Selbstfürsorge

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

Manchmal werde ich gefragt, wie ich es aushalte in meiner Position als Psychotherapeut von so viel persönlichem Leid, Elend und Schmerz zu erfahren. Ich höre in meinem Arbeits-Alltag von Zeit zu Zeit von heftigen Geschichten, in denen von Gewalt, Gemeinheiten, Grausamkeit und Einsamkeit die Rede ist. Nicht selten sind diese Erfahrungen so verinnerlicht, dass sich meine KlientInnen inzwischen (meist unbewusst) längst selbst antun, was ihnen angetan wurde. Und um ehrlich zu sein, manchmal halte ich es nicht aus. Manchmal verdränge ich, werde taub oder rette mich in rationale Distanz. Ich versuche die Übersicht zu behalten, tröste mich mit den Möglichkeiten der Entwicklung und Heilung und hoffe auf Besserung über die Zeit hinweg. Aber im gegenwärtigen Moment bin ich manchmal überwältigt.

Das mitzubekommen finde ich gar nicht so einfach. Zuweilen merke ich es erst nach Wochen, manchmal schon direkt nach einer Stunde, in der etwas sehr Intensives zur Sprache kam. Es kann sich anfühlen, als sei die Welt etwas weiter entrückt, meine Sinne benebelt oder verschlossen. Innerlich sage ich mir, das zu halten sei meine Rolle, dafür sei ich ausgebildet und würde dafür bezahlt. Ich sage mir, ich dürfe nicht davor einknicken. Damit einher kann die bange Frage gehen, wie ich diese Aufgabe erfüllen sollte, wenn ich mir eingestünde, dass mich der Schmerz so einnimmt. Solch ein Zweifel kann nicht nur mein Einkommen bedrohen, sondern auch das Sinn-Erleben in der Arbeit, für das ich im Allgemeinen sehr dankbar bin.

Aber zuweilen nimmt der Schmerz mich ein. Und wie soll er das auch nicht tun, wenn ich wirklich offen für das bin, was meine KlientInnen mir erzählen? Es prallt nicht an mir ab, wenn ich erfahre, wie einsam, wütend, traurig und verletzt Menschen sein können. Wie festgefahren in Situationen, die unbefriedigend oder existenziell bedrohlich sind. Wie Menschen ein Leben führen können, bei dem der Tod wie eine Erleichterung erscheint: endlich Freiheit von der Last des Schmerzes über innere und äußere Konflikte und der Verantwortung, sie lösen zu müssen, wenn etwas anderes, besseres passieren soll. Zuweilen erfahre ich, wie erbarmungslos Menschen einander (und auch sich selbst) benutzen, um ihre eigenen Abgründe, tiefsten Ängste und Verletzungen nicht fühlen zu müssen. Wie eingeschränkt die Sicht sein kann, völlig entrückt von jeglichem Mitgefühl, weder für sich selbst noch andere. All dies kann schwer auf meinem Herzen liegen und fragt nach einem reifen Umgang.

Im Artikel zum Thema Auftrag habe ich beschrieben, wie wichtig ich es in helfenden Berufen wie dem meinen finde, klar zu unterscheiden, was meine KlientInnen in der Therapie erreichen möchten und können, gegenüber dem, was ich für möglich oder richtig halten könnte. Dass es zum einen zu einem ethischen Umgang, aber auch zur Selbstfürsorge gehört, zu erkennen, ob ich als Therapeut meine Kindheitserfahrungen auf mein Gegenüber projiziere und versuche, den Jungen, der ich war, stellvertreten durch eine Klientin oder einen Klienten, indirekt zu trösten. Erkenne ich das nicht, kann ich mich in diesem Versuch verausgaben und sowohl meinen Klienten als auch den Jungen in mir verfehlen. Denn wirklich trösten kann ich mich nur, wenn ich Kontakt zu mir habe. Und mein Gegenüber braucht vielleicht etwas ganz anderes, als der Junge, der ich war.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich darüber schreiben, dass zur Selbstfürsorge noch etwas anderes gehört: Raum für den Schmerz, der im Mitgefühl und in der Anteilnahme am Schicksal anderer in mir selbst ausgelöst werden kann, ganz ohne dass es direkt etwas mit meiner Biographie zu tun hätte. Pro forma will ich erwähnen, dass an dieser Stelle im Psycho-Jargon von „Psycho-Hygiene“ die Rede ist. Diesen Begriff mag ich jedoch nicht, da er etwas sehr Steriles hat und die Seele damit wie zum Badezimmer wird, welches man mit Meister Proper zum Glänzen kriegen könnte. Bei der Selbstfürsorge, von der ich spreche, geht es eben nicht darum, dass etwas glänzt, sondern dass es beachtet wird, genau wie es gerade ist – egal wie unordentlich, durcheinander, schmutzig oder bedrohlich es wirken mag.

Die Macht der Aufmerksamkeit

Dieser Raum für den Schmerz, von dem ich dabei spreche, hat etwas sehr einfaches, etwas sehr herausforderndes und auch etwas sehr mysteriöses und wunderbares. Ich erinnere mich an einen Klienten, der in einer Gruppentherapiesession sagte „Der Schmerz ist im Leben nicht vermeidbar, aber es ist die Solidarität miteinander, die ihn erträglich macht.“ Und genau dieses Erleben von bewusster Beachtung für das, was so weh tut, macht diesen Raum aus. Dabei ist heraufordernd dafür zu sorgen, dass es keinen Druck gibt, dass die Dinge anders sein sollten, als sie sind – kein Ziehen, Verzerren, Aufhübschen oder Dramatisieren. Da wir Druck-machen in der Regel unbewusst gewohnt sind, bedarf dies oft einiger Bewusstwerdung und Übung. Reines Gewahrsein für das, was ist, wirkt wie Sonnenstrahlen bei einer Blüte: Die Wärme kann die Lust in ihr wecken, sich von innen her zu öffnen und das Licht zu empfangen.

Wenn ich darüber schreibe, spüre ich, wie mir die Qualität dieses Raumes mit jedem Wort zu entrinnen droht. Es ist ein körperlich sinnliches Gewahrsein dessen, was in genau diesem Moment in meinem Erleben und in meinem Körperempfinden geschieht. Worte können wie Boten sein, die meine Aufmerksamkeit an den Platz schicken, der genau jetzt lebendig ist. Wenn ich diesen Raum in mir aufsuche, geht es jedoch nicht darum, die richtige Sprache zu finden. Es geht um die reine Aufmerksamkeit. Beachte ich mein lebendiges Empfinden genau dort, wo es gerade wahrnehmbar ist, können Worte auch im Weg sein.

Diese Präsenz mit einem anderen Menschen zu erleben, der in dieser Weise anwesend, interessiert und offen ist, ist ein großes Geschenk und kann sehr heilsam sein. Es war Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), der mir darin das erste Vorbild war. Er sprach von Empathie, Mitgefühl, dem Fokus auf dem, was in unserem Inneren lebendig ist und davon ausgehend kreative Ideen darüber, was das Leben wundervoll machen könnte. Und wenn ich ihn in diesem Sinne mit anderen Menschen arbeiten sah und hörte, ist mein Herz sehr schnell warm geworden. Er war sehr treffsicher darin, intuitiv einzuschätzen, worum es seinem Gegenüber gerade gehen könnte, was es wohl fühlen mag und was ihm wichtig sein könnte. Und selbst der intensivste Schmerz konnte auf diese Weise Raum bekommen, sich ausdehnen und dann einer körperlich spürbaren Erleichterung weichen.

Überflutet

Auch Rosenberg hat mit vielen Menschen gearbeitet, die tiefes Leid erlebten oder in bedrohlichen Konflikten steckten. Dabei kam er mit dem gleichen Elend in Berührung, das auch mich immer wieder mal einzunehmen droht: Gewalt, Grausamkeit, Einsamkeit, Verzweiflung, Leere, Hoffnungslosigkeit. An einem bestimmten Punkt auf seinem Weg wurde er auf Joanna Macy aufmerksam, die mit der Entmutigung von politischen Aktivisten befasst war, die aufkam, wenn die Sache, die ihnen am Herzen lag, auswegslos und der Schmerz über die Lage der Welt unüberwindbar zu sein schien. Sie prägte den Begriff der Verzweiflungsarbeit, die anerkennt, dass unser Herz Raum für das Erleben und den Ausdruck von dem Schmerz braucht, den wir fühlen, wenn wir mit schwierigen Problemen und Leid befasst sind. Wenn wir von diesem Schmerz nicht beherrscht werden wollen, brauchen wir einen Bewusstseinsraum, der größer ist, als der Schmerz darin. Der Unterschied lässt sich mit der Frage beschreiben: „Habe ich den Schmerz oder hat der Schmerz mich?“

Ohne diesen Raum für Beachtung und Empathie mit dem Schmerz, kann er sehr mächtig und handlungsleitend werden. Meistens taucht er zunächst unbewusst auf, in passiver Aggression und ich spüre einen Widerstand dagegen, wirklich für jemanden da zu sein oder bürokratische Aufgaben zu erledigen (mehr noch als sonst). Vielleicht spüre ich in Sitzungen auch Druck, etwas erreichen zu müssen und werde ungeduldig mit KlientInnen, wenn sich augenscheinlich nichts bewegt. Wenn ich nicht in Kontakt mit meiner eigenen Lebendigkeit bin, fällt es mir schließlich auch schwer, konzentriert und offen für die Lebendigkeit in meinen KlientInnen zu sein. Der Schmerz kann sich aber auch in Leere äußern, an Stellen, an denen ich mich normalerweise freue. Diese Leere ist das Resultat von Depression, also wortwörtlich das unbewusst aktive Wegdrücken von Schmerz.

Auch der Begriff des Traumas verweist auf einen Zustand, in welchem der Schmerz eher mich hat, als dass ich den Schmerz habe. Einfachere Mechanismen, die wir gegen intensive Bedrohungen mobilisieren können, haben Vorrang vor bewussten, feinsinnigen Antworten auf komplexe Situationen. Wenn ich den Drang spüre, zu kämpfen oder zu flüchten, wenn ich von innen her Nebel spüre, der mich (manchmal angenehm) betäubt oder wenn ich alles in mir mobilisiere, um Frieden in eine Beziehung zu bringen, koste es was es wolle, hat der Schmerz eher mich, als dass ich ihn habe. In seltenen Fällen mag das eine rettende Antwort sein, aber meistens richten wir damit mindestens ebenso viel Schaden an.

Auftauchen und Auftauen

Rosenberg schuf einen Rahmen für den Bewusstseinsraum, der größer als der Schmerz ist, indem er von „Feiern und Bedauern“ sprach und dafür in seinen Intensiv-Workshops ein Ritual vorstellte, das jeden Tag ein fester Programmteil war. In vielen Trainings, Seminaren und Festivals für Gewaltfreie Kommunikation gibt es dieses Ritual auch heute noch. Es lädt dazu ein, ganz im Einklang mit dem eigenen Erleben auszudrücken, was mich heute gefreut und was mich geschmerzt hat. Dabei geht es nicht um eine Veränderung des Zustandes oder der Situation, um eine Wiedergutmachung oder Lösung eines Problems, weil all diese Absichten von dem gegenwärtigen Erleben wegführen können. Es geht darum, dass ich es fühlen und ausdrücken kann und mein Bewusstsein für die Gefühle dadurch größer in mir wird, als meine Gefühle selbst es sind. Auf diese Weise komme ich aus einem Zustand des „überflutet-seins“ heraus, wie als wenn ich endlich den Kopf über Wasser strecken und atmen könnte. Ich werde weiter unten konkrete Hinweise darauf geben, wie das gehen kann.

Rosenberg sprach dabei nicht nur vom Bedauern und von Schmerz, sondern auch vom Feiern, also der Beachtung erfüllenden Erlebens. Ich denke hierbei an das Buch Verletzlichkeit macht stark von Brené Brown, in dem die Autorin darauf hinweist, wie verletzlich wir sind, wenn wir Freude empfinden. Ich bin ihr dafür dankbar, weil ich zuweilen übersehe, wie schwierig ich es finde, ganz bewusst wahrzunehmen, wie wertvoll mir bestimmte Menschen, Dinge und Umstände sind. Und wie schrecklich es wäre, sie zu verlieren! Ich schätze, mehr oder weniger leben wir alle nach dem Motto „Wer auf dem Boden schläft, kann nicht aus dem Bett fallen.“ und meiden von daher die Intensität schöner Gefühle genauso, wie die Wahrnehmung von Schmerz. Nehme ich die Einladung zum Feiern und Bedauern aber wirklich an, werde ich mir bewusst, wie sensibel, feinfühlig, genau, berührbar und verletzlich ich bin. Und die Intensität dieser Erkenntnis kann überwältigend sein.

Gehe ich dieser Überwältigung bis zum tiefsten Grund nach, komme ich fast immer bei der Frage an, wie ich überleben soll, wenn ich wirklich so sensibel bin. Wie soll ich irgendetwas hinbekommen? Ist es nicht offensichtlich, dass ich nur unter der Brücke landen kann, wenn es mir wirklich so geht? Bis zum Ende verfolgt komme ich bei diesem Strang also bei einer Angst vor dem Sterben an – was ihre Intensität erklärt. Aber genau genommen ist das kein Gefühl, sondern ein Gedanke, eine Geschichte, Befürchtung oder Einschätzung meiner Situation. Vielleicht haben andere Menschen mir das vermittelt, vielleicht habe ich es auch selbst einmal so erlebt, daraus diesen Schluss gezogen und ihn verallgemeinert.

Bei vollem Bewusstsein habe ich noch nie erlebt, dass die Intensität von Gefühlen mich wirklich bedroht oder außer Gefecht setzt. Es ist eher das unbewusste Erleben, bei dem ich nicht erkenne, welche Bedeutung die Intensität hat, die mich und meine Fähigkeit, für mich zu sorgen, bedroht hat. Auch darum ist der Bewusstseinsraum, den Feiern und Bedauern schaffen können, so kostbar: er stabilisiert ohne zu betäuben.

Empathie und Selbst-Empathie

Wie schon erwähnt kann es sehr kostbar sein, wenn ich mit jemandem sprechen oder sein kann, der in dieser interessierten und offenen Art präsent mit mir ist. Der GFK-Trainer Kelly Bryson verglich es in seinem Buch Sei nicht nett, sei echt! mit folgendem Bild: Möchte ich wahrnehmen, was in meinem Inneren passiert, sitze ich am Steuer eines Segelbootes, das über das Meer der inneren Erforschung fährt. Kommt jemand in präsenter Haltung hinzu, ist er wie eine leichte Brise, die mir die Bewegung erleichtert. Ich kann es auch alleine machen, aber der erweiterte Bewusstseinsraum kann enorm dabei helfen, so lange kein Druck von diesem Wind ausgeht und ich nach wie vor das Steuer in der Hand habe. Ist letzteres der Fall, macht es eher Stress. Aber eine sanfte Brise kann wie Rückenwind beim Fahrradfahren sein.

Ich erinnere mich, wie ich zu meiner Studienzeit oft einsam war, ebenso oft jedoch eine dumpfe Taubheit darüber lag. Betrat ich einen öffentlichen Bus mit vielen Menschen konnte es sein, dass ich meine Traurigkeit direkt viel deutlicher wahrnahm. Mir kam es vor, dass allein die Anwesenheit von Menschen das Gefühl intensivierte, ganz ohne, dass sich irgendwer mit mir beschäftigt hätte. Ich glaube, dass es mein eigenes Inneres war, das sich regte und angesichts der Anwesenheit eine Chance sah, zum Ausdruck zu kommen und gesehen zu werden.

So wertvoll das Geschenk von Empathie auch sein mag, einfordern können wir es nicht. Selbst bei einer Therapeutin, einem Therapeuten haben wir keine direkte Macht darüber, dass wir diese Art der Begleitung bekommen. Es gibt zwar Netzwerke in der Subkultur der GFK, in denen Menschen über Messenger-Gruppen um Empathie bitten können und nur antwortet, wer gerade wirklich kann und möchte. Auch hat Marshall Rosenberg dazu ermutigt, Beziehungen zu kultivieren, in denen der Austausch von Empathie zum festen Bestandteil gehört – eine Empathie-Hotline sozusagen. Denn Empathie ist ein Bedürfnis, das wir täglich haben. Aber dennoch kann es sein, dass gerade keine Unterstützung zur Verfügung steht, oder dass ich mich selbst um mich kümmern möchte.

In diesem Fall hilft es, das eigene Gewahrsein als Rückenwind erfahren zu können. Dies geht vor allem dann gut, wenn das, worum es gerade geht, einigermaßen bewusst ist. Oft ist es auch teilbewusst und die aufmerksame Wendung nach innen kann es aufdecken.

Feiern und Bedauern

Das Ritual schafft durch die Art der Fragen eine geistige Orientierung, die auch bei teilbewussten Prozessen weiterhelfen kann. Ich kann mich dafür mit jemandem verabreden, mit dem ich im Wechsel teile, was mir wichtig ist. Oder ich kann es auch alleine für mich machen, entweder schriftlich oder geistig im Kopf. Zu schreiben hat den Vorteil, dass ich nicht zu viele Inhalte auf einmal im Kopf behalten muss. Wie auch immer das Setting ist, die Fragen sind folgende:

  • Was genau ist geschehen? Beschreibe eine Handlung, Situation, Wahrnehmung, die heute wichtig für dich war. Sei dabei möglichst genau und unterscheide zwischen konkreten Beobachtungen und deiner inneren Verarbeitung. Das erhöht die Realitätsschärfe.
  • Was spürst und fühlst du dabei in deinem Körper? Dabei ist nicht das „richtige“ Wort entscheidend, sondern ob du mit der Aufmerksamkeit ganz an der Stelle in deinem Körper bist, wo es intensiv und lebendig ist. Bleibe dabei, bis es ruhiger wird.
  • Mit welchem Wert und welcher Lebensqualität verbindest du das Erlebte? Hierbei geht es um das Bewusstsein dafür, wie wir leben wollen, was das Leben wundervoll macht bzw. wie traurig es sein kann, wenn die Qualität in der erlebten Situation gefehlt hat.
  • Nun, da dir Werte und Qualitäten in Bezug auf das Erlebte bewusst sind, wie nimmst du deinen Körper jetzt wahr? Kannst du eine Veränderung, einen Wechsel bemerken?

Ob ich alles erfasst habe, was mit der Situation zu tun hat, merke ich daran, dass ich ruhiger werde und sich ein gewisser Trost und Erleichterung einstellen. Ist das nicht der Fall, habe ich etwas übersehen.

Zur Demonstration möchte ich zwei Dinge aufschreiben, ein Beispiel zum Feiern und eines zum Bedauern, bei denen ich die Fragen in dem Sinne beantworte, wie ich sie meine. Zunächst das Bedauern.

  • Beschreibung der Situation, des Kontextes: Ich erinnere mich daran in einer der letzten Sitzungen erfahren zu haben, dass eine Klientin mit dem Wunsch zu tun hat, sich das Leben zu nehmen. Sie wüsste auch, wie sie das machen könnte, auch wenn sie aktuell keine konkreten Pläne dazu hat. Grundsätzlich wolle sie leben, aber die aktuellen Konflikte in ihrem Leben kämen ihr überwältigend und unlösbar vor.
  • Gefühle im Körper: Ich empfinde dabei Anspannung und eine Art Schrecken. Meine Brust fühlt sich schwer an. Auch eine Betroffenheit macht sich breit. In meinem Kopf bemerke ich Geschichten darüber, welche Verantwortung ich gerade trage. Damit verbunden sind auch Ängste um meine eigene Existenz. Was, wenn sie das wirklich tut? Was geschieht dann mit mir und meiner Zulassung? Ganz abgesehen davon, wie es mich persönlich treffen würde und was mit meiner Freude am Beruf passieren könnte. In meinem Herzen spüre ich Angst um mein Leben und die Art, wie ich es jetzt führe.
    Nach einem kleinen Moment taucht aber auch Traurigkeit auf, tiefe Traurigkeit. „Wie kann das sein!?“ möchte ich fragen. Wieso müssen Menschen so leiden, dass ihnen der Tod wie eine Erleichterung vorkommt? Was ist das für eine Welt, die Menschen in solche Einsamkeit und Verzweiflung treibt?
  • Werte und Lebensqualitäten: Wende ich mich der dritten Frage zu, taucht der Wert auf, Menschen mögen in ihrem Leid nicht alleine sein. Ich möchte, dass Menschen wissen, dass sie von einer tiefen Verbundenheit untereinander getragen sind. Und ich wünsche mir, dass Menschen das ausdrücken und einander wissen lassen. O wie schlimm ich es finde, wenn das fehlt! Und wie kostbar und lebensrettend es sein kann, wenn wir jemanden haben, der in dieser Weise da ist! Auch bemerke ich, dass mir die Unversehrtheit des Körpers kostbar ist. Dass ich möchte, dass der Körper liebevoll gesund erhalten wird. Und dann spüre ich, dass ich gerne meine Arbeit in dieser Weise weitermachen können möchte. Dass ich gerne weiterhin das Vertrauen genießen mag, mit welchem Menschen zu mir kommen, ohne mich zu kennen, nur aufgrund des Titels.
  • Veränderung im Körper: Mit diesen Werten im Bewusstsein spüre ich eine Weite in der Brust. Ich kann wieder schwingen. Ich nehme die Kostbarkeit des Lebens wahr und auch der Gelegenheit, für diesen Menschen in dieser Situation genau das zu sein, was mir so wertvoll ist: ein Botschafter der Verbundenheit und Anteilnahme. Die damit einhergehende Gefahr überrollt mich nicht mehr, sondern ist Ausdruck eben dieser Kostbarkeit. Ich spüre die Intensität, aber sie bedroht mich nicht mehr.

Der letzte Punkt bedeutet nicht, dass die Situation nicht dennoch eine Herausforderung sein kann. Aber ohne die Überflutung ist es mir möglich, damit eine spielerische Haltung einzunehmen, das Herz zu spüren und ihm entsprechend anwesend zu sein. Ich weiß dann noch nicht, was ich im Weiteren tu, aber das Vertrauen, dass aus meinem Inneren schon etwas Passendes kommen wird, ist wieder da. Und das ist sehr beruhigend.

Und nun zum Feiern:

  • Beschreibung der Situation, des Kontextes: Ich erinnere mich daran, wie mir bei einer kürzlich erlebten Sitzung mit einem Paar die Klientin sagte, dass sie nun nach ein paar Sitzungen ausdrücken will, wie überraschend gut ihr die Paartherapie gefalle. Sie habe schon einige Therapieerfahrung und arbeite außerdem in einem Institut für Verhaltenstherapie in der Verwaltung. Sie kenne es so, dass viele TherapeutInnen eine Diagnose stellten, das für die Diagnose passende Manual herauskramten und dies dann abarbeiteten. Das erlebe sie als Abstempeln, in einer Schublade feststecken und nicht wirklich wahrgenommen werden. Genau dies sei mit mir jedoch nicht passiert. Im Gegenteil, es seien ihr sehr viele neue Aspekte ihres Erlebens mit sich und ihrem Partner aufgefallen, sie fühle sich wohl und wolle sagen, dass ich das gut mache.
  • Gefühle im Körper: Bei der Erinnerung empfinde ich zunächst einen Anflug von Überwältigung. Ich bemerke den Widerstand, das Gesagte in all seiner Bedeutung wirklich anzuerkennen. Bleibe ich damit präsent, fällt mir auf, dass es mir Angst macht, solch einer Beurteilung ausgesetzt zu sein. Erkenne ich sie an, gehört auch die Möglichkeit dazu, dass dieselbe Klientin oder jemand anderes, meine Arbeit ganz anders bewertet. Ich spüre diese Angst, halte sie im Gewahrsein und werde damit langsam ruhiger.
    Als die Angst in den Hintergrund tritt, kommt ganz organisch eine Freude zum Vorschein, die sich verletzlich anfühlt. Ich erkenne an: ich habe diese Klientin bis hierhin wahrhaftig gut begleiten können! Und sie hat etwas artikuliert, das mir bezogen auf mein Berufsfeld selbst schmerzlich bewusst ist. Ich erkenne den Impuls, mich arrogant über meine Kollegen erheben zu wollen, wohl auch um mich vor Abwertung und Gefahr meiner Existenzgrundlage in Sicherheit wähnen zu können. Ich nehme die Angst noch einmal in meine Mitte, bis sie sich wieder beruhigt.
    Dann bemerke ich die aufrichtige Berührtheit und Dankbarkeit der Klientin. Und jetzt bin auch ich berührt. Ich spüre Tränen in den Augen.
  • Werte und Lebensqualitäten: Mit der dritten Frage im Sinn wird mir bewusst, wie wertvoll ich die Offenheit finde, mit der Menschen im Kontakt fein und sinnlich erspüren, wer gerade da ist und was gerade wirklich passiert – auch und gerade wenn es sich nicht von alleine direkt zeigt. Diese Qualität der Präsenz und Wahrnehmung, die uns ermöglicht uns wahrlich nicht alleine zu fühlen, ist wohl einer der ersten Gründe, warum ich das Leben lange überhaupt als lebenswert empfunden habe. Es macht mich wach, so einen Kontakt zu erleben, weckt meine Sinne, macht die Lebensenergie spürbar, die mich und alles Lebende durchströmt. Ich spüre, wie sehr das zu erleben mich nährt, wenn es da ist und wie leer und sinnlos alles wirken kann, wenn es fehlt.
    Mir bewusst zu machen, dass ich derjenige in dem bin, was die Klientin berichtet, der dieser Qualität eine Form gegeben und sie für die Klientin erlebbar gemacht hat, erweckt schon fast Ehrfurcht in mir. Ungläubig schaue ich mich an und frage „Wie bitte? Ich?“ Mir fällt der Spruch aus dem Kurs in Wundern ein, der mich daran erinnert, dass es das Licht ist, nicht die Dunkelheit, die mir am meisten Angst macht. Denn wenn ich solche Macht habe, das Leben eines anderen Menschen zu berühren und zu bereichern… müsste ich dann nicht viel mehr damit tun? Verpflichtet mich das nicht dazu, dieses Geschenk so viel und oft zu teilen, wie es nur geht? Hat Superman Freizeit? Darin wird mir auch bewusst, dass das Geschenk nicht erzwungen sein kann, auch nicht durch mich. Es war in diesem Moment mit der Klientin möglich und auch ich empfinde Dankbarkeit, dass diese Kraft durch mich Gestalt annehmen konnte, wo immer sie auch hergekommen sein mag.
  • Veränderung im Körper: Während die Wucht dieser tiefen Bedeutungen noch in meinem Körper hallt, nehme ich wahr, wie tief verbunden und lebendig ich mich fühle. Ja, Energie strömt durch mich durch und findet durch mich Ausdruck. Darin spüre ich auch etwas beruhigendes, denn das heißt ja, dass auch ich von ihr genährt werde. Es muss nicht aus mir herauskommen. Gerade finde ich es phänomenal in dieser Form auf der Welt zu sein.

Schlussbetrachtungen

Ich möchte zum Schluss noch zwei Dinge zum Thema bemerken, die mir wichtig erscheinen. Zum einen habe ich das Ritual des Feierns und Bedauerns lange gemieden, da ich in der Zeit, in der ich es kennenlernte, noch große Angst davor hatte, was an rohen Gefühlen und Zuständen in mir auftauchen könnte, wenn ich diese Fragen ernst nähme und sinnlich erforschte. Stattdessen bin ich die Fragen aus der sicher wirkenden Distanz im Kopf durchgegangen, was entsprechend unergiebig war. Das heißt, es braucht auch Mut, sich in dieser Tiefe darauf einzulassen. Vorbereitend dafür empfinde ich unter Anderem meine Meditationspraxis, in welcher ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf das nicht-sprachliche Gewahrsein von sinnlich erfahrbarem Körpererleben richte. Darin kann es durchaus vorkommen, dass mein Empfinden sehr intensiv wird und mir Impulse kommen, jetzt möglichst schnell etwas zu tun, um die Flutwelle aufzuhalten. Beispielsweise können meine Gedanken zu einer bedrohlichen Situation wandern und ich spüre vor allem Angst bis hin zu Panik. Gerade dann ist es eine neue Erfahrung, wenn ich die Gefühle zulasse und still bleibe, obwohl unfassbar viel passiert. Zu wissen, dass ich das überlebe und die Intensität von alleine auch wieder nachlässt, wenn sie Beachtung findet, ist eine kostbare Erfahrung.

Zum anderen möchte ich noch auf etwas hinweisen, was euch beim Lesen evtl. auch aufgefallen sein könnte: zwar steht vorne Feiern und Bedauern dran, aber es gibt Punkte, an dem die beiden Modi nicht so klar voneinander unterscheidbar sind. Stoße ich beim Bedauern auf die Werte, spüre ich in jedem Fall, wie kostbar mir das Leben ist, was hinter meinen Empfindungen zum Vorschein kommen kann. Und diese Kostbarkeit wahrzunehmen hat auch etwas vom Feiern. Setze ich mich hingegen beim Feiern auch mit den Gefühlen auseinander, die mit der Verletzlichkeit der Freude zu tun haben, kann ich auch auf Traurigkeit, Wut und Angst stoßen. Auch die Wahrnehmung der Werte kann überwältigend sein. Letzten Endes kann ich beides mit dem Satz „Kontakt mit der Energie des lebendigen Lebens aufnehmen“ zusammenfassen, bei dem ab einem bestimmten Punkt gleich-gültig ist, ob es um Erfüllung oder Fehlen derselben geht: beides ist mit dem Herzen spürbar und belebt. Und wenn es gelingt, regelmäßig diesen Kontakt wiederherzustellen, ist im Umgang mit dem Schmerz in der Welt erstaunlich viel erreichbar, ohne dafür auf die Selbstfürsorge verzichten zu müssen.

Lust, Spannung und Depression

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

„Ich weiß auch nicht: wenn ich etwas anderes will, als meine Partnerin, schluck ich das ganz lange runter, bis ich explodiere. Dann knallt’s, ich entschuldige mich und es wird wieder ruhig. Dann merke ich aber, dass es wieder so wird wie vorher und ich einfach nicht aus dem Quark komme. Ich will das nicht, denn es wiederholt sich jetzt schon viel zu lange immer wieder so, aber ich weiß mir nicht zu helfen. Können Sie mir sagen, was ich tun soll?“

So oder so ähnlich klingen viele meiner KlientInnen, wenn sie in meine Praxis kommen. Ich stehe dann jedes Mal vor dem Dilemma, dass ich den Auftrag gern erfüllen würde, diese Art von Problemen aber nicht durch Instruktionen lösen kann. Es gibt sicher viele How-to-Ansätze, die in einer Abfolge von Schritten Orientierung geben wollen, wie sich im Leben Konflikte und Entscheidungsprobleme lösen lassen. Und wäre es nicht wunderbar und erleichternd, wenn das einfach funktionieren würde? Wenn wir glauben dürften, dass etwas sicher und erprobt ist und wir blind folgen könnten, ohne enttäuscht zu werden? Aber Situationen im Leben ändern sich schnell und selbst bei erprobten Ansätzen müssen wir jedes Mal neu schauen, wie deren Grundannahmen in der aktuellen Situation auftauchen und wirken.

Da das Anliegen hinter der Frage jedoch Orientierung ist, möchte ich hier einen Ansatz vorstellen, der in der letzten Zeit in der Arbeit mit Klienten und aus der Synthese all meiner vorherigen Erfahrung und gelernten Modelle entstanden ist. Die Kriterien dafür sind die einer guten Landkarte: genug Genauigkeit und Detailliertheit, um eine allgemeine Richtung und Ansatzpunkte zur inneren Erforschung zu liefern, bei gleichzeitigem Freiraum für die Komplexität des Lebens, die sich weder reduzieren noch festlegen lässt.

Spektrum der Spannung

Als Grundproblem möchte ich Folgendes definieren: immer, wenn ich etwas will und die Situation gibt es nicht her, entsteht Spannung. Im obigen Zitat sind es unterschiedliche Wünsche zwischen dem Klienten und seiner Partnerin. Es kann aber auch ein praktisches Problem sein, für das ich noch keine Lösung habe. Oder eine Sehnsucht nach etwas anderem im Leben, das noch nicht da ist.

„Spannung“ ist ein Begriff, den wir sowohl für Angenehmes als auch Unangenehmes verwenden, das heißt, es gibt eine Art Spektrum dafür, wie wir Spannung erleben. Und je nachdem, wo wir auf dem Spektrum sind, gehen wir unterschiedlich damit um… oder bleiben stecken und kommen nicht weiter, wie der zitierte Klient. Im folgenden Schaubild will ich dieses Spektrum anhand des Yin/Yang-Symbols illustrieren:

Schaubild 1

Das Symbol aus dem Taoismus steht für Wandel, der sich aus dem Spiel zwischen Yin und Yang ergibt. Yang (weiß) repräsentiert die Ordnung und Yin (schwarz) das Chaos. Ordnung und Chaos verstehe ich weder als gut noch schlecht, denn Chaos kann sowohl zerstörerisch als auch fruchtbar sein und Ordnung kann stabilisieren, aber auch ersticken. Aus diesem Grund gibt es keinen Endzustand im Leben, der einfach perfekt wäre, sondern es ist immer ein Balanceakt, der Liebe, Wachheit und Klarheit erfordert, wenn er gelingen soll.

Die Linie in der Mitte soll das Spektrum der Spannung bezeichnen, eingeteilt in drei Zonen: eine Stabilitätszone, eine Lernzone, in der wir auch Sinn erleben, und eine Panikzone. Wenn wir etwas „spannend“ nennen, sprechen wir in der Regel von der Lernzone. Die Panikzone drückt sich in Worten wie „zu viel“, „Albtraum“ oder „höllisch“ aus. Die Stabilitätszone zeichnet sich durch Ruhe und Entspannung aus, kann aber auch als langweilig und erdrückend erlebt werden.

Übertragen auf das Leben heißt das, dass wir drei verschiedene Arten von Situationen haben. In der Stabilitätszone (1) wissen wir z.B. wo wir wohnen, wie wir den Kühlschrank voll kriegen und zu wem wir gehen, wenn wir uns unterhalten wollen. Wir haben Überblick und leben in bekannten Gefilden. Das kann wunderbar und erholsam sein, wenn wir zuvor lange ohne diese Ruhe ausgekommen sind, aber auch deprimierend und einengend. In der Lernzone (2) beschäftigen wir uns mit Problemen, die uns weiterbringen oder unser Leben verbessern, ohne die Sicherheit zu haben, dass es funktioniert. Es ist aufregend und „spannend“: ein angenehmes Kitzeln, die Lust etwas zu beeinflussen oder zu meistern. Hier erleben wir auch „Flow“ und Sinn – was wir tun ist bedeutsam und nicht egal. Wir sind am Rande unserer bekannten Welt, ohne diese jedoch komplett zu verlassen. Die Panikzone (3) schließlich taucht immer da auf, wo wir völlig im Unbekannten sind. Plötzliche Veränderungen wie der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust von Arbeit, Wohnung oder Gesundheit, die Zerstörung eines Traums oder lebensbedrohliche Situationen können so viel Spannung erzeugen, dass wir überfordert oder völlig am Ende sind. Und wenn wir überfordert sind, versuchen wir die Spannung auf alle erdenkliche Art und Weise zu reduzieren.

Das heißt, wie wir mit Spannung umgehen können, hängt von unserer Fähigkeit ab, mit Komplexität umzugehen. Wann immer ich etwas will, bekomme ich es mit verschiedenen Bedingungen, Ressourcen und den Grenzen und Wünschen anderer Menschen zu tun. Mein Leben wird also komplexer und chaotischer, wenn ich mehr will. Und unter Umständen so komplex, dass ich die Spannung nicht aushalte und sie um jeden Preis reduzieren will. Das ist nur menschlich, verständlich und geschieht meistens unbewusst, aber der Preis kann hoch sein und in sehr schmerzhafte Situationen führen, aus denen Menschen nur noch mit professioneller Hilfe herausfinden.

Spannung reduzieren vs. halten

Ich sehe im Prinzip zwei unreife und eine reife Art, Spannung zu reduzieren. Die unreifen Arten entwickeln wir, wenn wir klein sind. Und ohne Korrektur oder Reflexion kann es sein, dass wir darüber auch nie hinauswachsen. Die reife Art braucht Aufmerksamkeit und Bewusstsein und wird wahrscheinlich nie zur Gewohnheit, weswegen wir achtsam dran bleiben müssen, um nicht in die Unreife abzurutschen.

Wenn Spannung entsteht, weil zwei Menschen etwas Unterschiedliches wollen, kann ich Spannung reduzieren, indem ich Unterschiede ausmerze und das, was jemand will, für unwichtig erkläre. Das kann ich mit mir selber machen (Depression) oder mit meinem Gegenüber (Druck ausüben). Dafür gibt es Myriaden von unterschiedlichen Strategien und manchmal ist dieses Motiv sehr versteckt, aber das Grundprinzip ist immer das gleiche: Der Raum reicht nur für einen Willen, also muss einer der beiden seinen Willen aufgeben. Wenn z.B. ein 3jähriger Lust hat, mit der Mama zu spielen und sie will sich ausruhen, passt das nicht zusammen und erzeugt Spannung. Der Junge kann nun wütend auf seine Mama sein und sie doof finden (Druck in Form von Entwertungen, Vorwürfen und Forderungen ausüben), sich selbst für seine Lust zum Spiel beschimpfen (Depression, Selbst-Entwertung) oder versuchen, eine wirkliche Lösung zu finden. Für Letzteres muss er die Spannung aber halten, damit genug Zeit da ist, etwas anderes passendes zu finden (reifer Umgang).

Da wir als Kinder in der Regel nicht in der Lage sind, uns unabhängig von den Eltern zu versorgen oder uns Alternativen zur elterlichen Versorgung vorzustellen, kann die Spannung schnell zu viel werden und uns in die Panik-Zone katapultieren. „Was wenn die Mama mich nicht mehr will? Wo komm ich dann unter, wo krieg ich was zu essen, wer passt auf mich auf?“ Das heißt, der Druck kann sehr groß sein, auf das eigene Wollen zu verzichten, um die Beziehung nicht über ein bestimmtes Maß hinaus zu gefährden. Da das Wollen des Jungen zu Spannung in der Beziehung zur Mutter führt, kann er sich davon distanzieren und es in sich runterdrücken, also deprimieren. Das stabilisiert die Beziehung, kostet ihn aber den Ausdruck von Lebensenergie.

Hat der 3jährige eine Mutter, die ihre eigenen Wünsche für unwichtig erklärt, kann es aber auch sein, dass er sie mit Druck dazu bewegen kann, sich nicht auszuruhen, sondern mit ihm zu spielen. Das sieht wie ein Sieg aus, ist aber keiner, wenn wir bedenken, wie es sich anfühlt, wenn jemand aus Druck heraus etwas für uns tut: der Junge wird kaum Freude am Spiel mit der Mutter haben, wenn sie dafür ihr Wollen aufgegeben hat. Es kann dennoch sein, dass das besser ist als keine Interaktion und der Junge lernt, dass er mit Wutausbrüchen dafür sorgen kann, dass andere sich seinem Willen fügen, ohne dass er in den Genuss echter gemeinsamer Erfüllung kommt.

Denn für diese Erfüllung braucht es die Bereitschaft, die Spannung zu halten, alle Wünsche darin gelten zu lassen und einen Raum für neue Möglichkeiten zu öffnen. Hat die Mutter diese Kapazität entwickelt, kann sie mit dem Jungen so in Kontakt gehen, dass der Junge in seinem Wunsch gesehen wird, ohne dass sie ihren eigenen Wunsch aufgibt. Allein dieses „gesehen werden“ kann die Spannung sehr reduzieren, weil dadurch spürbar wird, dass die Beziehung durch die unterschiedlichen Wünsche nicht in Gefahr gerät und immer noch Potential besteht, gemeinsam zur Erfüllung zu kommen. Dafür muss die Mutter ihren eigenen Wunsch nach Erholung aufschieben können, ohne ihn aufzugeben, den Beziehungsraum halten und andere Möglichkeiten der Erfüllung auftauchen lassen, die konkret in eine Verabredung münden können. Diese Erfahrung kann den Jungen dazu ermutigen, auszudrücken, was er sich wünscht und gleichzeitig wahrzunehmen, was seine Mutter möchte, ohne dass einer dafür zurückstecken muss.

Oft genug jedoch haben Eltern diese Kapazität nicht, sind selber überfordert und haben keine Ressourcen, um den Raum so zu halten. Das heißt, das fordert uns als Kindern eine feine Abstimmung dessen ab, was die Beziehung aushält und was nicht. Und aus dieser Abstimmung bilden sich die unbewussten unreifen Strategien, Spannung zwischen Menschen so zu reduzieren, dass wir irgendwann in genau so einer Situation landen, wie mein Klient.

Lust

Wenn ich sage, dass etwas zu wollen das Leben komplexer macht, ist das nur eine Seite davon. Die andere Seite ist, dass das Wollen an sich unserem Leben Saft, Energie und Würze gibt. Sind wir in Kontakt damit, dass wir Lust auf etwas haben (sowohl sexuell, als auch ganz allgemein auf alles Schöne im Leben), belebt uns das, die Stimmung wird lustiger und dynamischer. Unser inneres Feuer, unsere Kraftquelle ist davon abhängig, dass wir es uns erlauben, etwas zu wollen. Fehlt uns dieses Feuer, fehlt uns der Grund, morgens aufzustehen, uns ins Unbekannte vorzuwagen oder etwas anzugehen, was wir noch nicht kennen. Außerdem fehlt uns die Kraft, dem Wollen anderer Menschen zu widerstehen und unseren eigenen Weg zu gehen, was sich in Angst und Erstarrung ausdrücken kann, aus der heraus wir uns anderen Menschen anpassen oder sie lieber meiden, uns isolieren und vereinsamen.

Erst in diesem Licht wird mir klar, warum Sigmund Freud die Sexualität so wichtig fand. Im historischen Kontext sehe ich, dass die sexuelle Aufklärung zu seiner Zeit hoffnungslos unterentwickelt war. Manche Frauen in den Schichten, die sich Psychoanalyse leisten konnten, hatten bis zur Hochzeitsnacht keine Ahnung, was Sexualität überhaupt ist, weil sie für die gesellschaftliche Stabilität systematisch davon ferngehalten wurden. Entsprechend riskant war es eben auch, dass Freud dieses Tabu brach. Eine der wichtigsten Begründungen für dieses Vorgehen war, dass er eine Verbindung zwischen Körper und Seele suchte, die seine Psychoanalyse auf legitimen medizinischen Boden stellte. Die Sexualität war diese Verbindung.

Wichtiger erscheint mir allerdings, dass die Lebensenergie der Lust unabdingbar dafür ist, dass das Leben Freude macht. Sie ist Treibstoff und Anlass für Chaos zugleich, weil sie in Bewegung bringt, ohne dass man wissen kann, wo einen das hinführt. Auch in Freuds Triebtheorie ist von dem ewigen Konflikt zwischen den Trieben und der Gesellschaft die Rede, der sich nicht reduzieren, höchstens umwandeln und sublimieren (veredeln) lässt. Ich habe nicht den Eindruck, dass Freud wusste, wie er in diesem Konflikt gut für sich sorgen konnte, denn er soll gesagt haben, dass er sich von der Psychoanalyse nicht mehr verspreche, als unneurotisches Unglück. Das klingt für mich auch wieder wie ein deprimierender Versuch, Spannung zu reduzieren, statt offen für erfüllende Möglichkeiten zu bleiben, mit der entsprechenden Unwissenheit, nicht zu wissen, ob und wie das gelingen kann.

Ich habe meinem Lehrer Gustl Marlock die Erfahrung zu verdanken, wie lustig Lust sein kann. In der Supervision mit ihm habe ich regelmäßig schallend gelacht, wenn er mich auf versteckte Lust und Versuche hingewiesen hat, wie Menschen vor sich selbst verstecken, dass sie etwas oder jemanden wollen. Das finde ich besonders komisch, wenn jemand aus der Depression heraus den Eindruck zu erwecken versucht, er/sie sei gar nicht da und sei total harmlos. Das ist menschlich verständlich (Spannung reduzieren) und einfach nicht wahr. Und auch mit meinen KlientInnen mache ich immer wieder die Erfahrung, dass das lustig ist. Es macht irgendwie unheimlich Spaß, aufzudecken, dass wir alle sexuelle Wesen sind, die Freude daran haben, Lust zu fühlen und auszudrücken und zu spielen, selbst wenn wir unheimliche Angst vor der Komplexität haben, mit der wir es dann zu tun bekommen. Allein das reicht mir schon, um spüren zu können, wie wichtig Lust für ein gesundes und gelungenes Leben ist.

Erfüllung finden

Da das Leben komplexer wird, wenn wir bemerken, wie wir unsere Lust für unwichtig erklären und wirklich zulassen, dass wir uns Erfüllung in Beziehung mit anderen Menschen wünschen, ohne, dass diese sich aufgeben, wird genau hier der Ruf nach Rezepten besonders laut. Das Chaos wird größer, die Kriterien für gelungenes Handeln nehmen zu, es kann uns schnell zu viel werden und uns in die Panik-Zone katapultieren. Aber Rezepte und How-to-Ansätze haben die Neigung, die Komplexität zu reduzieren und nicht wirklich zu erfassen, was gerade passiert. Deswegen will ich mich hier nur auf Bedingungen konzentrieren, die die Erfüllung wahrscheinlicher machen, aber mitnichten garantieren können.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich für mich, dass Erfüllung nur dann gelingt, wenn wir unsere unreifen Strategien zur Spannungsreduktion erkennen, so dass wir überhaupt eine Wahlfreiheit zu neuen Möglichkeiten wahrnehmen können. Diese Strategien werden klassisch-psychoanalytisch Abwehr genannt und können sehr verschiedene Formen haben (hier ein Übersicht), laufen aber im Kern immer auf „was ich will ist nicht wichtig“ bzw. „was du willst ist nicht wichtig“ hinaus. Und hier ist mitunter wirklich viel Zeit und Reflexion mit einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten erforderlich, um diesen Mustern auf die Spur zu kommen, weil sie manchmal erstaunlich gut versteckt sind und sich als etwas ganz anderes tarnen, was uns unreflektiert vollkommen normal vorkommt.

Erkennen wir unsere Abwehr, wird das Leben vermutlich erstmal schwieriger, weil wir mehr bedenken müssen. Die Angst und Spannungen, die dabei auftauchen, brauchen gewissermaßen einen Raum, in dem sie sich ausbreiten können, damit wir unter ihrem Druck nicht um uns schießen oder uns gleich wieder deprimieren. Um diesen Raum zu schaffen und zu erweitern meditiere ich täglich und halte den Fokus darauf, zu fühlen, was in meinem Körper passiert, ohne dass ich etwas tu oder darüber nachdenke. Das erlaubt mir die Erfahrung zu fühlen, ohne Handeln zu müssen. Und je öfter ich das erlebe, desto mehr Kapazität habe ich, in wirklich wichtigen Momenten inne zu halten und einen bewussten Umgang mit Lust und Spannung zu wählen. Außerdem spreche ich gerne offen mit Freunden und Kollegen über meine Erfahrung, was ihr Raum verschafft und das Halten von Spannung erleichtert.

Ebenfalls wertvoll erscheint mir die Klarheit, dass Spannung zu halten notwendig ist, wenn ich neue Möglichkeiten im Unbekannten erforschen will. Ich denke an eine Klientin, die single ist und sich wünscht, Sexualität zu leben. Dieser Wunsch und die Abwesenheit eines geeigneten Partners erzeugen Spannung. Die Spannung kann sie sofort reduzieren, indem sie sich sagt „Einen Mann zu finden ist sowieso nix, da fällt man nur rein.“ Oder „Ich bin sowieso nicht so attraktiv, mich will ja niemand.“ Außerdem „Diese Dating-Portale ziehen einem nur das Geld aus der Tasche. Ich lese lieber Liebesromane, die bringen auch Gefühle.“ Ganz egal, ob diese Sätze wahr sind oder nicht, sie haben den Effekt, dass die Spannung kollabiert, weil entweder der Wunsch unwichtig ist oder die Möglichkeiten entwertet werden. Unterm Strich entfernt sich die Klientin von ihrer Lust und bleibt in einer stabilen, aber deprimierten Position. Ist sie in der Lage, die Spannung zu halten, kann sie sagen „Ich wünsche mir erfüllenden Sex mit einem Mann, der mir gefällt, auch wenn ich noch nicht weiß wie, mit wem, wann und ob ich das erleben kann.“ Das ist aufregend und die Angst vor Enttäuschung ist gleich mit an Bord, aber mit einiger Zeit können ihr Phantasien kommen oder Gelegenheiten entstehen, in denen sie eine Möglichkeit zur Erfüllung erkennt und diese verfolgen kann. Das ist nicht möglich, wenn sie die Spannung nicht hält.

Einsatz in der Praxis

Anhand des Beispiels des Klienten vom Anfang möchte ich nun nochmal demonstrieren, wie die verschiedenen Aspekte von Spannung, Lust und Erfüllung in der Praxis zum Vorschein kommen können.

Der Konflikt des Klienten hing sich vor allem an der Wahl des Urlaubsortes auf. Er wollte in die Berge, seine Frau an’s Meer. Darunter liegend ging es darum, ob wirklich Raum für die Wünsche beider da war, ohne, dass einer nachgeben musste. In der Regel gab er nach, weil ihm die interpersonelle Spannung schneller zu viel wurde als seiner Frau und er lieber Stabilität und Frieden wollte. Dann aber gab es Momente, in denen er so unter innerer Spannung stand, dass er explodieren und seine Frau anschreien konnte. Das tat ihm danach wieder leid, er entschuldigte sich, aber alles blieb beim Alten. Um aus dieser Spirale herauszukommen, war es vor allem wichtig herauszuarbeiten, wie der Klient es schaffte, seinen Willen für unwichtig zu erklären. Das war relativ einfach, denn er erwischte sich bei fatalistischen Gedanken wie „Ja, wenn man zusammen ist, muss halt immer einer wegstecken.“ oder „Sie braucht ja auch ihre Erholung und es ist besser für mich, wenn sie erholt ist, als wenn ich mich durchsetze und sie nörgelt.“ Diese Gedanken wirkten sofort deprimierend und es war befreiend, das wahrzunehmen und Abstand dazu zu gewinnen, aber der Hintergrund war noch tiefer.

Hinzu kam nämlich, dass seine Frau ihm vorwarf, er hätte nicht genug Zeit für sie. Und da er einen zeitintensiven Job hatte, konnte er das auch verstehen. Gleichzeitig hatte er Angst vor der intimen Begegnung mit seiner Frau, weil ihm seine eigenen Gefühle nicht geheuer waren und er seinen Tag lieber so plante, dass dafür kein Platz war. Als ihm das klar wurde, fiel der Groschen. Ihm wurde bewusst, dass er Zeit seines Lebens geglaubt hatte, er hätte liebevollen Kontakt nicht verdient und müsste dafür schuften und Aufgaben erfüllen. Auch diese Überzeugung erkannte er als Abwehr, denn so lange er schuftete, hatte er keine Zeit zu merken, dass er sich diesen Kontakt wünschte. Sich dessen bewusst zu werden war einerseits eine große Befreiung, andererseits konfrontierte es ihn mit dem Chaos seiner totalen Ahnungslosigkeit darüber, wie emotionaler Kontakt für ihn erfüllend sein könnte. Die Versuchung war groß, die Spannung auch hier wieder zu reduzieren, indem er sich oder die Möglichkeit auf Erfüllung entwertete. Aber er blieb dran und konnte seiner Frau mitteilen, dass auch ihm der emotionale Kontakt fehle, er sich aber unklar darüber sei, wie das ginge. Wider sein Erwarten nahm die Frau seinen Selbstausdruck dankbar und wohlwollend auf, erleichtert darüber, authentischen Kontakt zu ihm zu bekommen.

Diese Erfahrung war völlig neu für ihn und nach einer Weile hatte er Gelegenheit, seine Entwicklung am Urlaubsthema zu erproben. Wie gewohnt spürte er, dass seine Frau wirklich gerne an’s Meer wollte und bemerkte die Tendenz in sich, sich aus der Gleichung zu nehmen und ja zu sagen, obwohl er nicht wollte. Statt das zu tun, sprach er sie an und sagte, er wisse noch nicht, wie das ginge, aber er wolle sehr gern mit ihr an einem Ort Urlaub verbringen, den sowohl er als auch sie gerne ansteuern würden. Dafür sei ihm wichtiger, dass sie nicht schnell zu einer Einigung kämen, sondern dass zunächst einmal Möglichkeiten auftauchen und gefühlt werden könnten, damit keiner der beiden vorschnell in Versuchung käme, seines/ihres aufzugeben. Tatsächlich war seine Frau erstaunt und ebenfalls sehr herausgefordert, in diesem Moment, da auch sie es schwer fand, diese Offenheit auszuhalten. Gleichzeitig konnte sie aber spüren, dass er wirklich an einer gemeinsamen Lösung interessiert war, die sie beide genießen könnten. Das hatte sie zuvor vermisst, ohne dass sie es hätte formulieren können. Für beide entstand zum ersten Mal Raum dafür, zu erzählen, was sie an ihren Präferenzen liebten und zu erfahren, was die Lust des anderen war.

Die Lösung war letztlich recht einfach: sie fuhren in die Berge. Nicht, weil er sie dazu überredet hatte, sondern weil im Kontakt so spürbar war, dass beide mit ihren Wünschen Raum bekommen hatten und letztlich in’s Gewicht fiel, dass sie die letzten Jahre nicht in den Bergen gewesen waren. Darüber entstand in der Frau der Wunsch, dem Klienten seinen Wunsch zu erfüllen und Wege zu finden, auch dort entspannt zu sein.

Inspirationsquellen

Die Gedanken in diesem Artikel sind eine Verdichtung von vielen Betrachtungen, die ich in den letzten Jahren kennenlernen durfte. Und in den letzten Wochen hatte ich immer wieder Gelegenheit, KlientInnen von mir davon zu erzählen, um ein Framework dafür zu schaffen, was uns bei einer gemeinsamen Sprache und Perspektive helfen könnte. Ich sehe dabei viele Parallelen zu anderen Quellen, die mich sehr beeinflusst haben und von denen ich drei hier erwähnen möchte.

Allen voran die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg, die den unreifen und reifen Umgang mit Spannung sehr schön beschreibt, wenn auch in anderen Worten. Die Erfahrung, dass ich mich auf das Wagnis einlassen kann, nicht zu wissen, was die Lösung ist und dennoch erfüllt daraus hervorzugehen, habe ich im Kontext der GFK sehr oft machen dürfen. Rosenberg hat hier Grandioses geleistet. Gleichzeitig hat er für meinen Geschmack zu wenig herausgearbeitet, wie schwierig es sein kann, mit dieser Spannung umzugehen und was ihr Bezug zur Lust ist. Ich vermute, dass er selbst gut mit seiner Lust in Kontakt war, denn in all seiner Friedfertigkeit und Leidenschaft für Verbundenheit wirkte er nie „kastriert“, während andere das gleiche sagen konnten und völlig zahnlos wirkten. Ich schätze, dass ihm das selber nicht so bewusst war. Kritisch sehe ich auch, dass er sich die unreifen Umgangsformen als Konsequenz gesellschaftlicher Strukturen erklärt hat, die man reformieren müsste, damit Menschen flächendeckender in der Lage wären, miteinander Erfüllung zu finden. Ich glaube eher, dass die gesellschaftlichen Strukturen zunächst Ausdruck der menschlichen Not mit Spannung sind und nicht umgekehrt, aber dennoch teile ich seine Vision eines intelligenteren Umgangs damit. Ich kann die GFK nur wärmstens empfehlen, um mehr Licht in’s Unbewusste zu bringen und Räume zu erschließen, in denen keiner nachgeben muss.

Den Gedanken von Chaos und Ordnung habe ich in der Form von Jordan B. Peterson. In zahlreichen Vorlesungen und seinem Buch 12 Rules for Life beschreibt er, wie Chaos und Ordnung als archetypische Prinzipien in allen Lebensbereichen auftauchen und eine ganz grobe Orientierung dafür bieten können, wie wir mit dem Horror im Leben umgehen können. Ist klar, dass das Chaos nicht zu vermeiden ist, kann uns das Mut geben, uns dem zu stellen und etwas Bedeutsames zu tun, auch im kleinen Bereich unseres eigenen Lebens. Ich mag Peterson für seine Aufrichtigkeit und Klarheit, auch wenn ich mir manchmal mehr Freundlichkeit und Wärme wünschen würde – für ihn selbst und andere.

Und wie schon weiter oben erwähnt, bin ich sehr dankbar für den Einfluss von Gustl Marlock. In der Arbeit mit ihm habe ich immer wieder erlebt, wie er weite Räume entstehen lässt, indem er Fragen stellt, die bestimmte fixe Vorstellungen auf die Probe stellen. In einem Moment fühlt sich die Situation völlig verfahren an, im nächsten geht ein weiter Raum der Möglichkeiten auf, der noch überhaupt nicht zu füllen ist, aber zu fühlen. Oft habe ich gerätselt, wie er das fertig bringt. Entscheidend scheint mir zu sein, dass ihm die Spannung, nicht zu wissen wie und ob etwas gelingen kann, kaum anzumerken ist, während er sehr sensibel für ungenutztes Potential ist, das er mit seinen Fragen antippt. Ich kenne niemanden sonst, der in der Arbeit so bereit zu sein scheint, offen zu lassen, wo ein Prozess hingeht und sich nicht drängt, eine Lösung zu finden, bevor sie nicht von sich aus auftaucht. Und auch das erfordert die Fähigkeit und Bereitschaft, die Spannung zu halten.

Ich hoffe dieser Artikel kann Grundlage für viele fruchtbare Gespräche sein.