Vermittlung

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

Sie: „Schatz, hast du den Müll schon rausgebracht?“

Er: „Nee, aber mache ich später, jetzt stress mich doch nicht so!“

Sie: „Mach ich doch gar nicht! Ich hab halt keinen Bock auf ’ne stinkende Küche und sehe nicht ein, dass ich schon wieder dafür sorgen soll!“

Er: „Was heißt denn ’schon wieder‘? Weißt du eigentlich, was ich hier die ganze Zeit stemme? Ich hab keinen Bock auf deine Meckerei!“

Sie: „Dann such dir halt ’ne andere Idiotin, die neben allem anderen noch unser Zuhause für uns schön macht. Sowas brauche ich nicht.“

Er: „Du verstehst mich mal wieder überhaupt nicht! Ich reiß mir für uns den Arsch auf und das ist der Dank?!?“

Sie: „Geh doch, wenn’s dir nicht passt. Du schläfst heute jedenfalls auf der Couch!“


Hmmm… das ist jetzt aber schnell eskaliert. Wahrscheinlich hatten die beiden diesen Streit nicht zum ersten Mal, es scheint dafür einiges an Hintergrund zu geben. Aber was genau ist hier passiert? Und was wäre ein gesunder Umgang damit?

Bei der Beschäftigung mit der Frage, was eine gesunde Beziehung ausmacht, ist mir der Begriff der „Triangulierung“ bedeutsam geworden. Er beschreibt eine Fähigkeit und Entwicklungsaufgabe, mit der jeder Mensch konfrontiert ist und ohne die ich ein erfülltes Beziehungsleben nicht für möglich halte. Nicht triangulieren zu können bedeutet, zwischen Anpassung und Forderung gefangen zu sein und nur sehr begrenzt in der Lage zu sein, Unterschiede auszuhalten. In vielen Fällen bedeutet es auch, lieber alleine zu bleiben, als Selbstverlust in einer Beziehung zu riskieren. Genauso kann es bedeuten, auch in einer Beziehung einsam zu sein, weil die Existenz von jemandem, der anders ist, schon so bedrohlich ist, dass wir entweder uns selbst oder den anderen in seiner Eigenart gar nicht richtig wahrnehmen wollen oder können. Ohne Triangulierung ist der seelische Entwicklungsweg über die Egozentrik hinaus versperrt. Echte Nähe ohne Aufgabe von Identität und Unterschiedlichkeit ist ohne Triangulierung nicht möglich.

Es gibt zu diesem Begriff einiges an Fachliteratur aus der Psychoanalyse, die ich bedauerlicherweise jedoch zu großen Teilen nur schwer verständlich und verdaulich finde. Der Bezug zu alltäglichen Beobachtungen und Gefühlen fehlt an vielen Stellen. Seinem Ursprung nach geht der Triangulierungsbegriff zunächst auf Sigmund Freuds Konzeption des Ödipuskomplexes und später unter anderem auf Hans W. Loewald, Margaret Mahler und Ernst Abelins Organisator- und Triangulierungsmodell zurück, welches auch Entwicklungsphasen beschreibt, die vor der ödipalen Phase liegen. Ich möchte an dieser Stelle zwar nicht diese Modelle erläutern, sondern erörtern, was ich selbst darunter verstehe, beziehe mich im Weiteren aber vor allem auf die „frühe Triangulierung“ und nicht die ödipale. Auch möchte ich den Begriff von der dysfunktionalen Triangulation abgrenzen, von der im Rahmen der systemischen Familientherapie die Rede ist. Ich hoffe damit einen Einblick in ein Phänomen zu ermöglichen, das trotz seiner Alltäglichkeit komplex und häufig völlig unbewusst ist.

Triangulierung

Dem Begriff nach geht es bei der Triangulierung um ein Dreieck, bei dem zu einer Zweier-Beziehung etwas oder jemand Drittes hinzukommt. Dieses Dritte ist notwendig, um ein vermittelndes Gleichgewicht zwischen zwei unterschiedlichen Polen herzustellen. Ohne diese Vermittlung führt die Unterschiedlichkeit in einer Beziehung zu einem Machtkampf, in dem nur Platz für einen Weg ist: meinen oder deinen. Das Ergebnis kann, selbst wenn ich „gewinne“, immer nur zum Teil befriedigend sein, weil es auf Kosten der Beziehung geht: das „Wir“ verliert. Und der Teil in mir, der Zugehörigkeit, Verbundenheit und Nähe möchte, auch. Wie aber setze ich mich für das „wir“ ein, ohne das „ich“ zu vernachlässigen?

Diese Frage stellt für viele Menschen eine Überforderung dar. Nicht primär, weil sie an sich schon mental komplex sein kann, sondern weil die Gefühle, die mit dieser Frage einhergehen können, überwältigend und zu Tode beängstigend sein können. Und je wichtiger eine Beziehung ist, desto intensiver die Gefühle. Wer sich schon in einer Situation wie oben skizziert befunden hat, der kennt diese Intensität, die hinter den Äußerungen liegen dürfte. Klar zu denken, während Wut, Verletzung und Angst in einem toben, ist unmöglich. Das Nervensystem ist auf 180, absolute Achterbahn, ohne Anschnallgurte. Statt ruhigem Diskurs oder konstruktiver Auseinandersetzung sind nur noch Kampf, Flucht oder Einfrieren möglich. Wer nur die aktuelle Situation betrachtet, mag sich wundern, wie das sein kann. „Ging es nicht gerade noch nur um den Müll?“ Und ohne Verständnis für die Erlebnisse in den frühen Entwicklungsstadien eines Menschen, deren Folgen weit bis in’s Erwachsenenleben Auswirkungen haben, lässt sich auch nicht nachvollziehen, warum das so heftig sein kann.

Nahe am Abgrund

Da eine Voraussetzung für Lernen und Wachstum eine relative Stabilität ist, bedarf es oft einiges an Aufdeckung von abgewehrten Erinnerungen, um sich bewusst zu machen, wie prekär die Kindheit eines Menschen eigentlich ist – vor allem aus der Perspektive des Kindes. Wir sind maximal darauf angewiesen, dass wir von unseren Eltern und Fürsorgern gesehen und versorgt werden, weil es sonst niemand machen würde. Und selbst wenn uns im Fall von Gewalt oder Vernachlässigung in unserer relativ stabilen gesellschaftlichen Situation das Jugendamt retten und an die besten Adoptiveltern der Welt vermitteln würde – woher soll ein Kind das wissen? Hört also das Vorstellungsvermögen dafür auf, wo wir heute Abend schlafen, ob wir noch etwas zu Essen bekommen, es warm haben oder liebevoll behandelt werden, landen wir sehr schnell an einer Grenze. Und in der frühen Zeit, in der wir nicht einmal ein Vorstellungsvermögen haben, ist diese Grenze um so schneller erreicht. Ich glaube, dass wir selten eine genaue Vorstellung vom Tod entwickeln, sondern in den meisten Fällen so etwas wie einen „Nebel des Grauens“ wahrnehmen, an dem die Vorstellung verschwimmt und unscharf wird. Aber kommen wir diesem Nebel zu lange zu nah, empfinden wir Panik.

Da wir also für unsere Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität auf unsere primäre Beziehung, meistens mit der Mutter, angewiesen sind, kann diese Panik immer auch dann entstehen, wenn wir etwas anderes wollen, als die Mutter und dieser Unterschied die Sicherheit in der Beziehung bedroht. Je nach dem, von welchem Alter wir sprechen, sind die Möglichkeiten für das Kind natürlich unterschiedlich weitreichend. Aber nehmen wir mal an, es ginge darum, im Alter von 18 Monaten selber zu bestimmen, wie viel und was das Kind isst. Ist die Mutter entweder nicht in der Lage oder bereit auf das Kind einzugehen, kann für das Kind eine Notsituation entstehen, bei der es entweder bei dem bleibt, was es will und die Beziehung riskiert, oder seinen Willen aufgibt und sich anpasst, um Ruhe in die Beziehung und in’s eigene Nervensystem zu bringen. So lange es ein Machtkampf zwischen Mutter und Kind ist, ist letzere Wahl wesentlich wahrscheinlicher. Wir können schließlich auch ohne Selbstausdruck noch überleben, aber ohne Überlebensgrundlage bringt uns der Selbstausdruck nichts. Der Preis dafür ist, dass wir Teile unseres Selbstes leugnen, vergessen und verdrängen müssen, um den Verzicht darauf nicht als unerträglich zu erleben. Schaffen wir das nicht, werden Kampf- oder Fluchtimpulse so stark, dass wir ihnen nicht widerstehen können. Wer sich vorstellt, wie sich eine 3-jährige fühlen muss, die vor Schmerz und Wut hinaus in die Welt fliehen will, versteht, wie bedrohlich das sein muss.

Um jedoch ein gesundes Empfinden für sich selbst zu entwickeln, brauchen wir eine Situation, in der wir uns nicht zwischen Selbstausdruck und Beziehung entscheiden müssen. Und diese Situation entsteht nur durch Triangulierung. Traditionell ist mit dem „dritten Element“ der Vater gemeint. Und zur Illustration will ich auch vom Vater und seiner idealen Wirkung sprechen. Übergeordnet geht es bei der Triangulierung aber vor allem darum, dass es ein vermittelndes Element gibt, das zwischen den Unterschieden eine Brücke schafft. Weiter unten gehe ich darauf ein, welche anderen Formen es noch dafür geben kann.

Die Ideal-Situation

Gehen wir also davon aus, dass Mutter und Kind unterschiedliche Vorstellungen davon und Empfindungen dazu haben, was und wie viel gegessen werden sollte, kann es zum Machtkampf kommen. Kommt nun der Vater hinzu, der eine gute Bindung zum Kind und zur Mutter hat, kann er vermitteln. Er sieht unter Umständen etwas anderes in dem Verhalten des Kindes, wie z.B. den Wunsch, etwas selber zu bestimmen und zu spüren, welche Wirkung es damit haben kann. Wenn er das sieht und nachfühlt, kann er es formulieren und gegenüber der Mutter vertreten. Damit wird er quasi zum „Anwalt“ für das Kind, nimmt es in Schutz und stellt sich daneben. Das Kind kann schon mal anfangen sich zu entspannen, weil die Bedrohung durch die Mutter nachlässt.

Sicher ist die Beziehung aber erst, wenn der Vater nicht nur Antwalt, sondern auch Mediator ist. Dafür muss er auch die Bedürfnisse der Mutter verstehen, evtl. ihre Sorge darum, „es nicht richtig zu machen“, ihre Erschöpfung und ihr Bedürfnis nach Empathie und Erholung zu sehen. Die Präsenz und das Bewusstsein des Vaters sorgen dann für den Raum, in dem die Vermittlung stattfinden kann. Das Kind kann seine Gefühle und Bedürfnisse bewusst erleben, genauso wie die Mutter, ohne dass das die Fronten verschärft. Und vermutlich geht es dann nicht mehr um die konkrete Frage danach, wie viel gegessen wird, sondern um die darunterliegenden Gefühle und Bedürfnisse: die Erschöpfung und Entmutigung der Mutter, die Raum für sich und ihr Inneres braucht und das verständliche Bedürfnis des Kindes, selber zu bestimmen, was es essen mag. Mit dem Raum für diese Gefühle kann ein dritter Weg entstehen, der für Kind und Mutter gleichermaßen funktioniert und auch noch der Beziehung dient. Was genau das ist, ist nun gar nicht mehr so wichtig, weil die Verbindung auf Herzebene wieder hergestellt ist. Vielleicht ist das Kind satt, vielleicht gibt’s noch eine andere Idee zum Essen, vielleicht braucht die Mutter eine halbe Stunde für sich und der Vater springt ein.

Mir ist bewusst, dass ich damit eine Idealsituation beschreibe, die sich sicher sehr viele Menschen gewünscht hätten, jedoch eher selten erlebt haben werden. Damit möchte ich einen bewussten Maßstab dafür schaffen, wie es gehen kann – von dem ausgehend wir besser verstehen können, was in vielen Fällen fehlte und warum es unter Umständen auf diese Weise nicht möglich war. Und was es heute braucht, wenn wir über den Machtkampf hinauswachsen wollen.

Verschiedene Wege mit der gleichen Absicht

Wie schon gesagt, ist der Vater ein idealtypisches Beispiel, welches deswegen so viel Macht hat, weil in der Regel keine Bindung enger ist, als die mit der Mutter und die Notwendigkeit, Eigenständigkeit und Beziehung erhalten zu wollen, nirgendwo größer ist. In abgeschwächter Form kann diese Situation auch umgekehrt passieren, wobei das Kind mit dem Vater einen Konflikt hat und die Mutter vermittelt. Jeder andere nahestehende Erwachsene mit entsprechendem Bewusstsein kann ebenso die Vermittler-Rolle haben. Das vermittelnde Element kann aber auch darin bestehen, dass die Mutter selber Bewusstsein dafür hat, welche Berechtigung ihre Wünsche und Grenzen haben und sie ebenso im Blick hat, was das Kind braucht. Die Vermittlung findet dann in ihrem Bewusstsein statt und sie schafft einen Raum, in dem sie zunächst Verständnis und Einfühlung für sich entwickelt und dann Raum dafür öffnet, das Kind besser zu verstehen.

Vermittelnd wirken können auch Situationen im Außen oder im Körper. Die meisten Menschen erleben als Kind eine besondere Fürsorge, wenn sie krank sind. Ist der Krankheitszustand nicht allzu schlimm, kann er sogar herbeigesehnt werden, weil er der Mutter signalisiert „Meine Bedürfnisse sind jetzt wichtig.“ So kommt der sogenannte „sekundäre Krankheitsgewinn“ zustande, der letztlich im Kern mit der Erleichterung zu tun hat, mit den eigenen Bedürfnissen in der Beziehung vorkommen zu dürfen, ohne um die Beziehung fürchten zu müssen. Eine andere Art, die frühe Triangulierung zu erwirken, nutzt Geschlecht und Sexualität, worauf ich in einem künftigen Artikel eingehen will.

Ich bin sicher, dass es noch mehr Wege gibt, wie kleine Kinder versuchen, aus der Not dieses Machtkampfes zu entkommen, aber im Kern finde ich wichtig zu verstehen, um welche Qualität im Umgang miteinander es geht und warum und wofür die so wichtig ist. Angesichts dessen aber, dass die wenigsten solch eine Idealsituation erlebt haben, stellt sich die Frage, was wir nun mit diesem Wissen anfangen können. Offensichtlich können wir die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir haben die Möglichkeit, sie so zu untersuchen, dass wir vollständigere Bilder und umfassenderes Verständnis dafür gewinnen, wo wir in unserem Inneren jeweils stehen und was wir fühlen und verstehen müssen, bevor wir zur Triangulierung fähig sind.

Selbst vermitteln

Eine Art, das „Ziel“ von Psychotherapie zu beschreiben ist, „sich selbst der Vater und die Mutter zu werden, die man nicht hatte.“ Dies spricht darauf an, dass Bewusstsein an sich triangulieren kann. Wenn ich aufdecke, spüre und benennen kann, was in mir passiert, nehme ich dazu eine beobachtende Zeugenposition ein. Von dieser Position aus kann ich vermitteln – entweder mit einer mir wichtigen Person im Außen, oder auch zwischen verschiedenen Positionen in mir selber, wie z.B. wenn ich gleichzeitig autonom und jemandem nah sein möchte. Ohne dieses Bewusstsein spüre ich meine Bedürfnisse mitunter nur als Druck, dem ich nachgehen muss, wenn ich nicht unter unfassbare Spannung geraten will. Und wenn ich dadurch in einen Konflikt mit meinem Gegenüber gerate… nun, dann kann aus einem Hinweis zum Müll eine Nacht getrennt schlafen werden. Oder auch mehrere Nächte.

Zur Bewusstwerdung von Gefühlen und Bedürfnissen gibt es neben klassischer Psychotherapie einige Ansätze, die ich dafür hilfreich finde, allen voran die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg. Das schwierigste an der Entwicklung des Triangulierens liegt allerdings nicht auf der mentalen Verstandesebene, sondern ist tiefer, emotional und körperlich, verankert. Wie schon gesagt, besteht die Überforderung in der Regel vor allem darin, die Heftigkeit der Gefühle nicht ertragen zu können, die angesichts von Konflikten mit Menschen, die wir sehr nah an uns heranlassen, auftauchen können. Dazu zähle ich Enttäuschung, Wut, Verletzung und Angst. Manchmal aber sind es auch die „schönen“ Gefühle, die wiederum Panik auslösen können, weil sie an die eigene Verletzlichkeit und wiederum an den möglichen Schmerz erinnern.

Das Ertragen dieser Gefühle ist unter Umständen erst nach langer innerer Auseinandersetzung möglich, da wir sie unverarbeitet als pure Panik, Auflösung, tiefste Verzweiflung, Todesangst oder andere, viel rätselhaftere Symptome erleben können, die mitunter so weit vom Bewusstsein weg sind, das sie nur körperlich auftauchen. Kopf- und Bauchweh sind beliebte Kandidaten. Und je weniger bewusst uns unsere Geschichte und die heutigen Zusammenhänge damit sind, desto rätselhafter und beängstigender können diese Zustände sein, so dass wir alles mögliche tun, um sie zu vermeiden. Dazu gehören Süchte, Selbstbilder und Überzeugungen, an die wir trotz klarer Gegenbeweise glauben. Aber zur Vermeidung eignen sich auch alle Versuche, einen geliebten Menschen auf Abstand zu halten oder Druck auf ihn auszuüben, er möge doch die unbewussten Deals einhalten, die wir vermeintlich einvernehmlich eingegangen sind und sich an unsere Wünsche anpassen.

Wenn wir diese heftigen Zustände jedoch konsequent vermeiden, kommen wir auch nicht in die Position, deren Wurzel für die heutige Situationen adäquat zu berücksichtigen und in die Vermittlung bei konkreten Konfliktsituationen mit einfließen zu lassen. Mitunter braucht es heftige Krisen im Leben eines Menschen, bevor er bereit ist, sich mit den vermiedenen und abgewehrten Gefühlen auseinanderzusetzen. Die Situation im Außen muss manchmal so unerträglich werden, dass das innere Unerträgliche im Vergleich akzeptabel wirkt. Da das wiederum auch überfordernd sein kann, kann die innere Arbeit sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, in der in ganz kleinen Schritten, Schicht für Schicht der Gefühle zu dem frühen Drama des Machtkampfes und der Anpassung ins Bewusstsein gelangt.

Ist dieser Weg jedoch für einen guten Teil gegangen worden, kann das erwachsene Bewusstsein die innere frühe Not erfassen, berühren und halten, so wie der damalige ideale Elternteil es getan hätte. Wir können dann zu unserem eigenen Anwalt und Mediator werden. Dadurch wird echtes und tief empfundenes Mitgefühl mit dem Kind möglich, das wir einmal waren und deren Gefühle und Erlebnisse bis heute prägen, wer wir sind. Und mit diesem bewussten Mitgefühl kann ich in die Vermittlung gehen – sei es zwischen verschiedenen Anteilen in mir oder zwischen mir und einem geliebten Menschen, mit dem ich Unterschiede habe. Außerdem habe ich damit auch die innere Freiheit, innerhalb einer Beziehung Grenzen zu ziehen und unter Umständen Abstand zu schaffen, wenn ich Raum für innere Vermittlung brauche. Komme ich zu dem Schluss, dass mein Gegenüber nicht die Voraussetzungen erfüllt, die ich mir für die Beziehung wünsche, kann ich auch entscheiden, eine Beziehung zu beenden – und dank der inneren Vermittlung die Gefühle auffangen, die dieser Verlust vermutlich auslöst und die als Kind unerträglich gewesen wären.

Eine Alternative

Vor dem Hintergrund des bis hierher Erörterten möchte ich nochmal den Dialog vom Anfang aufgreifen, mit dem Unterschied, dass es dem Mann möglich ist, mit der Triangulierung zwischen verschiedenen Anteilen in ihm und seiner Partnerin anzufangen, bevor auch sie miteinstimmt. Damit möchte ich demonstrieren, welcher Raum dank der Triangulierung aufgehen kann, in dem all die Konflikte, Unterschiede, aber auch die Verbundenheit Platz haben.


Sie: „Schatz, hast du den Müll schon rausgebracht?“

Er: „Nee, aber mache ich später, jetzt stress mich doch nicht so!“

Sie: „Mach ich doch gar nicht! Ich hab halt keinen Bock auf ’ne stinkende Küche und sehe nicht ein, dass ich schon wieder dafür sorgen soll!“

Er: „Moment mal… lass uns mal für einen Moment inne halten, irgendwas läuft hier gerade aus dem Ruder…“

Sie ist zwar angespannt und wütend, aber wird still und lässt ihm Raum zum Spüren. Er schließt die Augen und nimmt wahr, dass er sehr unter Spannung steht. Ihm wird bewusst, dass er Angst hat, er könnte seine beruflichen Aufgaben nicht rechtzeitig schaffen und dabei Geld einbüßen, das er sehr gerne für sich und seine Partnerin zur Verfügung hätte. Auf einer noch tieferen Ebene spürt er die Verzweiflung, die er als kleiner Junge hatte, wenn er keine Worte dafür hatte, wie es ihm ging und sich so gewünscht hätte, seine Mutter hätte es erspüren und ihn verstehen können. Das war oft nicht so gewesen und sein Vater war ebenso nicht da gewesen, um für das Verständnis zu sorgen. Er hatte lange gebraucht, um den tiefen Schmerz und die Ohnmacht darüber endlich zulassen zu können, statt sich zu sagen, dass er das nicht bräuchte oder irgendwann noch erwirken könnte. Auf einer Ebene hätte er dieses Verständnis gerade unfassbar gerne von seiner Partnerin bekommen. Auf einer anderen Ebene kann er sie sehen, wie sie gerade ebenfalls unter Druck steht, auch wenn er noch nicht genau weiß, was dahinter steckt. Er atmet noch einmal durch, öffnet die Augen und sagt: „Du, Schatz, ich merk, dass du ganz schön unter Druck zu stehen scheinst. Magste sagen, was dich so beschäftigt?“

Sein ruhiger und freundlicher Tonfall berührt und beruhigt sie schon ein ganzes Stück weit und sie sagt: „Ach du… ja, das stimmt. Sorry, dass ich dich gerad so angeschnauzt hab. Ich habe jetzt ein paar Mal gehört, dass du Dinge später machen willst und dann waren sie doch nicht gemacht. Mich stresst das total, weil ich dann anfange zu zweifeln, dass du mich wirklich hörst und ernst nimmst.“

Er nimmt das auf und ist erleichtert, sie darin spüren zu können. Weil er sie kennt, hört er auf einer tieferen Ebene das Kindheitsthema von ihr, bei dem in Frage steht, ob ihre Bedürfnisse überhaupt eine Rolle spielen durften, wenn sie anders waren, als ihre Mutter wollte oder wichtig fand. Sie hatten darüber schon oft Gespräche geführt, deswegen antwortet er: „Das trifft dich gerad an dem alten Punkt, oder?“

Sie: „Ja… danke, dass du das gerad siehst.“ Sie seufzt und es kommen ihr ein paar Tränen. Sie ist gerührt davon, dass er sie sieht. Gleichzeitig spürt sie auch, wie tief dieser Schmerz sitzt und wie schwer es ihr manchmal fällt, ihn bewusst zu ertragen. Ganz davon zu schweigen ihn zu halten und Mitgefühl mit sich zu haben. Stattdessen spürt sie schnell den Impuls, sich unter Druck zu setzen und den Druck wütend nach außen weiter zu geben. Manchmal fällt sie auf den Druck hin auch dissoziiert in sich zusammen und spürt nichts mehr, wie als sie ganz klein war und ohne die Mutter nichts machen konnte. Sie fühlt die Not wie eine unfassbare Last auf der Brust, der ihr schier den Atem raubt. Sie erinnert sich, wie einsam sie als kleines Mädchen war, wenn ihr die Beachtung und das Verständnis ihrer Mutter fehlte und auch für sie kein Vater da war, der hätte vermitteln können. Auch sie wünscht sich manchmal, ihr Partner könnte das verstehen, ohne dass sie etwas sagen müsste – dann würde diese unerträgliche Verzweiflung doch gar nicht erst aufkommen! Gleichzeitig weiß sie genug, um zu verstehen, was es ihn kosten würde, wenn er das versuchen würde. Denn er müsste dafür viel mehr auf sie als auf sich achten – und das würde letztlich der Beziehung und damit auch ihr schaden. Nach vielen Versuchen in der Vergangenheit weiß sie, dass sie diesen Preis nicht zahlen möchte.

Zu ihm sagt sie also: „Weißt du, ich weiß, dass du mir nicht abnehmen kannst, dass ich mich mitteile, wenn ich fürchte, dass du mich nicht ernst nimmst, auch wenn ich mir das manchmal so wünschen würde. Und ich kann sehen, dass du selber unter Druck stehst und der Haushalt für dich deswegen auch gerade hinten an steht…“ Sie hält inne, atmet durch und sagt: „Ich merke gerade, ich stehe nicht mehr unter Stress. Ich kann gerad meinen Zweifel und die Verzweiflung von früher verstehen. Ich krieg außerdem mit, dass du mich ernst nimmst.“

Er ist erleichtert und berührt und lädt sie zu einer tiefen, zärtlichen Umarmung ein. Nachdem sie sie annimmt, sagt er ihr sanft in’s Ohr: „Was hältst du davon, wenn ich jetzt den Müll rausbringe und wir es uns dann auf der Couch gemütlich machen?“

Sie: „Das fänd ich ganz wunderbar… dann bereite ich schon mal die Snacks vor.“

Einfach mal so halt

Mir ist in den letzten Wochen aufgefallen, wie häufig meine KlientInnen Wörter wie „einfach, „mal“ oder „halt“ in Kontexten benutzen, die in der Regel alles andere als einfach sind.

„Ja, ich weiß, ich sollte halt einfach mal Grenzen setzen oder endlich kündigen.“

„Warum sag ich nicht einfach, was ich will? Das werde ich doch wohl mal hinkriegen, oder nicht?“

„Wenn ich einfach mal im Hier und Jetzt wäre, würde es mir bestimmt besser gehen.“

Oder auch Wörter, die Selbstverständlichkeit suggerieren, wo keine ist. Darunter zähle ich „natürlich“, „sicherlich“, „total klar“, „logisch.“

„Natürlich verdränge ich, dass es mir total beschissen geht.“

„Ich pass nicht auf mich auf, total klar, brauchen wir gar nicht drüber reden.“

„Sicherlich hab ich meine Ehe vor die Wand gefahren. Logisch, denn ich hab halt einfach keine Ziele mehr gehabt.“

Beliebt sind auch „irgendwie“ und „sozusagen“, welche für Unschärfe sorgen, wo Konkretes anecken könnte:

„Ja, jetzt sorg halt irgendwie mal für Ordnung, jetzt sofort, sozusagen.“

„Irgendwie fühle ich mich hier unwohl, ziemlich sehr sogar irgendwie.“

„Das ist, sozusagen, was ich die ganze Zeit sozusagen irgendwie nicht sagen wollte.“

Lange Zeit habe ich mich über diese Diskrepanz zwischen Inhalt und Sprache aufgeregt. Aber inzwischen merke ich, dass ich sie mit entsprechendem Feingefühl und Humor sinnvoll nutzen kann, um schnell an der Abwehr vorbei zu saftigen Themen zu kommen, die brandaktuell, tiefgehend und konflikthaft sind und die die Menschen, mit denen ich arbeite, direkt betreffen.

Füllwörter haben im Sprachgebrauch oft die Funktion, harte Positionen in Watte zu packen, so dass sich niemand daran stoßen kann. Wenn ich „halt irgendwie mal“ eine Grenze setze, klingt das umgänglicher, als wenn ich eine Grenze setze. Es ist einfacher, „irgendwie unzufrieden“ zu sein, wenn zu viel Schärfe und Klarheit über eine Unzufriedenheit die Beziehung in Frage stellen könnte. Und ich finde es durchaus legitim, dieses „Schmiermittel“ bewusst einzusetzen. Genauso nützlich finde ich es, nachzuschauen, was dahinter steckt, denn ich kann diese Wörter auch als hypnotische Sprachmuster verstehen, die eine Abwehrwirkung haben und alles andere als zufällig auftauchen.

Immer da, wo wir es mit großen schwierigen Problemen zu tun haben, können wir schnell unsere innere Stabilität in Gefahr sehen. Probleme und Konflikte lösen mitunter Chaos aus und wir fürchten, den Überblick über unser Leben zu verlieren. Je komplexer das Problem, desto unklarer, wie die Lösung aussehen könnte. Vielleicht gibt es ja auch gar keine und was wäre dann? Kann ich aushalten, das nicht zu wissen? Kann ich die Spannung halten? Diesen Umstand ohne Unterbrechung präsent zu haben kann im Leben für große Unruhe sorgen. Wenn ich jedoch beginne, das Problem optimistisch zu verzerren, kommt es mir nicht mehr so überwältigend vor und ich kann mich auf bestimmte Lebensbereiche konzentrieren. Gleichzeitig zahle ich damit, dass ich die problematischen Bereiche nicht mehr so genau wahrnehme, wie ich müsste, um sie überblicken zu können. Und genau die melden sich mittels der Symptome, mit denen KlientInnen in die Praxis kommen.

Gar nicht mehr so einfach

Wer Interesse hat, bei sich tiefer zu gehen, kann sich dabei beobachten, an welchen Stellen sie/er diese hypnotischen Sprachmuster bei sich selbst enteckt. Um auch nur ansatzweise zu spüren, was sie abwehren, reicht es zunächst, den gleichen Satz ohne die Füllwörter zu sagen und zu spüren, wie er sich anfühlt. Nehmen wir folgenden Beispielsatz:

„Dann werde ich halt einfach irgendwann mal irgendwie mit dem Abnehmen anfangen, kann doch nicht so schwer sein.“

Und jetzt ohne Füllwörter:

„Dann werde ich mit dem Abnehmen anfangen.“

Wenn ich den zweiten Satz lese, werden die Konsequenzen sofort spürbar. Der Klient, den das Thema betraf, sagte daraufhin dazu: „Das kriege ich nie hin.“ Fragen, die im Prozess auftauchten waren: Mit welchen Konflikten kriege ich es zu tun? Welche Funktionen erfüllt das Essen? Was verbinde ich mit Kochen und bewusster Auswahl von Nahrungsmitteln? Mit körperlicher Selbstfürsorge? Wie geht es mir mit Sport und Bewegung? Welche sozialen Erfahrungen verbinde ich damit? Wie beziehe ich mich auf meinen Körper? Was bedeutet es für mich, zu leben und gesund zu sein, bzw. sterben zu können? Mit einem Schlag wird deutlich, was Füllwörter alles abwehren können, ohne dass wir es merken. Und wie komplex die Zusammenhänge sein können, über die wir Überblick brauchen, wenn wir ein Gleichgewicht herstellen wollen.

Im Folgenden nehme ich ein paar weitere Beispiele von oben, lasse die Füllwörter weg und berichte vom dazugehörigen Therapie-Prozess, um zu illustrieren, was sich hinter der vereinfachten Oberfläche verbergen kann.

„Ja, ich weiß, ich sollte meine Grenzen setzen oder endlich kündigen.“

Sofort ist der Konflikt anwesend und sehr deutlich, welche Gravitas er hat. Die betreffende Klientin im Klartext dazu: „Einerseits weiß ich woran ich bin, meine Umstände sind vertraut, meine Miete bezahlt, mein Kühlschrank voll. Ich hasse es, nicht zu wissen, wie es weitergeht. Deswegen verkneife ich mir Tag für Tag zu sagen, was mir stinkt. Andererseits habe ich Kopfschmerzen, wenn ich schon in’s Büro gehe, meine Kollegen schaffen eine Geräuschkulisse, die meine Konzentration unmöglich macht und mein Chef reagiert erst nach der vierten Email auf meinen Hinweis, dass das Programm nicht funktioniert, mit dem ich meine Aufträge erfüllen soll. Ich bin ratlos und weiß nicht, wie ich hierzu eine balancierte Sichtweise finden soll, bei der ich weder zu krass noch zu nachgiebig handel.“

„Ich pass nicht auf mich auf.“

Hier klar zu sein wirft die Frage auf: „Ja, warum denn nicht?“ In der Untersuchung entdeckte die betreffende Klientin, dass sie einen tiefen Konflikt darüber hatte, ob sie überhaupt am Leben sein möchte. Nicht als ganze Person, aber zu einem kleinen Teil, der immer wieder an die Oberfläche kam. Sie hatte als kleines Kind ein paar sehr gewaltvolle Erfahrungen gemacht und war bis heute damit isoliert geblieben. Das heißt, sie hatte nach anfänglichen Versuchen als Kind, die scheinbar ignoriert oder abgeblockt worden waren, niemandem davon erzählt und auch selbst den bewussten Kontakt zu der Erinnerung verloren. Der Teil von ihr, der diese Erfahrung gemacht hatte, wollte jedoch gehört werden und ohne diese Aufmerksamkeit hatte er sich in Verhalten ausgedrückt, das der Klientin immer wieder ein Rätsel war. Sie beobachte sich bei riskanten Überholmanövern, ungeschütztem Sex mit dubiosen Männern oder das wiederholte Vergessen von wichtigen Terminen oder Liegenlassen und Verlieren von wichtigen Gegenständen. Darin drückte sich im Überblick der Unwille aus, sich so auf’s Leben zu konzentrieren, dass ihr so etwas nicht passierte, da sie einen Konflikt mit dem Leben hatte, der unbewusst wirkte. Erst als das bewusst wurde und die Klientin sich aufmerksam ihrem Schmerz zuwenden konnte, änderte sich ihr Verhalten allmählich.

„Ich hab meine Ehe vor die Wand gefahren. Ich hatte keine Ziele mehr.“

„Wie das? Welche Ziele hatten Sie denn gehabt? Was ist damit passiert?“ Ohne die Füllwörter konnte der Klient nicht mehr abwehren, dass dem Ende seiner Ehe ein intensiver innerer Konflikt vorausging, mit dem er sich lieber nicht auseinandersetzen wollte. Er war bei der Arbeit hintergangen worden und hätte aggressiv auftreten oder kündigen müssen, um seine Situation zu verändern, war aber resigniert in sich zusammengesunken und hatte einige Jahre ausgeharrt, ohne dass es besser wurde. Seine Frau bekam das mit und wollte nicht mehr, nachdem sie einige Versuche unternommen hatte, zu ihm durchzudringen. Er nahm das passiv hin und kam mit Depressionen zu mir. Im Kern fand er, dass er glaubte, sich zu wehren würde ihn nur in Gefahr bringen, da ihn ohnehin jeder platt machen würde. Als Kind war ihm das einige Male passiert, vor allem mit seiner Mutter, was er jedoch bis dato nicht bewusst reflektiert hatte. Ohne Bewusstsein für seine frühe Ohnmacht war es ihm unmöglich, eine realistische Einschätzung seiner Möglichkeiten zu finden, die durchaus besser waren, als er glaubte. Das verhalf ihm zu einer Perspektive, in der ihm wieder Ziele einfielen, für die sich einzusetzen sich lohnte.


Diese Beispiele illustrieren, was für ein komplexes Innenleben hinter vermeintlich einfachen Sätzen stecken und wie es Eingang in den sprichwörtlichen „Kaninchenbau“ der Seele sein kann (daher auch das Titelbild). Gleichzeitig möchte ich keine Formel daraus machen, die jederzeit und immer besagt, dass Füllwörter etwas abwehren. Es erfordert entsprechende Selbstwahrnehmung, spüren zu können, ob Sprache und Inhalt sich widersprechen und was das etwaige Unbehagen bedeuten könnte, wenn es nicht zusammenpasst. Dazu hilft es, diese Übereinstimmung oder das Fehlen davon bei sich selbst wahrnehmen zu können. Mit diesen Worten der Vorsicht möchte ich dennoch sagen, dass Abwehr oft sehr raffiniert, versteckt und getarnt ist und psychotherapeutische Prozesse und Gespräche dadurch zäh und schwierig werden können. Diese Füllwörter können hingegen ein einfacher Einstieg sein. Einfach mal so halt 😉

Lust, Spannung und Depression

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

„Ich weiß auch nicht: wenn ich etwas anderes will, als meine Partnerin, schluck ich das ganz lange runter, bis ich explodiere. Dann knallt’s, ich entschuldige mich und es wird wieder ruhig. Dann merke ich aber, dass es wieder so wird wie vorher und ich einfach nicht aus dem Quark komme. Ich will das nicht, denn es wiederholt sich jetzt schon viel zu lange immer wieder so, aber ich weiß mir nicht zu helfen. Können Sie mir sagen, was ich tun soll?“

So oder so ähnlich klingen viele meiner KlientInnen, wenn sie in meine Praxis kommen. Ich stehe dann jedes Mal vor dem Dilemma, dass ich den Auftrag gern erfüllen würde, diese Art von Problemen aber nicht durch Instruktionen lösen kann. Es gibt sicher viele How-to-Ansätze, die in einer Abfolge von Schritten Orientierung geben wollen, wie sich im Leben Konflikte und Entscheidungsprobleme lösen lassen. Und wäre es nicht wunderbar und erleichternd, wenn das einfach funktionieren würde? Wenn wir glauben dürften, dass etwas sicher und erprobt ist und wir blind folgen könnten, ohne enttäuscht zu werden? Aber Situationen im Leben ändern sich schnell und selbst bei erprobten Ansätzen müssen wir jedes Mal neu schauen, wie deren Grundannahmen in der aktuellen Situation auftauchen und wirken.

Da das Anliegen hinter der Frage jedoch Orientierung ist, möchte ich hier einen Ansatz vorstellen, der in der letzten Zeit in der Arbeit mit Klienten und aus der Synthese all meiner vorherigen Erfahrung und gelernten Modelle entstanden ist. Die Kriterien dafür sind die einer guten Landkarte: genug Genauigkeit und Detailliertheit, um eine allgemeine Richtung und Ansatzpunkte zur inneren Erforschung zu liefern, bei gleichzeitigem Freiraum für die Komplexität des Lebens, die sich weder reduzieren noch festlegen lässt.

Spektrum der Spannung

Als Grundproblem möchte ich Folgendes definieren: immer, wenn ich etwas will und die Situation gibt es nicht her, entsteht Spannung. Im obigen Zitat sind es unterschiedliche Wünsche zwischen dem Klienten und seiner Partnerin. Es kann aber auch ein praktisches Problem sein, für das ich noch keine Lösung habe. Oder eine Sehnsucht nach etwas anderem im Leben, das noch nicht da ist.

„Spannung“ ist ein Begriff, den wir sowohl für Angenehmes als auch Unangenehmes verwenden, das heißt, es gibt eine Art Spektrum dafür, wie wir Spannung erleben. Und je nachdem, wo wir auf dem Spektrum sind, gehen wir unterschiedlich damit um… oder bleiben stecken und kommen nicht weiter, wie der zitierte Klient. Im folgenden Schaubild will ich dieses Spektrum anhand des Yin/Yang-Symbols illustrieren:

Schaubild 1

Das Symbol aus dem Taoismus steht für Wandel, der sich aus dem Spiel zwischen Yin und Yang ergibt. Yang (weiß) repräsentiert die Ordnung und Yin (schwarz) das Chaos. Ordnung und Chaos verstehe ich weder als gut noch schlecht, denn Chaos kann sowohl zerstörerisch als auch fruchtbar sein und Ordnung kann stabilisieren, aber auch ersticken. Aus diesem Grund gibt es keinen Endzustand im Leben, der einfach perfekt wäre, sondern es ist immer ein Balanceakt, der Liebe, Wachheit und Klarheit erfordert, wenn er gelingen soll.

Die Linie in der Mitte soll das Spektrum der Spannung bezeichnen, eingeteilt in drei Zonen: eine Stabilitätszone, eine Lernzone, in der wir auch Sinn erleben, und eine Panikzone. Wenn wir etwas „spannend“ nennen, sprechen wir in der Regel von der Lernzone. Die Panikzone drückt sich in Worten wie „zu viel“, „Albtraum“ oder „höllisch“ aus. Die Stabilitätszone zeichnet sich durch Ruhe und Entspannung aus, kann aber auch als langweilig und erdrückend erlebt werden.

Übertragen auf das Leben heißt das, dass wir drei verschiedene Arten von Situationen haben. In der Stabilitätszone (1) wissen wir z.B. wo wir wohnen, wie wir den Kühlschrank voll kriegen und zu wem wir gehen, wenn wir uns unterhalten wollen. Wir haben Überblick und leben in bekannten Gefilden. Das kann wunderbar und erholsam sein, wenn wir zuvor lange ohne diese Ruhe ausgekommen sind, aber auch deprimierend und einengend. In der Lernzone (2) beschäftigen wir uns mit Problemen, die uns weiterbringen oder unser Leben verbessern, ohne die Sicherheit zu haben, dass es funktioniert. Es ist aufregend und „spannend“: ein angenehmes Kitzeln, die Lust etwas zu beeinflussen oder zu meistern. Hier erleben wir auch „Flow“ und Sinn – was wir tun ist bedeutsam und nicht egal. Wir sind am Rande unserer bekannten Welt, ohne diese jedoch komplett zu verlassen. Die Panikzone (3) schließlich taucht immer da auf, wo wir völlig im Unbekannten sind. Plötzliche Veränderungen wie der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust von Arbeit, Wohnung oder Gesundheit, die Zerstörung eines Traums oder lebensbedrohliche Situationen können so viel Spannung erzeugen, dass wir überfordert oder völlig am Ende sind. Und wenn wir überfordert sind, versuchen wir die Spannung auf alle erdenkliche Art und Weise zu reduzieren.

Das heißt, wie wir mit Spannung umgehen können, hängt von unserer Fähigkeit ab, mit Komplexität umzugehen. Wann immer ich etwas will, bekomme ich es mit verschiedenen Bedingungen, Ressourcen und den Grenzen und Wünschen anderer Menschen zu tun. Mein Leben wird also komplexer und chaotischer, wenn ich mehr will. Und unter Umständen so komplex, dass ich die Spannung nicht aushalte und sie um jeden Preis reduzieren will. Das ist nur menschlich, verständlich und geschieht meistens unbewusst, aber der Preis kann hoch sein und in sehr schmerzhafte Situationen führen, aus denen Menschen nur noch mit professioneller Hilfe herausfinden.

Spannung reduzieren vs. halten

Ich sehe im Prinzip zwei unreife und eine reife Art, Spannung zu reduzieren. Die unreifen Arten entwickeln wir, wenn wir klein sind. Und ohne Korrektur oder Reflexion kann es sein, dass wir darüber auch nie hinauswachsen. Die reife Art braucht Aufmerksamkeit und Bewusstsein und wird wahrscheinlich nie zur Gewohnheit, weswegen wir achtsam dran bleiben müssen, um nicht in die Unreife abzurutschen.

Wenn Spannung entsteht, weil zwei Menschen etwas Unterschiedliches wollen, kann ich Spannung reduzieren, indem ich Unterschiede ausmerze und das, was jemand will, für unwichtig erkläre. Das kann ich mit mir selber machen (Depression) oder mit meinem Gegenüber (Druck ausüben). Dafür gibt es Myriaden von unterschiedlichen Strategien und manchmal ist dieses Motiv sehr versteckt, aber das Grundprinzip ist immer das gleiche: Der Raum reicht nur für einen Willen, also muss einer der beiden seinen Willen aufgeben. Wenn z.B. ein 3jähriger Lust hat, mit der Mama zu spielen und sie will sich ausruhen, passt das nicht zusammen und erzeugt Spannung. Der Junge kann nun wütend auf seine Mama sein und sie doof finden (Druck in Form von Entwertungen, Vorwürfen und Forderungen ausüben), sich selbst für seine Lust zum Spiel beschimpfen (Depression, Selbst-Entwertung) oder versuchen, eine wirkliche Lösung zu finden. Für Letzteres muss er die Spannung aber halten, damit genug Zeit da ist, etwas anderes passendes zu finden (reifer Umgang).

Da wir als Kinder in der Regel nicht in der Lage sind, uns unabhängig von den Eltern zu versorgen oder uns Alternativen zur elterlichen Versorgung vorzustellen, kann die Spannung schnell zu viel werden und uns in die Panik-Zone katapultieren. „Was wenn die Mama mich nicht mehr will? Wo komm ich dann unter, wo krieg ich was zu essen, wer passt auf mich auf?“ Das heißt, der Druck kann sehr groß sein, auf das eigene Wollen zu verzichten, um die Beziehung nicht über ein bestimmtes Maß hinaus zu gefährden. Da das Wollen des Jungen zu Spannung in der Beziehung zur Mutter führt, kann er sich davon distanzieren und es in sich runterdrücken, also deprimieren. Das stabilisiert die Beziehung, kostet ihn aber den Ausdruck von Lebensenergie.

Hat der 3jährige eine Mutter, die ihre eigenen Wünsche für unwichtig erklärt, kann es aber auch sein, dass er sie mit Druck dazu bewegen kann, sich nicht auszuruhen, sondern mit ihm zu spielen. Das sieht wie ein Sieg aus, ist aber keiner, wenn wir bedenken, wie es sich anfühlt, wenn jemand aus Druck heraus etwas für uns tut: der Junge wird kaum Freude am Spiel mit der Mutter haben, wenn sie dafür ihr Wollen aufgegeben hat. Es kann dennoch sein, dass das besser ist als keine Interaktion und der Junge lernt, dass er mit Wutausbrüchen dafür sorgen kann, dass andere sich seinem Willen fügen, ohne dass er in den Genuss echter gemeinsamer Erfüllung kommt.

Denn für diese Erfüllung braucht es die Bereitschaft, die Spannung zu halten, alle Wünsche darin gelten zu lassen und einen Raum für neue Möglichkeiten zu öffnen. Hat die Mutter diese Kapazität entwickelt, kann sie mit dem Jungen so in Kontakt gehen, dass der Junge in seinem Wunsch gesehen wird, ohne dass sie ihren eigenen Wunsch aufgibt. Allein dieses „gesehen werden“ kann die Spannung sehr reduzieren, weil dadurch spürbar wird, dass die Beziehung durch die unterschiedlichen Wünsche nicht in Gefahr gerät und immer noch Potential besteht, gemeinsam zur Erfüllung zu kommen. Dafür muss die Mutter ihren eigenen Wunsch nach Erholung aufschieben können, ohne ihn aufzugeben, den Beziehungsraum halten und andere Möglichkeiten der Erfüllung auftauchen lassen, die konkret in eine Verabredung münden können. Diese Erfahrung kann den Jungen dazu ermutigen, auszudrücken, was er sich wünscht und gleichzeitig wahrzunehmen, was seine Mutter möchte, ohne dass einer dafür zurückstecken muss.

Oft genug jedoch haben Eltern diese Kapazität nicht, sind selber überfordert und haben keine Ressourcen, um den Raum so zu halten. Das heißt, das fordert uns als Kindern eine feine Abstimmung dessen ab, was die Beziehung aushält und was nicht. Und aus dieser Abstimmung bilden sich die unbewussten unreifen Strategien, Spannung zwischen Menschen so zu reduzieren, dass wir irgendwann in genau so einer Situation landen, wie mein Klient.

Lust

Wenn ich sage, dass etwas zu wollen das Leben komplexer macht, ist das nur eine Seite davon. Die andere Seite ist, dass das Wollen an sich unserem Leben Saft, Energie und Würze gibt. Sind wir in Kontakt damit, dass wir Lust auf etwas haben (sowohl sexuell, als auch ganz allgemein auf alles Schöne im Leben), belebt uns das, die Stimmung wird lustiger und dynamischer. Unser inneres Feuer, unsere Kraftquelle ist davon abhängig, dass wir es uns erlauben, etwas zu wollen. Fehlt uns dieses Feuer, fehlt uns der Grund, morgens aufzustehen, uns ins Unbekannte vorzuwagen oder etwas anzugehen, was wir noch nicht kennen. Außerdem fehlt uns die Kraft, dem Wollen anderer Menschen zu widerstehen und unseren eigenen Weg zu gehen, was sich in Angst und Erstarrung ausdrücken kann, aus der heraus wir uns anderen Menschen anpassen oder sie lieber meiden, uns isolieren und vereinsamen.

Erst in diesem Licht wird mir klar, warum Sigmund Freud die Sexualität so wichtig fand. Im historischen Kontext sehe ich, dass die sexuelle Aufklärung zu seiner Zeit hoffnungslos unterentwickelt war. Manche Frauen in den Schichten, die sich Psychoanalyse leisten konnten, hatten bis zur Hochzeitsnacht keine Ahnung, was Sexualität überhaupt ist, weil sie für die gesellschaftliche Stabilität systematisch davon ferngehalten wurden. Entsprechend riskant war es eben auch, dass Freud dieses Tabu brach. Eine der wichtigsten Begründungen für dieses Vorgehen war, dass er eine Verbindung zwischen Körper und Seele suchte, die seine Psychoanalyse auf legitimen medizinischen Boden stellte. Die Sexualität war diese Verbindung.

Wichtiger erscheint mir allerdings, dass die Lebensenergie der Lust unabdingbar dafür ist, dass das Leben Freude macht. Sie ist Treibstoff und Anlass für Chaos zugleich, weil sie in Bewegung bringt, ohne dass man wissen kann, wo einen das hinführt. Auch in Freuds Triebtheorie ist von dem ewigen Konflikt zwischen den Trieben und der Gesellschaft die Rede, der sich nicht reduzieren, höchstens umwandeln und sublimieren (veredeln) lässt. Ich habe nicht den Eindruck, dass Freud wusste, wie er in diesem Konflikt gut für sich sorgen konnte, denn er soll gesagt haben, dass er sich von der Psychoanalyse nicht mehr verspreche, als unneurotisches Unglück. Das klingt für mich auch wieder wie ein deprimierender Versuch, Spannung zu reduzieren, statt offen für erfüllende Möglichkeiten zu bleiben, mit der entsprechenden Unwissenheit, nicht zu wissen, ob und wie das gelingen kann.

Ich habe meinem Lehrer Gustl Marlock die Erfahrung zu verdanken, wie lustig Lust sein kann. In der Supervision mit ihm habe ich regelmäßig schallend gelacht, wenn er mich auf versteckte Lust und Versuche hingewiesen hat, wie Menschen vor sich selbst verstecken, dass sie etwas oder jemanden wollen. Das finde ich besonders komisch, wenn jemand aus der Depression heraus den Eindruck zu erwecken versucht, er/sie sei gar nicht da und sei total harmlos. Das ist menschlich verständlich (Spannung reduzieren) und einfach nicht wahr. Und auch mit meinen KlientInnen mache ich immer wieder die Erfahrung, dass das lustig ist. Es macht irgendwie unheimlich Spaß, aufzudecken, dass wir alle sexuelle Wesen sind, die Freude daran haben, Lust zu fühlen und auszudrücken und zu spielen, selbst wenn wir unheimliche Angst vor der Komplexität haben, mit der wir es dann zu tun bekommen. Allein das reicht mir schon, um spüren zu können, wie wichtig Lust für ein gesundes und gelungenes Leben ist.

Erfüllung finden

Da das Leben komplexer wird, wenn wir bemerken, wie wir unsere Lust für unwichtig erklären und wirklich zulassen, dass wir uns Erfüllung in Beziehung mit anderen Menschen wünschen, ohne, dass diese sich aufgeben, wird genau hier der Ruf nach Rezepten besonders laut. Das Chaos wird größer, die Kriterien für gelungenes Handeln nehmen zu, es kann uns schnell zu viel werden und uns in die Panik-Zone katapultieren. Aber Rezepte und How-to-Ansätze haben die Neigung, die Komplexität zu reduzieren und nicht wirklich zu erfassen, was gerade passiert. Deswegen will ich mich hier nur auf Bedingungen konzentrieren, die die Erfüllung wahrscheinlicher machen, aber mitnichten garantieren können.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich für mich, dass Erfüllung nur dann gelingt, wenn wir unsere unreifen Strategien zur Spannungsreduktion erkennen, so dass wir überhaupt eine Wahlfreiheit zu neuen Möglichkeiten wahrnehmen können. Diese Strategien werden klassisch-psychoanalytisch Abwehr genannt und können sehr verschiedene Formen haben (hier ein Übersicht), laufen aber im Kern immer auf „was ich will ist nicht wichtig“ bzw. „was du willst ist nicht wichtig“ hinaus. Und hier ist mitunter wirklich viel Zeit und Reflexion mit einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten erforderlich, um diesen Mustern auf die Spur zu kommen, weil sie manchmal erstaunlich gut versteckt sind und sich als etwas ganz anderes tarnen, was uns unreflektiert vollkommen normal vorkommt.

Erkennen wir unsere Abwehr, wird das Leben vermutlich erstmal schwieriger, weil wir mehr bedenken müssen. Die Angst und Spannungen, die dabei auftauchen, brauchen gewissermaßen einen Raum, in dem sie sich ausbreiten können, damit wir unter ihrem Druck nicht um uns schießen oder uns gleich wieder deprimieren. Um diesen Raum zu schaffen und zu erweitern meditiere ich täglich und halte den Fokus darauf, zu fühlen, was in meinem Körper passiert, ohne dass ich etwas tu oder darüber nachdenke. Das erlaubt mir die Erfahrung zu fühlen, ohne Handeln zu müssen. Und je öfter ich das erlebe, desto mehr Kapazität habe ich, in wirklich wichtigen Momenten inne zu halten und einen bewussten Umgang mit Lust und Spannung zu wählen. Außerdem spreche ich gerne offen mit Freunden und Kollegen über meine Erfahrung, was ihr Raum verschafft und das Halten von Spannung erleichtert.

Ebenfalls wertvoll erscheint mir die Klarheit, dass Spannung zu halten notwendig ist, wenn ich neue Möglichkeiten im Unbekannten erforschen will. Ich denke an eine Klientin, die single ist und sich wünscht, Sexualität zu leben. Dieser Wunsch und die Abwesenheit eines geeigneten Partners erzeugen Spannung. Die Spannung kann sie sofort reduzieren, indem sie sich sagt „Einen Mann zu finden ist sowieso nix, da fällt man nur rein.“ Oder „Ich bin sowieso nicht so attraktiv, mich will ja niemand.“ Außerdem „Diese Dating-Portale ziehen einem nur das Geld aus der Tasche. Ich lese lieber Liebesromane, die bringen auch Gefühle.“ Ganz egal, ob diese Sätze wahr sind oder nicht, sie haben den Effekt, dass die Spannung kollabiert, weil entweder der Wunsch unwichtig ist oder die Möglichkeiten entwertet werden. Unterm Strich entfernt sich die Klientin von ihrer Lust und bleibt in einer stabilen, aber deprimierten Position. Ist sie in der Lage, die Spannung zu halten, kann sie sagen „Ich wünsche mir erfüllenden Sex mit einem Mann, der mir gefällt, auch wenn ich noch nicht weiß wie, mit wem, wann und ob ich das erleben kann.“ Das ist aufregend und die Angst vor Enttäuschung ist gleich mit an Bord, aber mit einiger Zeit können ihr Phantasien kommen oder Gelegenheiten entstehen, in denen sie eine Möglichkeit zur Erfüllung erkennt und diese verfolgen kann. Das ist nicht möglich, wenn sie die Spannung nicht hält.

Einsatz in der Praxis

Anhand des Beispiels des Klienten vom Anfang möchte ich nun nochmal demonstrieren, wie die verschiedenen Aspekte von Spannung, Lust und Erfüllung in der Praxis zum Vorschein kommen können.

Der Konflikt des Klienten hing sich vor allem an der Wahl des Urlaubsortes auf. Er wollte in die Berge, seine Frau an’s Meer. Darunter liegend ging es darum, ob wirklich Raum für die Wünsche beider da war, ohne, dass einer nachgeben musste. In der Regel gab er nach, weil ihm die interpersonelle Spannung schneller zu viel wurde als seiner Frau und er lieber Stabilität und Frieden wollte. Dann aber gab es Momente, in denen er so unter innerer Spannung stand, dass er explodieren und seine Frau anschreien konnte. Das tat ihm danach wieder leid, er entschuldigte sich, aber alles blieb beim Alten. Um aus dieser Spirale herauszukommen, war es vor allem wichtig herauszuarbeiten, wie der Klient es schaffte, seinen Willen für unwichtig zu erklären. Das war relativ einfach, denn er erwischte sich bei fatalistischen Gedanken wie „Ja, wenn man zusammen ist, muss halt immer einer wegstecken.“ oder „Sie braucht ja auch ihre Erholung und es ist besser für mich, wenn sie erholt ist, als wenn ich mich durchsetze und sie nörgelt.“ Diese Gedanken wirkten sofort deprimierend und es war befreiend, das wahrzunehmen und Abstand dazu zu gewinnen, aber der Hintergrund war noch tiefer.

Hinzu kam nämlich, dass seine Frau ihm vorwarf, er hätte nicht genug Zeit für sie. Und da er einen zeitintensiven Job hatte, konnte er das auch verstehen. Gleichzeitig hatte er Angst vor der intimen Begegnung mit seiner Frau, weil ihm seine eigenen Gefühle nicht geheuer waren und er seinen Tag lieber so plante, dass dafür kein Platz war. Als ihm das klar wurde, fiel der Groschen. Ihm wurde bewusst, dass er Zeit seines Lebens geglaubt hatte, er hätte liebevollen Kontakt nicht verdient und müsste dafür schuften und Aufgaben erfüllen. Auch diese Überzeugung erkannte er als Abwehr, denn so lange er schuftete, hatte er keine Zeit zu merken, dass er sich diesen Kontakt wünschte. Sich dessen bewusst zu werden war einerseits eine große Befreiung, andererseits konfrontierte es ihn mit dem Chaos seiner totalen Ahnungslosigkeit darüber, wie emotionaler Kontakt für ihn erfüllend sein könnte. Die Versuchung war groß, die Spannung auch hier wieder zu reduzieren, indem er sich oder die Möglichkeit auf Erfüllung entwertete. Aber er blieb dran und konnte seiner Frau mitteilen, dass auch ihm der emotionale Kontakt fehle, er sich aber unklar darüber sei, wie das ginge. Wider sein Erwarten nahm die Frau seinen Selbstausdruck dankbar und wohlwollend auf, erleichtert darüber, authentischen Kontakt zu ihm zu bekommen.

Diese Erfahrung war völlig neu für ihn und nach einer Weile hatte er Gelegenheit, seine Entwicklung am Urlaubsthema zu erproben. Wie gewohnt spürte er, dass seine Frau wirklich gerne an’s Meer wollte und bemerkte die Tendenz in sich, sich aus der Gleichung zu nehmen und ja zu sagen, obwohl er nicht wollte. Statt das zu tun, sprach er sie an und sagte, er wisse noch nicht, wie das ginge, aber er wolle sehr gern mit ihr an einem Ort Urlaub verbringen, den sowohl er als auch sie gerne ansteuern würden. Dafür sei ihm wichtiger, dass sie nicht schnell zu einer Einigung kämen, sondern dass zunächst einmal Möglichkeiten auftauchen und gefühlt werden könnten, damit keiner der beiden vorschnell in Versuchung käme, seines/ihres aufzugeben. Tatsächlich war seine Frau erstaunt und ebenfalls sehr herausgefordert, in diesem Moment, da auch sie es schwer fand, diese Offenheit auszuhalten. Gleichzeitig konnte sie aber spüren, dass er wirklich an einer gemeinsamen Lösung interessiert war, die sie beide genießen könnten. Das hatte sie zuvor vermisst, ohne dass sie es hätte formulieren können. Für beide entstand zum ersten Mal Raum dafür, zu erzählen, was sie an ihren Präferenzen liebten und zu erfahren, was die Lust des anderen war.

Die Lösung war letztlich recht einfach: sie fuhren in die Berge. Nicht, weil er sie dazu überredet hatte, sondern weil im Kontakt so spürbar war, dass beide mit ihren Wünschen Raum bekommen hatten und letztlich in’s Gewicht fiel, dass sie die letzten Jahre nicht in den Bergen gewesen waren. Darüber entstand in der Frau der Wunsch, dem Klienten seinen Wunsch zu erfüllen und Wege zu finden, auch dort entspannt zu sein.

Inspirationsquellen

Die Gedanken in diesem Artikel sind eine Verdichtung von vielen Betrachtungen, die ich in den letzten Jahren kennenlernen durfte. Und in den letzten Wochen hatte ich immer wieder Gelegenheit, KlientInnen von mir davon zu erzählen, um ein Framework dafür zu schaffen, was uns bei einer gemeinsamen Sprache und Perspektive helfen könnte. Ich sehe dabei viele Parallelen zu anderen Quellen, die mich sehr beeinflusst haben und von denen ich drei hier erwähnen möchte.

Allen voran die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg, die den unreifen und reifen Umgang mit Spannung sehr schön beschreibt, wenn auch in anderen Worten. Die Erfahrung, dass ich mich auf das Wagnis einlassen kann, nicht zu wissen, was die Lösung ist und dennoch erfüllt daraus hervorzugehen, habe ich im Kontext der GFK sehr oft machen dürfen. Rosenberg hat hier Grandioses geleistet. Gleichzeitig hat er für meinen Geschmack zu wenig herausgearbeitet, wie schwierig es sein kann, mit dieser Spannung umzugehen und was ihr Bezug zur Lust ist. Ich vermute, dass er selbst gut mit seiner Lust in Kontakt war, denn in all seiner Friedfertigkeit und Leidenschaft für Verbundenheit wirkte er nie „kastriert“, während andere das gleiche sagen konnten und völlig zahnlos wirkten. Ich schätze, dass ihm das selber nicht so bewusst war. Kritisch sehe ich auch, dass er sich die unreifen Umgangsformen als Konsequenz gesellschaftlicher Strukturen erklärt hat, die man reformieren müsste, damit Menschen flächendeckender in der Lage wären, miteinander Erfüllung zu finden. Ich glaube eher, dass die gesellschaftlichen Strukturen zunächst Ausdruck der menschlichen Not mit Spannung sind und nicht umgekehrt, aber dennoch teile ich seine Vision eines intelligenteren Umgangs damit. Ich kann die GFK nur wärmstens empfehlen, um mehr Licht in’s Unbewusste zu bringen und Räume zu erschließen, in denen keiner nachgeben muss.

Den Gedanken von Chaos und Ordnung habe ich in der Form von Jordan B. Peterson. In zahlreichen Vorlesungen und seinem Buch 12 Rules for Life beschreibt er, wie Chaos und Ordnung als archetypische Prinzipien in allen Lebensbereichen auftauchen und eine ganz grobe Orientierung dafür bieten können, wie wir mit dem Horror im Leben umgehen können. Ist klar, dass das Chaos nicht zu vermeiden ist, kann uns das Mut geben, uns dem zu stellen und etwas Bedeutsames zu tun, auch im kleinen Bereich unseres eigenen Lebens. Ich mag Peterson für seine Aufrichtigkeit und Klarheit, auch wenn ich mir manchmal mehr Freundlichkeit und Wärme wünschen würde – für ihn selbst und andere.

Und wie schon weiter oben erwähnt, bin ich sehr dankbar für den Einfluss von Gustl Marlock. In der Arbeit mit ihm habe ich immer wieder erlebt, wie er weite Räume entstehen lässt, indem er Fragen stellt, die bestimmte fixe Vorstellungen auf die Probe stellen. In einem Moment fühlt sich die Situation völlig verfahren an, im nächsten geht ein weiter Raum der Möglichkeiten auf, der noch überhaupt nicht zu füllen ist, aber zu fühlen. Oft habe ich gerätselt, wie er das fertig bringt. Entscheidend scheint mir zu sein, dass ihm die Spannung, nicht zu wissen wie und ob etwas gelingen kann, kaum anzumerken ist, während er sehr sensibel für ungenutztes Potential ist, das er mit seinen Fragen antippt. Ich kenne niemanden sonst, der in der Arbeit so bereit zu sein scheint, offen zu lassen, wo ein Prozess hingeht und sich nicht drängt, eine Lösung zu finden, bevor sie nicht von sich aus auftaucht. Und auch das erfordert die Fähigkeit und Bereitschaft, die Spannung zu halten.

Ich hoffe dieser Artikel kann Grundlage für viele fruchtbare Gespräche sein.