ich verstehen will, wo ich stehe und was ich brauche, um es mir besser gehen zu lassen.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen.“

Klientin: „Ok, den Auftrag haben Sie. Was wollen Sie wissen?“

Therapeut: „Lassen Sie uns bei Ihren Großeltern beginnen…“

Vermittlung

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

Sie: „Schatz, hast du den Müll schon rausgebracht?“

Er: „Nee, aber mache ich später, jetzt stress mich doch nicht so!“

Sie: „Mach ich doch gar nicht! Ich hab halt keinen Bock auf ’ne stinkende Küche und sehe nicht ein, dass ich schon wieder dafür sorgen soll!“

Er: „Was heißt denn ’schon wieder‘? Weißt du eigentlich, was ich hier die ganze Zeit stemme? Ich hab keinen Bock auf deine Meckerei!“

Sie: „Dann such dir halt ’ne andere Idiotin, die neben allem anderen noch unser Zuhause für uns schön macht. Sowas brauche ich nicht.“

Er: „Du verstehst mich mal wieder überhaupt nicht! Ich reiß mir für uns den Arsch auf und das ist der Dank?!?“

Sie: „Geh doch, wenn’s dir nicht passt. Du schläfst heute jedenfalls auf der Couch!“


Hmmm… das ist jetzt aber schnell eskaliert. Wahrscheinlich hatten die beiden diesen Streit nicht zum ersten Mal, es scheint dafür einiges an Hintergrund zu geben. Aber was genau ist hier passiert? Und was wäre ein gesunder Umgang damit?

Bei der Beschäftigung mit der Frage, was eine gesunde Beziehung ausmacht, ist mir der Begriff der „Triangulierung“ bedeutsam geworden. Er beschreibt eine Fähigkeit und Entwicklungsaufgabe, mit der jeder Mensch konfrontiert ist und ohne die ich ein erfülltes Beziehungsleben nicht für möglich halte. Nicht triangulieren zu können bedeutet, zwischen Anpassung und Forderung gefangen zu sein und nur sehr begrenzt in der Lage zu sein, Unterschiede auszuhalten. In vielen Fällen bedeutet es auch, lieber alleine zu bleiben, als Selbstverlust in einer Beziehung zu riskieren. Genauso kann es bedeuten, auch in einer Beziehung einsam zu sein, weil die Existenz von jemandem, der anders ist, schon so bedrohlich ist, dass wir entweder uns selbst oder den anderen in seiner Eigenart gar nicht richtig wahrnehmen wollen oder können. Ohne Triangulierung ist der seelische Entwicklungsweg über die Egozentrik hinaus versperrt. Echte Nähe ohne Aufgabe von Identität und Unterschiedlichkeit ist ohne Triangulierung nicht möglich.

Es gibt zu diesem Begriff einiges an Fachliteratur aus der Psychoanalyse, die ich bedauerlicherweise jedoch zu großen Teilen nur schwer verständlich und verdaulich finde. Der Bezug zu alltäglichen Beobachtungen und Gefühlen fehlt an vielen Stellen. Seinem Ursprung nach geht der Triangulierungsbegriff zunächst auf Sigmund Freuds Konzeption des Ödipuskomplexes und später unter anderem auf Hans W. Loewald, Margaret Mahler und Ernst Abelins Organisator- und Triangulierungsmodell zurück, welches auch Entwicklungsphasen beschreibt, die vor der ödipalen Phase liegen. Ich möchte an dieser Stelle zwar nicht diese Modelle erläutern, sondern erörtern, was ich selbst darunter verstehe, beziehe mich im Weiteren aber vor allem auf die „frühe Triangulierung“ und nicht die ödipale. Auch möchte ich den Begriff von der dysfunktionalen Triangulation abgrenzen, von der im Rahmen der systemischen Familientherapie die Rede ist. Ich hoffe damit einen Einblick in ein Phänomen zu ermöglichen, das trotz seiner Alltäglichkeit komplex und häufig völlig unbewusst ist.

Triangulierung

Dem Begriff nach geht es bei der Triangulierung um ein Dreieck, bei dem zu einer Zweier-Beziehung etwas oder jemand Drittes hinzukommt. Dieses Dritte ist notwendig, um ein vermittelndes Gleichgewicht zwischen zwei unterschiedlichen Polen herzustellen. Ohne diese Vermittlung führt die Unterschiedlichkeit in einer Beziehung zu einem Machtkampf, in dem nur Platz für einen Weg ist: meinen oder deinen. Das Ergebnis kann, selbst wenn ich „gewinne“, immer nur zum Teil befriedigend sein, weil es auf Kosten der Beziehung geht: das „Wir“ verliert. Und der Teil in mir, der Zugehörigkeit, Verbundenheit und Nähe möchte, auch. Wie aber setze ich mich für das „wir“ ein, ohne das „ich“ zu vernachlässigen?

Diese Frage stellt für viele Menschen eine Überforderung dar. Nicht primär, weil sie an sich schon mental komplex sein kann, sondern weil die Gefühle, die mit dieser Frage einhergehen können, überwältigend und zu Tode beängstigend sein können. Und je wichtiger eine Beziehung ist, desto intensiver die Gefühle. Wer sich schon in einer Situation wie oben skizziert befunden hat, der kennt diese Intensität, die hinter den Äußerungen liegen dürfte. Klar zu denken, während Wut, Verletzung und Angst in einem toben, ist unmöglich. Das Nervensystem ist auf 180, absolute Achterbahn, ohne Anschnallgurte. Statt ruhigem Diskurs oder konstruktiver Auseinandersetzung sind nur noch Kampf, Flucht oder Einfrieren möglich. Wer nur die aktuelle Situation betrachtet, mag sich wundern, wie das sein kann. „Ging es nicht gerade noch nur um den Müll?“ Und ohne Verständnis für die Erlebnisse in den frühen Entwicklungsstadien eines Menschen, deren Folgen weit bis in’s Erwachsenenleben Auswirkungen haben, lässt sich auch nicht nachvollziehen, warum das so heftig sein kann.

Nahe am Abgrund

Da eine Voraussetzung für Lernen und Wachstum eine relative Stabilität ist, bedarf es oft einiges an Aufdeckung von abgewehrten Erinnerungen, um sich bewusst zu machen, wie prekär die Kindheit eines Menschen eigentlich ist – vor allem aus der Perspektive des Kindes. Wir sind maximal darauf angewiesen, dass wir von unseren Eltern und Fürsorgern gesehen und versorgt werden, weil es sonst niemand machen würde. Und selbst wenn uns im Fall von Gewalt oder Vernachlässigung in unserer relativ stabilen gesellschaftlichen Situation das Jugendamt retten und an die besten Adoptiveltern der Welt vermitteln würde – woher soll ein Kind das wissen? Hört also das Vorstellungsvermögen dafür auf, wo wir heute Abend schlafen, ob wir noch etwas zu Essen bekommen, es warm haben oder liebevoll behandelt werden, landen wir sehr schnell an einer Grenze. Und in der frühen Zeit, in der wir nicht einmal ein Vorstellungsvermögen haben, ist diese Grenze um so schneller erreicht. Ich glaube, dass wir selten eine genaue Vorstellung vom Tod entwickeln, sondern in den meisten Fällen so etwas wie einen „Nebel des Grauens“ wahrnehmen, an dem die Vorstellung verschwimmt und unscharf wird. Aber kommen wir diesem Nebel zu lange zu nah, empfinden wir Panik.

Da wir also für unsere Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität auf unsere primäre Beziehung, meistens mit der Mutter, angewiesen sind, kann diese Panik immer auch dann entstehen, wenn wir etwas anderes wollen, als die Mutter und dieser Unterschied die Sicherheit in der Beziehung bedroht. Je nach dem, von welchem Alter wir sprechen, sind die Möglichkeiten für das Kind natürlich unterschiedlich weitreichend. Aber nehmen wir mal an, es ginge darum, im Alter von 18 Monaten selber zu bestimmen, wie viel und was das Kind isst. Ist die Mutter entweder nicht in der Lage oder bereit auf das Kind einzugehen, kann für das Kind eine Notsituation entstehen, bei der es entweder bei dem bleibt, was es will und die Beziehung riskiert, oder seinen Willen aufgibt und sich anpasst, um Ruhe in die Beziehung und in’s eigene Nervensystem zu bringen. So lange es ein Machtkampf zwischen Mutter und Kind ist, ist letzere Wahl wesentlich wahrscheinlicher. Wir können schließlich auch ohne Selbstausdruck noch überleben, aber ohne Überlebensgrundlage bringt uns der Selbstausdruck nichts. Der Preis dafür ist, dass wir Teile unseres Selbstes leugnen, vergessen und verdrängen müssen, um den Verzicht darauf nicht als unerträglich zu erleben. Schaffen wir das nicht, werden Kampf- oder Fluchtimpulse so stark, dass wir ihnen nicht widerstehen können. Wer sich vorstellt, wie sich eine 3-jährige fühlen muss, die vor Schmerz und Wut hinaus in die Welt fliehen will, versteht, wie bedrohlich das sein muss.

Um jedoch ein gesundes Empfinden für sich selbst zu entwickeln, brauchen wir eine Situation, in der wir uns nicht zwischen Selbstausdruck und Beziehung entscheiden müssen. Und diese Situation entsteht nur durch Triangulierung. Traditionell ist mit dem „dritten Element“ der Vater gemeint. Und zur Illustration will ich auch vom Vater und seiner idealen Wirkung sprechen. Übergeordnet geht es bei der Triangulierung aber vor allem darum, dass es ein vermittelndes Element gibt, das zwischen den Unterschieden eine Brücke schafft. Weiter unten gehe ich darauf ein, welche anderen Formen es noch dafür geben kann.

Die Ideal-Situation

Gehen wir also davon aus, dass Mutter und Kind unterschiedliche Vorstellungen davon und Empfindungen dazu haben, was und wie viel gegessen werden sollte, kann es zum Machtkampf kommen. Kommt nun der Vater hinzu, der eine gute Bindung zum Kind und zur Mutter hat, kann er vermitteln. Er sieht unter Umständen etwas anderes in dem Verhalten des Kindes, wie z.B. den Wunsch, etwas selber zu bestimmen und zu spüren, welche Wirkung es damit haben kann. Wenn er das sieht und nachfühlt, kann er es formulieren und gegenüber der Mutter vertreten. Damit wird er quasi zum „Anwalt“ für das Kind, nimmt es in Schutz und stellt sich daneben. Das Kind kann schon mal anfangen sich zu entspannen, weil die Bedrohung durch die Mutter nachlässt.

Sicher ist die Beziehung aber erst, wenn der Vater nicht nur Antwalt, sondern auch Mediator ist. Dafür muss er auch die Bedürfnisse der Mutter verstehen, evtl. ihre Sorge darum, „es nicht richtig zu machen“, ihre Erschöpfung und ihr Bedürfnis nach Empathie und Erholung zu sehen. Die Präsenz und das Bewusstsein des Vaters sorgen dann für den Raum, in dem die Vermittlung stattfinden kann. Das Kind kann seine Gefühle und Bedürfnisse bewusst erleben, genauso wie die Mutter, ohne dass das die Fronten verschärft. Und vermutlich geht es dann nicht mehr um die konkrete Frage danach, wie viel gegessen wird, sondern um die darunterliegenden Gefühle und Bedürfnisse: die Erschöpfung und Entmutigung der Mutter, die Raum für sich und ihr Inneres braucht und das verständliche Bedürfnis des Kindes, selber zu bestimmen, was es essen mag. Mit dem Raum für diese Gefühle kann ein dritter Weg entstehen, der für Kind und Mutter gleichermaßen funktioniert und auch noch der Beziehung dient. Was genau das ist, ist nun gar nicht mehr so wichtig, weil die Verbindung auf Herzebene wieder hergestellt ist. Vielleicht ist das Kind satt, vielleicht gibt’s noch eine andere Idee zum Essen, vielleicht braucht die Mutter eine halbe Stunde für sich und der Vater springt ein.

Mir ist bewusst, dass ich damit eine Idealsituation beschreibe, die sich sicher sehr viele Menschen gewünscht hätten, jedoch eher selten erlebt haben werden. Damit möchte ich einen bewussten Maßstab dafür schaffen, wie es gehen kann – von dem ausgehend wir besser verstehen können, was in vielen Fällen fehlte und warum es unter Umständen auf diese Weise nicht möglich war. Und was es heute braucht, wenn wir über den Machtkampf hinauswachsen wollen.

Verschiedene Wege mit der gleichen Absicht

Wie schon gesagt, ist der Vater ein idealtypisches Beispiel, welches deswegen so viel Macht hat, weil in der Regel keine Bindung enger ist, als die mit der Mutter und die Notwendigkeit, Eigenständigkeit und Beziehung erhalten zu wollen, nirgendwo größer ist. In abgeschwächter Form kann diese Situation auch umgekehrt passieren, wobei das Kind mit dem Vater einen Konflikt hat und die Mutter vermittelt. Jeder andere nahestehende Erwachsene mit entsprechendem Bewusstsein kann ebenso die Vermittler-Rolle haben. Das vermittelnde Element kann aber auch darin bestehen, dass die Mutter selber Bewusstsein dafür hat, welche Berechtigung ihre Wünsche und Grenzen haben und sie ebenso im Blick hat, was das Kind braucht. Die Vermittlung findet dann in ihrem Bewusstsein statt und sie schafft einen Raum, in dem sie zunächst Verständnis und Einfühlung für sich entwickelt und dann Raum dafür öffnet, das Kind besser zu verstehen.

Vermittelnd wirken können auch Situationen im Außen oder im Körper. Die meisten Menschen erleben als Kind eine besondere Fürsorge, wenn sie krank sind. Ist der Krankheitszustand nicht allzu schlimm, kann er sogar herbeigesehnt werden, weil er der Mutter signalisiert „Meine Bedürfnisse sind jetzt wichtig.“ So kommt der sogenannte „sekundäre Krankheitsgewinn“ zustande, der letztlich im Kern mit der Erleichterung zu tun hat, mit den eigenen Bedürfnissen in der Beziehung vorkommen zu dürfen, ohne um die Beziehung fürchten zu müssen. Eine andere Art, die frühe Triangulierung zu erwirken, nutzt Geschlecht und Sexualität, worauf ich in einem künftigen Artikel eingehen will.

Ich bin sicher, dass es noch mehr Wege gibt, wie kleine Kinder versuchen, aus der Not dieses Machtkampfes zu entkommen, aber im Kern finde ich wichtig zu verstehen, um welche Qualität im Umgang miteinander es geht und warum und wofür die so wichtig ist. Angesichts dessen aber, dass die wenigsten solch eine Idealsituation erlebt haben, stellt sich die Frage, was wir nun mit diesem Wissen anfangen können. Offensichtlich können wir die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir haben die Möglichkeit, sie so zu untersuchen, dass wir vollständigere Bilder und umfassenderes Verständnis dafür gewinnen, wo wir in unserem Inneren jeweils stehen und was wir fühlen und verstehen müssen, bevor wir zur Triangulierung fähig sind.

Selbst vermitteln

Eine Art, das „Ziel“ von Psychotherapie zu beschreiben ist, „sich selbst der Vater und die Mutter zu werden, die man nicht hatte.“ Dies spricht darauf an, dass Bewusstsein an sich triangulieren kann. Wenn ich aufdecke, spüre und benennen kann, was in mir passiert, nehme ich dazu eine beobachtende Zeugenposition ein. Von dieser Position aus kann ich vermitteln – entweder mit einer mir wichtigen Person im Außen, oder auch zwischen verschiedenen Positionen in mir selber, wie z.B. wenn ich gleichzeitig autonom und jemandem nah sein möchte. Ohne dieses Bewusstsein spüre ich meine Bedürfnisse mitunter nur als Druck, dem ich nachgehen muss, wenn ich nicht unter unfassbare Spannung geraten will. Und wenn ich dadurch in einen Konflikt mit meinem Gegenüber gerate… nun, dann kann aus einem Hinweis zum Müll eine Nacht getrennt schlafen werden. Oder auch mehrere Nächte.

Zur Bewusstwerdung von Gefühlen und Bedürfnissen gibt es neben klassischer Psychotherapie einige Ansätze, die ich dafür hilfreich finde, allen voran die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg. Das schwierigste an der Entwicklung des Triangulierens liegt allerdings nicht auf der mentalen Verstandesebene, sondern ist tiefer, emotional und körperlich, verankert. Wie schon gesagt, besteht die Überforderung in der Regel vor allem darin, die Heftigkeit der Gefühle nicht ertragen zu können, die angesichts von Konflikten mit Menschen, die wir sehr nah an uns heranlassen, auftauchen können. Dazu zähle ich Enttäuschung, Wut, Verletzung und Angst. Manchmal aber sind es auch die „schönen“ Gefühle, die wiederum Panik auslösen können, weil sie an die eigene Verletzlichkeit und wiederum an den möglichen Schmerz erinnern.

Das Ertragen dieser Gefühle ist unter Umständen erst nach langer innerer Auseinandersetzung möglich, da wir sie unverarbeitet als pure Panik, Auflösung, tiefste Verzweiflung, Todesangst oder andere, viel rätselhaftere Symptome erleben können, die mitunter so weit vom Bewusstsein weg sind, das sie nur körperlich auftauchen. Kopf- und Bauchweh sind beliebte Kandidaten. Und je weniger bewusst uns unsere Geschichte und die heutigen Zusammenhänge damit sind, desto rätselhafter und beängstigender können diese Zustände sein, so dass wir alles mögliche tun, um sie zu vermeiden. Dazu gehören Süchte, Selbstbilder und Überzeugungen, an die wir trotz klarer Gegenbeweise glauben. Aber zur Vermeidung eignen sich auch alle Versuche, einen geliebten Menschen auf Abstand zu halten oder Druck auf ihn auszuüben, er möge doch die unbewussten Deals einhalten, die wir vermeintlich einvernehmlich eingegangen sind und sich an unsere Wünsche anpassen.

Wenn wir diese heftigen Zustände jedoch konsequent vermeiden, kommen wir auch nicht in die Position, deren Wurzel für die heutige Situationen adäquat zu berücksichtigen und in die Vermittlung bei konkreten Konfliktsituationen mit einfließen zu lassen. Mitunter braucht es heftige Krisen im Leben eines Menschen, bevor er bereit ist, sich mit den vermiedenen und abgewehrten Gefühlen auseinanderzusetzen. Die Situation im Außen muss manchmal so unerträglich werden, dass das innere Unerträgliche im Vergleich akzeptabel wirkt. Da das wiederum auch überfordernd sein kann, kann die innere Arbeit sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, in der in ganz kleinen Schritten, Schicht für Schicht der Gefühle zu dem frühen Drama des Machtkampfes und der Anpassung ins Bewusstsein gelangt.

Ist dieser Weg jedoch für einen guten Teil gegangen worden, kann das erwachsene Bewusstsein die innere frühe Not erfassen, berühren und halten, so wie der damalige ideale Elternteil es getan hätte. Wir können dann zu unserem eigenen Anwalt und Mediator werden. Dadurch wird echtes und tief empfundenes Mitgefühl mit dem Kind möglich, das wir einmal waren und deren Gefühle und Erlebnisse bis heute prägen, wer wir sind. Und mit diesem bewussten Mitgefühl kann ich in die Vermittlung gehen – sei es zwischen verschiedenen Anteilen in mir oder zwischen mir und einem geliebten Menschen, mit dem ich Unterschiede habe. Außerdem habe ich damit auch die innere Freiheit, innerhalb einer Beziehung Grenzen zu ziehen und unter Umständen Abstand zu schaffen, wenn ich Raum für innere Vermittlung brauche. Komme ich zu dem Schluss, dass mein Gegenüber nicht die Voraussetzungen erfüllt, die ich mir für die Beziehung wünsche, kann ich auch entscheiden, eine Beziehung zu beenden – und dank der inneren Vermittlung die Gefühle auffangen, die dieser Verlust vermutlich auslöst und die als Kind unerträglich gewesen wären.

Eine Alternative

Vor dem Hintergrund des bis hierher Erörterten möchte ich nochmal den Dialog vom Anfang aufgreifen, mit dem Unterschied, dass es dem Mann möglich ist, mit der Triangulierung zwischen verschiedenen Anteilen in ihm und seiner Partnerin anzufangen, bevor auch sie miteinstimmt. Damit möchte ich demonstrieren, welcher Raum dank der Triangulierung aufgehen kann, in dem all die Konflikte, Unterschiede, aber auch die Verbundenheit Platz haben.


Sie: „Schatz, hast du den Müll schon rausgebracht?“

Er: „Nee, aber mache ich später, jetzt stress mich doch nicht so!“

Sie: „Mach ich doch gar nicht! Ich hab halt keinen Bock auf ’ne stinkende Küche und sehe nicht ein, dass ich schon wieder dafür sorgen soll!“

Er: „Moment mal… lass uns mal für einen Moment inne halten, irgendwas läuft hier gerade aus dem Ruder…“

Sie ist zwar angespannt und wütend, aber wird still und lässt ihm Raum zum Spüren. Er schließt die Augen und nimmt wahr, dass er sehr unter Spannung steht. Ihm wird bewusst, dass er Angst hat, er könnte seine beruflichen Aufgaben nicht rechtzeitig schaffen und dabei Geld einbüßen, das er sehr gerne für sich und seine Partnerin zur Verfügung hätte. Auf einer noch tieferen Ebene spürt er die Verzweiflung, die er als kleiner Junge hatte, wenn er keine Worte dafür hatte, wie es ihm ging und sich so gewünscht hätte, seine Mutter hätte es erspüren und ihn verstehen können. Das war oft nicht so gewesen und sein Vater war ebenso nicht da gewesen, um für das Verständnis zu sorgen. Er hatte lange gebraucht, um den tiefen Schmerz und die Ohnmacht darüber endlich zulassen zu können, statt sich zu sagen, dass er das nicht bräuchte oder irgendwann noch erwirken könnte. Auf einer Ebene hätte er dieses Verständnis gerade unfassbar gerne von seiner Partnerin bekommen. Auf einer anderen Ebene kann er sie sehen, wie sie gerade ebenfalls unter Druck steht, auch wenn er noch nicht genau weiß, was dahinter steckt. Er atmet noch einmal durch, öffnet die Augen und sagt: „Du, Schatz, ich merk, dass du ganz schön unter Druck zu stehen scheinst. Magste sagen, was dich so beschäftigt?“

Sein ruhiger und freundlicher Tonfall berührt und beruhigt sie schon ein ganzes Stück weit und sie sagt: „Ach du… ja, das stimmt. Sorry, dass ich dich gerad so angeschnauzt hab. Ich habe jetzt ein paar Mal gehört, dass du Dinge später machen willst und dann waren sie doch nicht gemacht. Mich stresst das total, weil ich dann anfange zu zweifeln, dass du mich wirklich hörst und ernst nimmst.“

Er nimmt das auf und ist erleichtert, sie darin spüren zu können. Weil er sie kennt, hört er auf einer tieferen Ebene das Kindheitsthema von ihr, bei dem in Frage steht, ob ihre Bedürfnisse überhaupt eine Rolle spielen durften, wenn sie anders waren, als ihre Mutter wollte oder wichtig fand. Sie hatten darüber schon oft Gespräche geführt, deswegen antwortet er: „Das trifft dich gerad an dem alten Punkt, oder?“

Sie: „Ja… danke, dass du das gerad siehst.“ Sie seufzt und es kommen ihr ein paar Tränen. Sie ist gerührt davon, dass er sie sieht. Gleichzeitig spürt sie auch, wie tief dieser Schmerz sitzt und wie schwer es ihr manchmal fällt, ihn bewusst zu ertragen. Ganz davon zu schweigen ihn zu halten und Mitgefühl mit sich zu haben. Stattdessen spürt sie schnell den Impuls, sich unter Druck zu setzen und den Druck wütend nach außen weiter zu geben. Manchmal fällt sie auf den Druck hin auch dissoziiert in sich zusammen und spürt nichts mehr, wie als sie ganz klein war und ohne die Mutter nichts machen konnte. Sie fühlt die Not wie eine unfassbare Last auf der Brust, der ihr schier den Atem raubt. Sie erinnert sich, wie einsam sie als kleines Mädchen war, wenn ihr die Beachtung und das Verständnis ihrer Mutter fehlte und auch für sie kein Vater da war, der hätte vermitteln können. Auch sie wünscht sich manchmal, ihr Partner könnte das verstehen, ohne dass sie etwas sagen müsste – dann würde diese unerträgliche Verzweiflung doch gar nicht erst aufkommen! Gleichzeitig weiß sie genug, um zu verstehen, was es ihn kosten würde, wenn er das versuchen würde. Denn er müsste dafür viel mehr auf sie als auf sich achten – und das würde letztlich der Beziehung und damit auch ihr schaden. Nach vielen Versuchen in der Vergangenheit weiß sie, dass sie diesen Preis nicht zahlen möchte.

Zu ihm sagt sie also: „Weißt du, ich weiß, dass du mir nicht abnehmen kannst, dass ich mich mitteile, wenn ich fürchte, dass du mich nicht ernst nimmst, auch wenn ich mir das manchmal so wünschen würde. Und ich kann sehen, dass du selber unter Druck stehst und der Haushalt für dich deswegen auch gerade hinten an steht…“ Sie hält inne, atmet durch und sagt: „Ich merke gerade, ich stehe nicht mehr unter Stress. Ich kann gerad meinen Zweifel und die Verzweiflung von früher verstehen. Ich krieg außerdem mit, dass du mich ernst nimmst.“

Er ist erleichtert und berührt und lädt sie zu einer tiefen, zärtlichen Umarmung ein. Nachdem sie sie annimmt, sagt er ihr sanft in’s Ohr: „Was hältst du davon, wenn ich jetzt den Müll rausbringe und wir es uns dann auf der Couch gemütlich machen?“

Sie: „Das fänd ich ganz wunderbar… dann bereite ich schon mal die Snacks vor.“

Auftrag

Ich liebe meinen Beruf. Psychotherapeut zu sein erlaubt mir, im Einklang mit meinem Inneren, meinen Werten und meiner Leidenschaft Zeit zu verbringen, während für meine Existenzgrundlage gesorgt ist. Ich könnte es mir nicht schöner vorstellen.

Es gibt allerdings eine Seite an dem Beruf, die mich herausfordert, sehr genau auf meine Grenzen zu achten, wenn ich nicht ausgelaugt, angespannt, ängstlich und überfordert leben möchte. Ich hatte in der Vergangenheit Sitzungen und ganze Verläufe, in denen es mir so erging und von KollegInnen höre ich immer wieder, dass sie mit solchen Empfindungen zu kämpfen haben. Wer dafür keine Lösung findet, kann diesen Beruf und andere Helfer- oder Berater-Berufe wie z.b. Coach oder Trainer nicht ausüben, ohne früher oder später in einen Burnout zu rutschen. Auch mir hätte das passieren können und das könnte es noch, wenn ich nicht achtsam bin. Ich möchte hiermit teilen, wie ich das Problem verstehe und wie ich mich davor schütze, in der Hoffnung, dass andere davon profitieren können.

Das ideale Gegenüber

Wie vermutlich alle meine KollegInnen verbinde ich mit dem Beruf etwas sehr Persönliches. Ich bin meinen KlientInnen idealerweise ein Gegenüber, wie ich es selbst gern gehabt hätte, als ich klein war. Die Einstimmung, die Wärme, das Interesse, der Überblick… alles Qualitäten, die mir als Kind unfassbar wertvoll gewesen wären, insofern sie mir fehlten. Unreflektiert kann das dazu führen, dass die Psychotherapie zum Spielfeld dafür wird, dass ich mir selbst demonstriere, dass es diese Qualitäten gibt. Dass sie auf dieser Welt möglich sind. Es ist dann, als würde ich den kleinen Niklas in den Sessel setzen, indem mein/e KlientIn sitzt und zu ihm sprechen, ihn umsorgen und vermitteln, dass er geliebt wird. Das projiziere ich dann auf meine KlientInnen. Somit werde ich für den kleinen Niklas zum Modell für das, was ich als Kind gebraucht hätte.

Abgesehen von der schwerwiegenden Konsequenz, dass ich meine KlientInnen auf diese Weise nicht in ihrer Eigenart, ihrer einzigartigen Situation und ihren eigenen Wünschen wahrnehmen kann, ist außerdem problematisch, dass diese Inszenierung nur gelingt, wenn mein Gegenüber mitmacht. Denn das habe ich nicht in der Hand. Und wenn ich unbewusst versuche, diese Inszenierung zum Gelingen zu bringen, mein Gegenüber aus irgendeinem Grund aber nicht will oder nicht kann, bin ich ohnmächtig. Ich will etwas, was ich alleine nicht herstellen kann. Und so lange mir dieser Versuch nicht bewusst ist, gerate ich während der Arbeit regelmäßig in Angst- und Erschöpfungszustände, die mittelfristig in Burnout münden.

Machen Sie das bitte weg!

Als ich im Rahmen meiner Approbationsausbildung damit anfing, mit KlientInnen zu arbeiten, begegnete mir ein Klient, der von Angstzuständen sprach, die urplötzlich und ohne ihm zugängliche Erklärung in seinem Leben aufgetaucht seien. Er hätte gerne, dass die weggingen. Als er nicht mehr sagte, entstand eine Stille, die ich äußerst unangenehm empfand, da ich ohne Gesprächsfluss mit voller Breitseite wahrnahm, wieviel ich mir abverlangte. Ich bemerkte den Anspruch, dass ich nun mit Hilfe meines Kopfes eine ausgiebige Anamnese mit Analyse und Diagnose stellen müsste, um dann genau zu wissen, wie ich den Herrn behandeln müsste, damit auch ja ganz sicher seine Ängste weggingen. Und das alles, ohne dass der Klient mehr von sich einbrächte oder aktiv beteiligt wäre. Ich erwartete von mir, den Klienten dazu bringen zu können, sich zu öffnen und mir von Schichten in sich zu erzählen, die er selber noch gar nicht kannte. Wie sollte ich das machen? Ich kannte ihn doch auch nicht! Und woher die Ängste kommen – keine Ahnung! Steht das in irgendeinem Lehrbuch? Das alles fühlte sich unfassbar schwer und zäh an.

Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht, in unterschiedlicher Art und Weise. Mal war jemand besonders passiv, manchmal waren „auch einfach alle anderen schuld“, mal sollte ich für Entspannung sorgen oder eben so mitfühlend und liebevoll sein, wie Mama es nie war, obwohl ich fand, dass mein Gegenüber selbst aktiv (wenn auch unbewusst) an seiner Misere beteiligt war. Ich brachte mich immer wieder in Bredouille, weil ich mir auftrug, meine KlientInnen zu retten, obwohl ich das nicht kann und die das mitunter gar nicht wollten. So ging das weiter, bis ich von Dozenten und Supervisoren den Hinweis bekam, dass ich die Klärung des Auftrags nicht auf dem Schirm zu haben scheine.

Eine Grundvoraussetzung

Der Auftrag ist eine der wichtigsten Grundlagen dafür, dass Psychotherapie gelingen kann. Im Kern bedeutet das, dass mein Gegenüber weiß, wofür es zu mir kommt und die Verantwortung für diese Entscheidung trägt. Das ist so wichtig, denn meine KlientInnen lassen mich unfassbar nah an sich heran. Es ist nicht so offensichtlich wie bei einem Zahnarzt, der mir in den Mund schauen darf, damit er mir hilft, gesunde Zähne zu behalten. Es geht um Innerlichkeit und die ist selten so klar definiert, wie ein gesunder Zahn. Was darf ich sagen? Welche Maßstäbe darf ich dafür anlegen, was für mein Gegenüber gut wäre? Worauf darf ich hinweisen? Darf ich mitteilen, was ich wahrnehme, auch wenn es furchtbar unangenehm und konflikthaft ist? Ohne den Auftrag habe ich kein Recht dazu, denn es geht mich nichts an, wie andere Menschen ihr Leben führen. Mein Engagement kann schnell übergriffig wirken, wenn der Zusammenhang zu dem, was meine KlientInnen ursprünglich bei mir wollten, nicht mehr klar ist.

Das heißt, mit klarem Auftrag schütze ich mich davor, mich mit einer Aufgabe zu verausgaben, die ich nicht in der Hand habe. Und ich schütze meine KlientInnen davor, den Überblick über den Sinn des Geschehens zu verlieren, sowie Opfer meiner (bzw. des kleinen Niklas‘) Ansprüche zu werden, die sie höchstwahrscheinlich als unangenehmen Druck wahrnehmen könnten, wenn sie genug Bewusstsein dafür haben.

Aus dieser Klarheit ergeben sich nun zwei weitere Herausforderungen: Wie können meine KlientInnen einen klaren Auftrag definieren? Und welche Aufträge nehme ich an und welche nicht?

Das verflixte am Unbewussten…

… ist bekanntlich, dass es wirklich unbewusst ist. Das heißt, da der Ausgangspunkt für eine Psychotherapie meistens darin besteht, dass meine KlientInnen bzgl. ihrer Lebenssituation und ihrer Möglichkeiten verwirrt sind und sich verloren und orientierungslos vorkommen, stellt die Frage nach einem bewussten Auftrag oft eine Überforderung dar. Es ist ja gerade diese Unklarheit und der Einfluss unbewusster Gedanken-, Gefühls- und Handlungsmuster, die zu den Symptomen führen, welche den Leidensdruck ausmachen und Anlass für eine Psychotherapie darstellen. Und die Verknüpfung zwischen Symptom, Ursache und Erkenntnissen, die auf Wachstum und Erfüllung hinweisen, ist gerade auf der seelischen Ebene nicht linear oder sofort erfassbar. Ich habe schon Fälle gehabt, in denen ich rein intuitiv entscheiden musste, ob mein Gegenüber einen Auftrag hat, selbst wenn der Auftrag fern des Bewusstseins erschien. So habe ich z.B. mit einer Frau gearbeitet, die jeden Versuch meinerseits, festzustellen, worum es ginge, damit beantwortete, dass es doch etwas anderes sei, als was sie gerade gesagt hatte. Sie war nicht zu greifen. Und genau das war ihr Problem, denn es führte in vielen Lebenssituationen dazu, dass sie sich innerlich so fern von ihren eigenen Wünschen hielt, dass sie keine Freude an noch so schönen Umständen emfinden konnte. Hatte sie damit keinen Auftrag?

Ich hatte zwei Indizien, dass das nicht stimmte: Zum einen fühle ich in der Regel eine gewisse, lebendige Spannung, wenn mein Gegenüber einen echten Wunsch hat, zu arbeiten. Die war anwesend. Zum anderen sagte die Klientin, wenn ich danach fragte, es sei ihr unfassbar wichtig, dass sie kommen könne. Den Auftrag zu formulieren jedoch hätte von ihr erfordert, dass sie sich ihrer Abwehr dagegen bewusst wurde, in irgendeiner Art sichtbar, greifbar und damit auch „angreifbar“ zu sein. Dazu war sie zu Beginn der Therapie nicht in der Lage.

In der Praxis begegne ich diesem Problem, indem ich mit meinen KlientInnen zu Beginn der Therapie ein Gespräch darüber führe, welchen Auftrag ich annehme. Im Kern gibt es tatsächlich nur einen, auch wenn er an der Oberfläche unterschiedlich aussehen kann: „Bitte helfen Sie mir zu verstehen, in was für einer Situation ich mich befinde und welchen Einfluss ich darauf habe, ohne das bisher gemerkt zu haben.“ In der Regel sorgt die Klarheit über diese Möglichkeit für Erleichterung und eine gute Grundlage, damit zu arbeiten. Denn selbst wenn der klare Blick auf einen selbst zuweilen sehr schmerzhaft und unangenehm sein kann, wird durch diesen Auftrag klar, wofür sich das lohnen könnte. Und dass meine KlientInnen von nichts und niemandem dazu gedrängt werden, außer ihrem Wunsch, den eigenen Leidensdruck zu reduzieren.

Nichtsdestotrotz erlebe ich selten Prozesse ohne Abwehr oder Widerstand, in denen die unbewussten Versuche, nicht allzu viel durcheinander zu bringen und eine gewisse Grundstabilität zu bewahren, den Erkenntnisprozess beeinflussen. Das ist zu erwarten, denn in der Regel ist es ja genau die Abwehr, die die Wahrnehmung der Situation, wie sie ist, verhindert. Habe ich den oben formulierten Auftrag, kann ich das benennen und darauf hinweisen. Ohne, dass der Auftrag auf dem Tisch wäre, würde ich mich das unter Umständen nicht trauen, weil ich niemandem zu nahe treten will. Und wer diese Konfrontation nicht möchte, kann mit mir über den Auftrag sprechen und im Fall zur Entscheidung kommen, ihn mir zu entziehen.

Ohne Auftrag kein „Saft

Dass Aufträge unbewusst sein können, bedeutet dennoch nicht, dass immer einer da ist. Der Unterschied ist spürbar, denn in meinem Empfinden stellt sich in diesem Fall eine gewisse Zähigkeit und Kraftlosigkeit ein. Das kann Widerstand sein, muss es aber nicht. Dafür Kriterien zu haben finde ich wichtig. Ansonsten kann das Argument des unbewussten Auftrags dazu führen, dass ich nicht erkenne, wann wirklich keiner da ist. Damit würde ich letztlich wieder eine Situation schaffen, in der ich meinen KlientInnen meine Vorstellungen davon aufzwänge, was gut für sie wäre, und mich dabei verausgaben.

Direkt zu Anfang

Zum einen gibt es den Fall, dass KlientInnen mit einem bestimmten Bild zur ersten Sprechstunde kommen und feststellen, dass Psychotherapie ihnen etwas abverlangt, wozu sie nicht bereit sind. Vielleicht nur zu diesem Zeitpunkt nicht, vielleicht aber auch nie. Gerade die Vorstellung einer „psychotherapeutischen Behandlung“ vermittelt etwas passives, bei dem KlientInnen etwas geschieht, am besten, ohne dass sie es selbst mitbekommen. Das Bild erinnert an eine chirurgische Behandlung unter Narkose.

So hatte ich mal einen Klienten, Anfang 60, in der ersten Sprechstunde, der Angst um seine Ehe hatte, nachdem seine Frau ihn wiederholt dabei beobachtet hatte, wie er Fotos von fremden Frauen machte. Dies war eine voyeuristisch angehauchte Gewohnheit, die er schon vor der Ehe gehabt hatte und von der seine Frau ihm gesagt hatte, dass sie damit nicht leben könne. So war es auch jetzt. An mich hatte er den Auftrag, ihn so zu behandeln, dass er diese Gewohnheit loswürde und so seine Ehe schützen könne. Nach einigen Fragen über seine Situation wurde mir klar, dass ich diesen Auftrag so nicht annehmen würde. Mir schien der eigentliche Konflikt darin zu liegen, welche Rolle Sexualität in der Ehe spielen durfte (nämlich gar keine und das seit Jahren schon) und inwiefern und warum er bereit war, das hinzunehmen. Nach der Sitzung teilte er mir per Email mit, dass er unter diesen Umständen von einer Psychotherapie absehen wolle.

Verantwortlich für dieses Bild einer Behandlung unter Narkose halte ich einen berufspolitischen Druck, den es schon seit den Zeiten Sigmund Freuds gibt: da der Gegenstand von Psychotherapie etwas unsichtbares und tendenziell unbewusstes ist, muss sich der Berufsstand des Verdachtes der Quacksalberei erwehren, die im besten Falle nichts nützt und im schlimmsten Falle (evtl. auch finanziell) schadet. Wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit von Psychotherapie-Verfahren zu liefern und damit die Glaubwürdigkeit (und die öffentliche Finanzierung) zu sichern, erfordert jedoch, dass Bedingungen und Vorgehensweisen gemäß gewisser Richtlinien standardisiert werden, da man sie sonst nicht vergleichen kann. Ohne immer gleiche Bedingungen gibt es zu viel Chaos im Ergebnis, als dass sich die Prozesse von KlientInnen wirklich einer Psychotherapie, geschweige denn bestimmten Therapieschulen zuordnen ließen.

Was jedoch für das Design einer randomisierten Studie wichtig ist, widerspricht einem der wichtigsten Wirkprinzipien der Psychotherapie: Das Bewusstsein der KlientInnen selbst sorgt dafür, dass Ordnung entsteht, wo vorher Chaos war, dass Erkenntnisse auftauchen und Zusammenhänge ersichtlich werden dürfen, die letztendlich für so etwas wie „Heilung“ sorgen. Als Psychotherapeut begleite und fördere ich diesen Erkenntnisprozess, trete in Beziehung und setze ein, was ich an Wahrnehmung und Instrument habe. Jedoch wirkt der Prozess nur, wenn er in den KlientInnen selbst stattfindet. Da jeder Mensch sein eigenes Bewusstsein hat, ist dieser Prozess hochindividuell und eben nur sehr begrenzt standardisier- bzw. manualisierbar. Die Essenz, scheint mir, bleibt dabei außen vor.

Für den unerfahrernen Laien kann das Fehlen eines solchen Plans unübersichtlich und beängstigend wirken. KlientInnen also, die zu große Angst vor dem eigenen Erleben und den Folgen dieser Art von Aufdeckung haben, können von daher keinen Auftrag an mich haben, den ich annehmen wollte bzw. könnte.

Ein Plateau

Zum anderen gibt es den Fall, dass der Verlauf einer Psychotherapie bis zu einem bestimmten Punkt gekommen ist, an dem KlientInnen ein Entwicklungs-Plateau erreicht haben, das mit Erlebnissen gefüllt werden will, bevor es durch neue Erkenntnisse weitergehen kann. Dieses Plateau kann unter Umständen Jahre andauern, vielleicht auch bis zum Tod.

So hatte ich mal eine Klientin, Mitte 40, die ich 1 1/2 Jahre lang darin begleitet hatte, sich im Rahmen ihrer Ehe eine in ihrem Leben zuvor noch nie dagewesene emotionale Unabhängigkeit zu erarbeiten. Zu Beginn bezog sie sich auf alles, was ihr Mann tat, sagte, dachte, bzw. was ihr darin fehlte. Sie versuchte sein Verhalten so zu beeinflussen, dass er sich ihr liebevoll zuwand, um über seine Zuwendung die tiefen Konflikte in Schach zu halten, die sie in sich trug, seit sie klein war: „Was mache ich hier eigentlich? Wofür bin ich hier, wenn es doch nur Angst, Einsamkeit und Leid gibt?“ Diese Kontrollversuche waren auslaugend, erschöpfend und funktionierten nicht. Im Laufe der Psychotherapie bekamen ihre inneren Konflikte zunehmend Raum in ihrem Bewusstsein und es gelang ihr, unabhängig von ihrem Mann, eine Balance darin zu erleben. Sie begann Hobbys aufzunehmen und es sich, unabhängig von ihm, gut gehen zu lassen. Da er parallel keine solche Entwicklung durchlief, entstand zwischen beiden ein Abstand, den er nicht mochte, sie jedoch brauchte und genoss.

Einige Stunden lang war dieser Genuss Thema und in mir entstand eine Art Spannungsabfall. Die Klientin hatte Großes erreicht… aber wozu kam sie jetzt noch in die Praxis? Ich überlegte, was nun ein nächster Entwicklungsschritt sein könnte und sprach das Thema Nähe und Sexualität an, welches in meinen Augen den anderen Pol zur jetzt gewonnenen Autonomie der Klientin darstellte. Sie reagierte darauf mit Abwehr und Anspannung. Sie sei doch zu alt für sowas und das sei jetzt nicht dran. Da sie ja dennoch noch kam, fragte ich, ob es ihr schwer falle, Abschied zu nehmen und sie den Kontakt in den Stunden genieße, auch wenn klar sei, dass es gerade gut sei. Dies bestätigte sie und fügte hinzu, dass sie derzeit konsolidieren wolle, was sie erreicht hätte und es nicht durch neue Entwicklungen destabilisieren wolle, bevor sie dazu wirklich bereit sei. Damit war klar, dass einstweilen ein Abschied bevorstand.


Hiermit schließe ich vorerst meine Betrachtungen zum Thema Auftrag. Ich bin dankbar dafür, relativ früh in meiner Laufbahn auf die Notwendigkeit desselben hingewiesen worden zu sein und diese Klarheit erhalten zu haben. Ich wünsche mir und anderen Kollegen möglichst lange die Freude und Begeisterung an dem Beruf, die ich dank dessen fühlen darf.

Einfach mal so halt

Mir ist in den letzten Wochen aufgefallen, wie häufig meine KlientInnen Wörter wie „einfach, „mal“ oder „halt“ in Kontexten benutzen, die in der Regel alles andere als einfach sind.

„Ja, ich weiß, ich sollte halt einfach mal Grenzen setzen oder endlich kündigen.“

„Warum sag ich nicht einfach, was ich will? Das werde ich doch wohl mal hinkriegen, oder nicht?“

„Wenn ich einfach mal im Hier und Jetzt wäre, würde es mir bestimmt besser gehen.“

Oder auch Wörter, die Selbstverständlichkeit suggerieren, wo keine ist. Darunter zähle ich „natürlich“, „sicherlich“, „total klar“, „logisch.“

„Natürlich verdränge ich, dass es mir total beschissen geht.“

„Ich pass nicht auf mich auf, total klar, brauchen wir gar nicht drüber reden.“

„Sicherlich hab ich meine Ehe vor die Wand gefahren. Logisch, denn ich hab halt einfach keine Ziele mehr gehabt.“

Beliebt sind auch „irgendwie“ und „sozusagen“, welche für Unschärfe sorgen, wo Konkretes anecken könnte:

„Ja, jetzt sorg halt irgendwie mal für Ordnung, jetzt sofort, sozusagen.“

„Irgendwie fühle ich mich hier unwohl, ziemlich sehr sogar irgendwie.“

„Das ist, sozusagen, was ich die ganze Zeit sozusagen irgendwie nicht sagen wollte.“

Lange Zeit habe ich mich über diese Diskrepanz zwischen Inhalt und Sprache aufgeregt. Aber inzwischen merke ich, dass ich sie mit entsprechendem Feingefühl und Humor sinnvoll nutzen kann, um schnell an der Abwehr vorbei zu saftigen Themen zu kommen, die brandaktuell, tiefgehend und konflikthaft sind und die die Menschen, mit denen ich arbeite, direkt betreffen.

Füllwörter haben im Sprachgebrauch oft die Funktion, harte Positionen in Watte zu packen, so dass sich niemand daran stoßen kann. Wenn ich „halt irgendwie mal“ eine Grenze setze, klingt das umgänglicher, als wenn ich eine Grenze setze. Es ist einfacher, „irgendwie unzufrieden“ zu sein, wenn zu viel Schärfe und Klarheit über eine Unzufriedenheit die Beziehung in Frage stellen könnte. Und ich finde es durchaus legitim, dieses „Schmiermittel“ bewusst einzusetzen. Genauso nützlich finde ich es, nachzuschauen, was dahinter steckt, denn ich kann diese Wörter auch als hypnotische Sprachmuster verstehen, die eine Abwehrwirkung haben und alles andere als zufällig auftauchen.

Immer da, wo wir es mit großen schwierigen Problemen zu tun haben, können wir schnell unsere innere Stabilität in Gefahr sehen. Probleme und Konflikte lösen mitunter Chaos aus und wir fürchten, den Überblick über unser Leben zu verlieren. Je komplexer das Problem, desto unklarer, wie die Lösung aussehen könnte. Vielleicht gibt es ja auch gar keine und was wäre dann? Kann ich aushalten, das nicht zu wissen? Kann ich die Spannung halten? Diesen Umstand ohne Unterbrechung präsent zu haben kann im Leben für große Unruhe sorgen. Wenn ich jedoch beginne, das Problem optimistisch zu verzerren, kommt es mir nicht mehr so überwältigend vor und ich kann mich auf bestimmte Lebensbereiche konzentrieren. Gleichzeitig zahle ich damit, dass ich die problematischen Bereiche nicht mehr so genau wahrnehme, wie ich müsste, um sie überblicken zu können. Und genau die melden sich mittels der Symptome, mit denen KlientInnen in die Praxis kommen.

Gar nicht mehr so einfach

Wer Interesse hat, bei sich tiefer zu gehen, kann sich dabei beobachten, an welchen Stellen sie/er diese hypnotischen Sprachmuster bei sich selbst enteckt. Um auch nur ansatzweise zu spüren, was sie abwehren, reicht es zunächst, den gleichen Satz ohne die Füllwörter zu sagen und zu spüren, wie er sich anfühlt. Nehmen wir folgenden Beispielsatz:

„Dann werde ich halt einfach irgendwann mal irgendwie mit dem Abnehmen anfangen, kann doch nicht so schwer sein.“

Und jetzt ohne Füllwörter:

„Dann werde ich mit dem Abnehmen anfangen.“

Wenn ich den zweiten Satz lese, werden die Konsequenzen sofort spürbar. Der Klient, den das Thema betraf, sagte daraufhin dazu: „Das kriege ich nie hin.“ Fragen, die im Prozess auftauchten waren: Mit welchen Konflikten kriege ich es zu tun? Welche Funktionen erfüllt das Essen? Was verbinde ich mit Kochen und bewusster Auswahl von Nahrungsmitteln? Mit körperlicher Selbstfürsorge? Wie geht es mir mit Sport und Bewegung? Welche sozialen Erfahrungen verbinde ich damit? Wie beziehe ich mich auf meinen Körper? Was bedeutet es für mich, zu leben und gesund zu sein, bzw. sterben zu können? Mit einem Schlag wird deutlich, was Füllwörter alles abwehren können, ohne dass wir es merken. Und wie komplex die Zusammenhänge sein können, über die wir Überblick brauchen, wenn wir ein Gleichgewicht herstellen wollen.

Im Folgenden nehme ich ein paar weitere Beispiele von oben, lasse die Füllwörter weg und berichte vom dazugehörigen Therapie-Prozess, um zu illustrieren, was sich hinter der vereinfachten Oberfläche verbergen kann.

„Ja, ich weiß, ich sollte meine Grenzen setzen oder endlich kündigen.“

Sofort ist der Konflikt anwesend und sehr deutlich, welche Gravitas er hat. Die betreffende Klientin im Klartext dazu: „Einerseits weiß ich woran ich bin, meine Umstände sind vertraut, meine Miete bezahlt, mein Kühlschrank voll. Ich hasse es, nicht zu wissen, wie es weitergeht. Deswegen verkneife ich mir Tag für Tag zu sagen, was mir stinkt. Andererseits habe ich Kopfschmerzen, wenn ich schon in’s Büro gehe, meine Kollegen schaffen eine Geräuschkulisse, die meine Konzentration unmöglich macht und mein Chef reagiert erst nach der vierten Email auf meinen Hinweis, dass das Programm nicht funktioniert, mit dem ich meine Aufträge erfüllen soll. Ich bin ratlos und weiß nicht, wie ich hierzu eine balancierte Sichtweise finden soll, bei der ich weder zu krass noch zu nachgiebig handel.“

„Ich pass nicht auf mich auf.“

Hier klar zu sein wirft die Frage auf: „Ja, warum denn nicht?“ In der Untersuchung entdeckte die betreffende Klientin, dass sie einen tiefen Konflikt darüber hatte, ob sie überhaupt am Leben sein möchte. Nicht als ganze Person, aber zu einem kleinen Teil, der immer wieder an die Oberfläche kam. Sie hatte als kleines Kind ein paar sehr gewaltvolle Erfahrungen gemacht und war bis heute damit isoliert geblieben. Das heißt, sie hatte nach anfänglichen Versuchen als Kind, die scheinbar ignoriert oder abgeblockt worden waren, niemandem davon erzählt und auch selbst den bewussten Kontakt zu der Erinnerung verloren. Der Teil von ihr, der diese Erfahrung gemacht hatte, wollte jedoch gehört werden und ohne diese Aufmerksamkeit hatte er sich in Verhalten ausgedrückt, das der Klientin immer wieder ein Rätsel war. Sie beobachte sich bei riskanten Überholmanövern, ungeschütztem Sex mit dubiosen Männern oder das wiederholte Vergessen von wichtigen Terminen oder Liegenlassen und Verlieren von wichtigen Gegenständen. Darin drückte sich im Überblick der Unwille aus, sich so auf’s Leben zu konzentrieren, dass ihr so etwas nicht passierte, da sie einen Konflikt mit dem Leben hatte, der unbewusst wirkte. Erst als das bewusst wurde und die Klientin sich aufmerksam ihrem Schmerz zuwenden konnte, änderte sich ihr Verhalten allmählich.

„Ich hab meine Ehe vor die Wand gefahren. Ich hatte keine Ziele mehr.“

„Wie das? Welche Ziele hatten Sie denn gehabt? Was ist damit passiert?“ Ohne die Füllwörter konnte der Klient nicht mehr abwehren, dass dem Ende seiner Ehe ein intensiver innerer Konflikt vorausging, mit dem er sich lieber nicht auseinandersetzen wollte. Er war bei der Arbeit hintergangen worden und hätte aggressiv auftreten oder kündigen müssen, um seine Situation zu verändern, war aber resigniert in sich zusammengesunken und hatte einige Jahre ausgeharrt, ohne dass es besser wurde. Seine Frau bekam das mit und wollte nicht mehr, nachdem sie einige Versuche unternommen hatte, zu ihm durchzudringen. Er nahm das passiv hin und kam mit Depressionen zu mir. Im Kern fand er, dass er glaubte, sich zu wehren würde ihn nur in Gefahr bringen, da ihn ohnehin jeder platt machen würde. Als Kind war ihm das einige Male passiert, vor allem mit seiner Mutter, was er jedoch bis dato nicht bewusst reflektiert hatte. Ohne Bewusstsein für seine frühe Ohnmacht war es ihm unmöglich, eine realistische Einschätzung seiner Möglichkeiten zu finden, die durchaus besser waren, als er glaubte. Das verhalf ihm zu einer Perspektive, in der ihm wieder Ziele einfielen, für die sich einzusetzen sich lohnte.


Diese Beispiele illustrieren, was für ein komplexes Innenleben hinter vermeintlich einfachen Sätzen stecken und wie es Eingang in den sprichwörtlichen „Kaninchenbau“ der Seele sein kann (daher auch das Titelbild). Gleichzeitig möchte ich keine Formel daraus machen, die jederzeit und immer besagt, dass Füllwörter etwas abwehren. Es erfordert entsprechende Selbstwahrnehmung, spüren zu können, ob Sprache und Inhalt sich widersprechen und was das etwaige Unbehagen bedeuten könnte, wenn es nicht zusammenpasst. Dazu hilft es, diese Übereinstimmung oder das Fehlen davon bei sich selbst wahrnehmen zu können. Mit diesen Worten der Vorsicht möchte ich dennoch sagen, dass Abwehr oft sehr raffiniert, versteckt und getarnt ist und psychotherapeutische Prozesse und Gespräche dadurch zäh und schwierig werden können. Diese Füllwörter können hingegen ein einfacher Einstieg sein. Einfach mal so halt 😉

Lust, Spannung und Depression

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

„Ich weiß auch nicht: wenn ich etwas anderes will, als meine Partnerin, schluck ich das ganz lange runter, bis ich explodiere. Dann knallt’s, ich entschuldige mich und es wird wieder ruhig. Dann merke ich aber, dass es wieder so wird wie vorher und ich einfach nicht aus dem Quark komme. Ich will das nicht, denn es wiederholt sich jetzt schon viel zu lange immer wieder so, aber ich weiß mir nicht zu helfen. Können Sie mir sagen, was ich tun soll?“

So oder so ähnlich klingen viele meiner KlientInnen, wenn sie in meine Praxis kommen. Ich stehe dann jedes Mal vor dem Dilemma, dass ich den Auftrag gern erfüllen würde, diese Art von Problemen aber nicht durch Instruktionen lösen kann. Es gibt sicher viele How-to-Ansätze, die in einer Abfolge von Schritten Orientierung geben wollen, wie sich im Leben Konflikte und Entscheidungsprobleme lösen lassen. Und wäre es nicht wunderbar und erleichternd, wenn das einfach funktionieren würde? Wenn wir glauben dürften, dass etwas sicher und erprobt ist und wir blind folgen könnten, ohne enttäuscht zu werden? Aber Situationen im Leben ändern sich schnell und selbst bei erprobten Ansätzen müssen wir jedes Mal neu schauen, wie deren Grundannahmen in der aktuellen Situation auftauchen und wirken.

Da das Anliegen hinter der Frage jedoch Orientierung ist, möchte ich hier einen Ansatz vorstellen, der in der letzten Zeit in der Arbeit mit Klienten und aus der Synthese all meiner vorherigen Erfahrung und gelernten Modelle entstanden ist. Die Kriterien dafür sind die einer guten Landkarte: genug Genauigkeit und Detailliertheit, um eine allgemeine Richtung und Ansatzpunkte zur inneren Erforschung zu liefern, bei gleichzeitigem Freiraum für die Komplexität des Lebens, die sich weder reduzieren noch festlegen lässt.

Spektrum der Spannung

Als Grundproblem möchte ich Folgendes definieren: immer, wenn ich etwas will und die Situation gibt es nicht her, entsteht Spannung. Im obigen Zitat sind es unterschiedliche Wünsche zwischen dem Klienten und seiner Partnerin. Es kann aber auch ein praktisches Problem sein, für das ich noch keine Lösung habe. Oder eine Sehnsucht nach etwas anderem im Leben, das noch nicht da ist.

„Spannung“ ist ein Begriff, den wir sowohl für Angenehmes als auch Unangenehmes verwenden, das heißt, es gibt eine Art Spektrum dafür, wie wir Spannung erleben. Und je nachdem, wo wir auf dem Spektrum sind, gehen wir unterschiedlich damit um… oder bleiben stecken und kommen nicht weiter, wie der zitierte Klient. Im folgenden Schaubild will ich dieses Spektrum anhand des Yin/Yang-Symbols illustrieren:

Schaubild 1

Das Symbol aus dem Taoismus steht für Wandel, der sich aus dem Spiel zwischen Yin und Yang ergibt. Yang (weiß) repräsentiert die Ordnung und Yin (schwarz) das Chaos. Ordnung und Chaos verstehe ich weder als gut noch schlecht, denn Chaos kann sowohl zerstörerisch als auch fruchtbar sein und Ordnung kann stabilisieren, aber auch ersticken. Aus diesem Grund gibt es keinen Endzustand im Leben, der einfach perfekt wäre, sondern es ist immer ein Balanceakt, der Liebe, Wachheit und Klarheit erfordert, wenn er gelingen soll.

Die Linie in der Mitte soll das Spektrum der Spannung bezeichnen, eingeteilt in drei Zonen: eine Stabilitätszone, eine Lernzone, in der wir auch Sinn erleben, und eine Panikzone. Wenn wir etwas „spannend“ nennen, sprechen wir in der Regel von der Lernzone. Die Panikzone drückt sich in Worten wie „zu viel“, „Albtraum“ oder „höllisch“ aus. Die Stabilitätszone zeichnet sich durch Ruhe und Entspannung aus, kann aber auch als langweilig und erdrückend erlebt werden.

Übertragen auf das Leben heißt das, dass wir drei verschiedene Arten von Situationen haben. In der Stabilitätszone (1) wissen wir z.B. wo wir wohnen, wie wir den Kühlschrank voll kriegen und zu wem wir gehen, wenn wir uns unterhalten wollen. Wir haben Überblick und leben in bekannten Gefilden. Das kann wunderbar und erholsam sein, wenn wir zuvor lange ohne diese Ruhe ausgekommen sind, aber auch deprimierend und einengend. In der Lernzone (2) beschäftigen wir uns mit Problemen, die uns weiterbringen oder unser Leben verbessern, ohne die Sicherheit zu haben, dass es funktioniert. Es ist aufregend und „spannend“: ein angenehmes Kitzeln, die Lust etwas zu beeinflussen oder zu meistern. Hier erleben wir auch „Flow“ und Sinn – was wir tun ist bedeutsam und nicht egal. Wir sind am Rande unserer bekannten Welt, ohne diese jedoch komplett zu verlassen. Die Panikzone (3) schließlich taucht immer da auf, wo wir völlig im Unbekannten sind. Plötzliche Veränderungen wie der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust von Arbeit, Wohnung oder Gesundheit, die Zerstörung eines Traums oder lebensbedrohliche Situationen können so viel Spannung erzeugen, dass wir überfordert oder völlig am Ende sind. Und wenn wir überfordert sind, versuchen wir die Spannung auf alle erdenkliche Art und Weise zu reduzieren.

Das heißt, wie wir mit Spannung umgehen können, hängt von unserer Fähigkeit ab, mit Komplexität umzugehen. Wann immer ich etwas will, bekomme ich es mit verschiedenen Bedingungen, Ressourcen und den Grenzen und Wünschen anderer Menschen zu tun. Mein Leben wird also komplexer und chaotischer, wenn ich mehr will. Und unter Umständen so komplex, dass ich die Spannung nicht aushalte und sie um jeden Preis reduzieren will. Das ist nur menschlich, verständlich und geschieht meistens unbewusst, aber der Preis kann hoch sein und in sehr schmerzhafte Situationen führen, aus denen Menschen nur noch mit professioneller Hilfe herausfinden.

Spannung reduzieren vs. halten

Ich sehe im Prinzip zwei unreife und eine reife Art, Spannung zu reduzieren. Die unreifen Arten entwickeln wir, wenn wir klein sind. Und ohne Korrektur oder Reflexion kann es sein, dass wir darüber auch nie hinauswachsen. Die reife Art braucht Aufmerksamkeit und Bewusstsein und wird wahrscheinlich nie zur Gewohnheit, weswegen wir achtsam dran bleiben müssen, um nicht in die Unreife abzurutschen.

Wenn Spannung entsteht, weil zwei Menschen etwas Unterschiedliches wollen, kann ich Spannung reduzieren, indem ich Unterschiede ausmerze und das, was jemand will, für unwichtig erkläre. Das kann ich mit mir selber machen (Depression) oder mit meinem Gegenüber (Druck ausüben). Dafür gibt es Myriaden von unterschiedlichen Strategien und manchmal ist dieses Motiv sehr versteckt, aber das Grundprinzip ist immer das gleiche: Der Raum reicht nur für einen Willen, also muss einer der beiden seinen Willen aufgeben. Wenn z.B. ein 3jähriger Lust hat, mit der Mama zu spielen und sie will sich ausruhen, passt das nicht zusammen und erzeugt Spannung. Der Junge kann nun wütend auf seine Mama sein und sie doof finden (Druck in Form von Entwertungen, Vorwürfen und Forderungen ausüben), sich selbst für seine Lust zum Spiel beschimpfen (Depression, Selbst-Entwertung) oder versuchen, eine wirkliche Lösung zu finden. Für Letzteres muss er die Spannung aber halten, damit genug Zeit da ist, etwas anderes passendes zu finden (reifer Umgang).

Da wir als Kinder in der Regel nicht in der Lage sind, uns unabhängig von den Eltern zu versorgen oder uns Alternativen zur elterlichen Versorgung vorzustellen, kann die Spannung schnell zu viel werden und uns in die Panik-Zone katapultieren. „Was wenn die Mama mich nicht mehr will? Wo komm ich dann unter, wo krieg ich was zu essen, wer passt auf mich auf?“ Das heißt, der Druck kann sehr groß sein, auf das eigene Wollen zu verzichten, um die Beziehung nicht über ein bestimmtes Maß hinaus zu gefährden. Da das Wollen des Jungen zu Spannung in der Beziehung zur Mutter führt, kann er sich davon distanzieren und es in sich runterdrücken, also deprimieren. Das stabilisiert die Beziehung, kostet ihn aber den Ausdruck von Lebensenergie.

Hat der 3jährige eine Mutter, die ihre eigenen Wünsche für unwichtig erklärt, kann es aber auch sein, dass er sie mit Druck dazu bewegen kann, sich nicht auszuruhen, sondern mit ihm zu spielen. Das sieht wie ein Sieg aus, ist aber keiner, wenn wir bedenken, wie es sich anfühlt, wenn jemand aus Druck heraus etwas für uns tut: der Junge wird kaum Freude am Spiel mit der Mutter haben, wenn sie dafür ihr Wollen aufgegeben hat. Es kann dennoch sein, dass das besser ist als keine Interaktion und der Junge lernt, dass er mit Wutausbrüchen dafür sorgen kann, dass andere sich seinem Willen fügen, ohne dass er in den Genuss echter gemeinsamer Erfüllung kommt.

Denn für diese Erfüllung braucht es die Bereitschaft, die Spannung zu halten, alle Wünsche darin gelten zu lassen und einen Raum für neue Möglichkeiten zu öffnen. Hat die Mutter diese Kapazität entwickelt, kann sie mit dem Jungen so in Kontakt gehen, dass der Junge in seinem Wunsch gesehen wird, ohne dass sie ihren eigenen Wunsch aufgibt. Allein dieses „gesehen werden“ kann die Spannung sehr reduzieren, weil dadurch spürbar wird, dass die Beziehung durch die unterschiedlichen Wünsche nicht in Gefahr gerät und immer noch Potential besteht, gemeinsam zur Erfüllung zu kommen. Dafür muss die Mutter ihren eigenen Wunsch nach Erholung aufschieben können, ohne ihn aufzugeben, den Beziehungsraum halten und andere Möglichkeiten der Erfüllung auftauchen lassen, die konkret in eine Verabredung münden können. Diese Erfahrung kann den Jungen dazu ermutigen, auszudrücken, was er sich wünscht und gleichzeitig wahrzunehmen, was seine Mutter möchte, ohne dass einer dafür zurückstecken muss.

Oft genug jedoch haben Eltern diese Kapazität nicht, sind selber überfordert und haben keine Ressourcen, um den Raum so zu halten. Das heißt, das fordert uns als Kindern eine feine Abstimmung dessen ab, was die Beziehung aushält und was nicht. Und aus dieser Abstimmung bilden sich die unbewussten unreifen Strategien, Spannung zwischen Menschen so zu reduzieren, dass wir irgendwann in genau so einer Situation landen, wie mein Klient.

Lust

Wenn ich sage, dass etwas zu wollen das Leben komplexer macht, ist das nur eine Seite davon. Die andere Seite ist, dass das Wollen an sich unserem Leben Saft, Energie und Würze gibt. Sind wir in Kontakt damit, dass wir Lust auf etwas haben (sowohl sexuell, als auch ganz allgemein auf alles Schöne im Leben), belebt uns das, die Stimmung wird lustiger und dynamischer. Unser inneres Feuer, unsere Kraftquelle ist davon abhängig, dass wir es uns erlauben, etwas zu wollen. Fehlt uns dieses Feuer, fehlt uns der Grund, morgens aufzustehen, uns ins Unbekannte vorzuwagen oder etwas anzugehen, was wir noch nicht kennen. Außerdem fehlt uns die Kraft, dem Wollen anderer Menschen zu widerstehen und unseren eigenen Weg zu gehen, was sich in Angst und Erstarrung ausdrücken kann, aus der heraus wir uns anderen Menschen anpassen oder sie lieber meiden, uns isolieren und vereinsamen.

Erst in diesem Licht wird mir klar, warum Sigmund Freud die Sexualität so wichtig fand. Im historischen Kontext sehe ich, dass die sexuelle Aufklärung zu seiner Zeit hoffnungslos unterentwickelt war. Manche Frauen in den Schichten, die sich Psychoanalyse leisten konnten, hatten bis zur Hochzeitsnacht keine Ahnung, was Sexualität überhaupt ist, weil sie für die gesellschaftliche Stabilität systematisch davon ferngehalten wurden. Entsprechend riskant war es eben auch, dass Freud dieses Tabu brach. Eine der wichtigsten Begründungen für dieses Vorgehen war, dass er eine Verbindung zwischen Körper und Seele suchte, die seine Psychoanalyse auf legitimen medizinischen Boden stellte. Die Sexualität war diese Verbindung.

Wichtiger erscheint mir allerdings, dass die Lebensenergie der Lust unabdingbar dafür ist, dass das Leben Freude macht. Sie ist Treibstoff und Anlass für Chaos zugleich, weil sie in Bewegung bringt, ohne dass man wissen kann, wo einen das hinführt. Auch in Freuds Triebtheorie ist von dem ewigen Konflikt zwischen den Trieben und der Gesellschaft die Rede, der sich nicht reduzieren, höchstens umwandeln und sublimieren (veredeln) lässt. Ich habe nicht den Eindruck, dass Freud wusste, wie er in diesem Konflikt gut für sich sorgen konnte, denn er soll gesagt haben, dass er sich von der Psychoanalyse nicht mehr verspreche, als unneurotisches Unglück. Das klingt für mich auch wieder wie ein deprimierender Versuch, Spannung zu reduzieren, statt offen für erfüllende Möglichkeiten zu bleiben, mit der entsprechenden Unwissenheit, nicht zu wissen, ob und wie das gelingen kann.

Ich habe meinem Lehrer Gustl Marlock die Erfahrung zu verdanken, wie lustig Lust sein kann. In der Supervision mit ihm habe ich regelmäßig schallend gelacht, wenn er mich auf versteckte Lust und Versuche hingewiesen hat, wie Menschen vor sich selbst verstecken, dass sie etwas oder jemanden wollen. Das finde ich besonders komisch, wenn jemand aus der Depression heraus den Eindruck zu erwecken versucht, er/sie sei gar nicht da und sei total harmlos. Das ist menschlich verständlich (Spannung reduzieren) und einfach nicht wahr. Und auch mit meinen KlientInnen mache ich immer wieder die Erfahrung, dass das lustig ist. Es macht irgendwie unheimlich Spaß, aufzudecken, dass wir alle sexuelle Wesen sind, die Freude daran haben, Lust zu fühlen und auszudrücken und zu spielen, selbst wenn wir unheimliche Angst vor der Komplexität haben, mit der wir es dann zu tun bekommen. Allein das reicht mir schon, um spüren zu können, wie wichtig Lust für ein gesundes und gelungenes Leben ist.

Erfüllung finden

Da das Leben komplexer wird, wenn wir bemerken, wie wir unsere Lust für unwichtig erklären und wirklich zulassen, dass wir uns Erfüllung in Beziehung mit anderen Menschen wünschen, ohne, dass diese sich aufgeben, wird genau hier der Ruf nach Rezepten besonders laut. Das Chaos wird größer, die Kriterien für gelungenes Handeln nehmen zu, es kann uns schnell zu viel werden und uns in die Panik-Zone katapultieren. Aber Rezepte und How-to-Ansätze haben die Neigung, die Komplexität zu reduzieren und nicht wirklich zu erfassen, was gerade passiert. Deswegen will ich mich hier nur auf Bedingungen konzentrieren, die die Erfüllung wahrscheinlicher machen, aber mitnichten garantieren können.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich für mich, dass Erfüllung nur dann gelingt, wenn wir unsere unreifen Strategien zur Spannungsreduktion erkennen, so dass wir überhaupt eine Wahlfreiheit zu neuen Möglichkeiten wahrnehmen können. Diese Strategien werden klassisch-psychoanalytisch Abwehr genannt und können sehr verschiedene Formen haben (hier ein Übersicht), laufen aber im Kern immer auf „was ich will ist nicht wichtig“ bzw. „was du willst ist nicht wichtig“ hinaus. Und hier ist mitunter wirklich viel Zeit und Reflexion mit einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten erforderlich, um diesen Mustern auf die Spur zu kommen, weil sie manchmal erstaunlich gut versteckt sind und sich als etwas ganz anderes tarnen, was uns unreflektiert vollkommen normal vorkommt.

Erkennen wir unsere Abwehr, wird das Leben vermutlich erstmal schwieriger, weil wir mehr bedenken müssen. Die Angst und Spannungen, die dabei auftauchen, brauchen gewissermaßen einen Raum, in dem sie sich ausbreiten können, damit wir unter ihrem Druck nicht um uns schießen oder uns gleich wieder deprimieren. Um diesen Raum zu schaffen und zu erweitern meditiere ich täglich und halte den Fokus darauf, zu fühlen, was in meinem Körper passiert, ohne dass ich etwas tu oder darüber nachdenke. Das erlaubt mir die Erfahrung zu fühlen, ohne Handeln zu müssen. Und je öfter ich das erlebe, desto mehr Kapazität habe ich, in wirklich wichtigen Momenten inne zu halten und einen bewussten Umgang mit Lust und Spannung zu wählen. Außerdem spreche ich gerne offen mit Freunden und Kollegen über meine Erfahrung, was ihr Raum verschafft und das Halten von Spannung erleichtert.

Ebenfalls wertvoll erscheint mir die Klarheit, dass Spannung zu halten notwendig ist, wenn ich neue Möglichkeiten im Unbekannten erforschen will. Ich denke an eine Klientin, die single ist und sich wünscht, Sexualität zu leben. Dieser Wunsch und die Abwesenheit eines geeigneten Partners erzeugen Spannung. Die Spannung kann sie sofort reduzieren, indem sie sich sagt „Einen Mann zu finden ist sowieso nix, da fällt man nur rein.“ Oder „Ich bin sowieso nicht so attraktiv, mich will ja niemand.“ Außerdem „Diese Dating-Portale ziehen einem nur das Geld aus der Tasche. Ich lese lieber Liebesromane, die bringen auch Gefühle.“ Ganz egal, ob diese Sätze wahr sind oder nicht, sie haben den Effekt, dass die Spannung kollabiert, weil entweder der Wunsch unwichtig ist oder die Möglichkeiten entwertet werden. Unterm Strich entfernt sich die Klientin von ihrer Lust und bleibt in einer stabilen, aber deprimierten Position. Ist sie in der Lage, die Spannung zu halten, kann sie sagen „Ich wünsche mir erfüllenden Sex mit einem Mann, der mir gefällt, auch wenn ich noch nicht weiß wie, mit wem, wann und ob ich das erleben kann.“ Das ist aufregend und die Angst vor Enttäuschung ist gleich mit an Bord, aber mit einiger Zeit können ihr Phantasien kommen oder Gelegenheiten entstehen, in denen sie eine Möglichkeit zur Erfüllung erkennt und diese verfolgen kann. Das ist nicht möglich, wenn sie die Spannung nicht hält.

Einsatz in der Praxis

Anhand des Beispiels des Klienten vom Anfang möchte ich nun nochmal demonstrieren, wie die verschiedenen Aspekte von Spannung, Lust und Erfüllung in der Praxis zum Vorschein kommen können.

Der Konflikt des Klienten hing sich vor allem an der Wahl des Urlaubsortes auf. Er wollte in die Berge, seine Frau an’s Meer. Darunter liegend ging es darum, ob wirklich Raum für die Wünsche beider da war, ohne, dass einer nachgeben musste. In der Regel gab er nach, weil ihm die interpersonelle Spannung schneller zu viel wurde als seiner Frau und er lieber Stabilität und Frieden wollte. Dann aber gab es Momente, in denen er so unter innerer Spannung stand, dass er explodieren und seine Frau anschreien konnte. Das tat ihm danach wieder leid, er entschuldigte sich, aber alles blieb beim Alten. Um aus dieser Spirale herauszukommen, war es vor allem wichtig herauszuarbeiten, wie der Klient es schaffte, seinen Willen für unwichtig zu erklären. Das war relativ einfach, denn er erwischte sich bei fatalistischen Gedanken wie „Ja, wenn man zusammen ist, muss halt immer einer wegstecken.“ oder „Sie braucht ja auch ihre Erholung und es ist besser für mich, wenn sie erholt ist, als wenn ich mich durchsetze und sie nörgelt.“ Diese Gedanken wirkten sofort deprimierend und es war befreiend, das wahrzunehmen und Abstand dazu zu gewinnen, aber der Hintergrund war noch tiefer.

Hinzu kam nämlich, dass seine Frau ihm vorwarf, er hätte nicht genug Zeit für sie. Und da er einen zeitintensiven Job hatte, konnte er das auch verstehen. Gleichzeitig hatte er Angst vor der intimen Begegnung mit seiner Frau, weil ihm seine eigenen Gefühle nicht geheuer waren und er seinen Tag lieber so plante, dass dafür kein Platz war. Als ihm das klar wurde, fiel der Groschen. Ihm wurde bewusst, dass er Zeit seines Lebens geglaubt hatte, er hätte liebevollen Kontakt nicht verdient und müsste dafür schuften und Aufgaben erfüllen. Auch diese Überzeugung erkannte er als Abwehr, denn so lange er schuftete, hatte er keine Zeit zu merken, dass er sich diesen Kontakt wünschte. Sich dessen bewusst zu werden war einerseits eine große Befreiung, andererseits konfrontierte es ihn mit dem Chaos seiner totalen Ahnungslosigkeit darüber, wie emotionaler Kontakt für ihn erfüllend sein könnte. Die Versuchung war groß, die Spannung auch hier wieder zu reduzieren, indem er sich oder die Möglichkeit auf Erfüllung entwertete. Aber er blieb dran und konnte seiner Frau mitteilen, dass auch ihm der emotionale Kontakt fehle, er sich aber unklar darüber sei, wie das ginge. Wider sein Erwarten nahm die Frau seinen Selbstausdruck dankbar und wohlwollend auf, erleichtert darüber, authentischen Kontakt zu ihm zu bekommen.

Diese Erfahrung war völlig neu für ihn und nach einer Weile hatte er Gelegenheit, seine Entwicklung am Urlaubsthema zu erproben. Wie gewohnt spürte er, dass seine Frau wirklich gerne an’s Meer wollte und bemerkte die Tendenz in sich, sich aus der Gleichung zu nehmen und ja zu sagen, obwohl er nicht wollte. Statt das zu tun, sprach er sie an und sagte, er wisse noch nicht, wie das ginge, aber er wolle sehr gern mit ihr an einem Ort Urlaub verbringen, den sowohl er als auch sie gerne ansteuern würden. Dafür sei ihm wichtiger, dass sie nicht schnell zu einer Einigung kämen, sondern dass zunächst einmal Möglichkeiten auftauchen und gefühlt werden könnten, damit keiner der beiden vorschnell in Versuchung käme, seines/ihres aufzugeben. Tatsächlich war seine Frau erstaunt und ebenfalls sehr herausgefordert, in diesem Moment, da auch sie es schwer fand, diese Offenheit auszuhalten. Gleichzeitig konnte sie aber spüren, dass er wirklich an einer gemeinsamen Lösung interessiert war, die sie beide genießen könnten. Das hatte sie zuvor vermisst, ohne dass sie es hätte formulieren können. Für beide entstand zum ersten Mal Raum dafür, zu erzählen, was sie an ihren Präferenzen liebten und zu erfahren, was die Lust des anderen war.

Die Lösung war letztlich recht einfach: sie fuhren in die Berge. Nicht, weil er sie dazu überredet hatte, sondern weil im Kontakt so spürbar war, dass beide mit ihren Wünschen Raum bekommen hatten und letztlich in’s Gewicht fiel, dass sie die letzten Jahre nicht in den Bergen gewesen waren. Darüber entstand in der Frau der Wunsch, dem Klienten seinen Wunsch zu erfüllen und Wege zu finden, auch dort entspannt zu sein.

Inspirationsquellen

Die Gedanken in diesem Artikel sind eine Verdichtung von vielen Betrachtungen, die ich in den letzten Jahren kennenlernen durfte. Und in den letzten Wochen hatte ich immer wieder Gelegenheit, KlientInnen von mir davon zu erzählen, um ein Framework dafür zu schaffen, was uns bei einer gemeinsamen Sprache und Perspektive helfen könnte. Ich sehe dabei viele Parallelen zu anderen Quellen, die mich sehr beeinflusst haben und von denen ich drei hier erwähnen möchte.

Allen voran die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg, die den unreifen und reifen Umgang mit Spannung sehr schön beschreibt, wenn auch in anderen Worten. Die Erfahrung, dass ich mich auf das Wagnis einlassen kann, nicht zu wissen, was die Lösung ist und dennoch erfüllt daraus hervorzugehen, habe ich im Kontext der GFK sehr oft machen dürfen. Rosenberg hat hier Grandioses geleistet. Gleichzeitig hat er für meinen Geschmack zu wenig herausgearbeitet, wie schwierig es sein kann, mit dieser Spannung umzugehen und was ihr Bezug zur Lust ist. Ich vermute, dass er selbst gut mit seiner Lust in Kontakt war, denn in all seiner Friedfertigkeit und Leidenschaft für Verbundenheit wirkte er nie „kastriert“, während andere das gleiche sagen konnten und völlig zahnlos wirkten. Ich schätze, dass ihm das selber nicht so bewusst war. Kritisch sehe ich auch, dass er sich die unreifen Umgangsformen als Konsequenz gesellschaftlicher Strukturen erklärt hat, die man reformieren müsste, damit Menschen flächendeckender in der Lage wären, miteinander Erfüllung zu finden. Ich glaube eher, dass die gesellschaftlichen Strukturen zunächst Ausdruck der menschlichen Not mit Spannung sind und nicht umgekehrt, aber dennoch teile ich seine Vision eines intelligenteren Umgangs damit. Ich kann die GFK nur wärmstens empfehlen, um mehr Licht in’s Unbewusste zu bringen und Räume zu erschließen, in denen keiner nachgeben muss.

Den Gedanken von Chaos und Ordnung habe ich in der Form von Jordan B. Peterson. In zahlreichen Vorlesungen und seinem Buch 12 Rules for Life beschreibt er, wie Chaos und Ordnung als archetypische Prinzipien in allen Lebensbereichen auftauchen und eine ganz grobe Orientierung dafür bieten können, wie wir mit dem Horror im Leben umgehen können. Ist klar, dass das Chaos nicht zu vermeiden ist, kann uns das Mut geben, uns dem zu stellen und etwas Bedeutsames zu tun, auch im kleinen Bereich unseres eigenen Lebens. Ich mag Peterson für seine Aufrichtigkeit und Klarheit, auch wenn ich mir manchmal mehr Freundlichkeit und Wärme wünschen würde – für ihn selbst und andere.

Und wie schon weiter oben erwähnt, bin ich sehr dankbar für den Einfluss von Gustl Marlock. In der Arbeit mit ihm habe ich immer wieder erlebt, wie er weite Räume entstehen lässt, indem er Fragen stellt, die bestimmte fixe Vorstellungen auf die Probe stellen. In einem Moment fühlt sich die Situation völlig verfahren an, im nächsten geht ein weiter Raum der Möglichkeiten auf, der noch überhaupt nicht zu füllen ist, aber zu fühlen. Oft habe ich gerätselt, wie er das fertig bringt. Entscheidend scheint mir zu sein, dass ihm die Spannung, nicht zu wissen wie und ob etwas gelingen kann, kaum anzumerken ist, während er sehr sensibel für ungenutztes Potential ist, das er mit seinen Fragen antippt. Ich kenne niemanden sonst, der in der Arbeit so bereit zu sein scheint, offen zu lassen, wo ein Prozess hingeht und sich nicht drängt, eine Lösung zu finden, bevor sie nicht von sich aus auftaucht. Und auch das erfordert die Fähigkeit und Bereitschaft, die Spannung zu halten.

Ich hoffe dieser Artikel kann Grundlage für viele fruchtbare Gespräche sein.