Selbstfürsorge

Audio-Version des Artikels, gelesen vom Autor

Manchmal werde ich gefragt, wie ich es aushalte in meiner Position als Psychotherapeut von so viel persönlichem Leid, Elend und Schmerz zu erfahren. Ich höre in meinem Arbeits-Alltag von Zeit zu Zeit von heftigen Geschichten, in denen von Gewalt, Gemeinheiten, Grausamkeit und Einsamkeit die Rede ist. Nicht selten sind diese Erfahrungen so verinnerlicht, dass sich meine KlientInnen inzwischen (meist unbewusst) längst selbst antun, was ihnen angetan wurde. Und um ehrlich zu sein, manchmal halte ich es nicht aus. Manchmal verdränge ich, werde taub oder rette mich in rationale Distanz. Ich versuche die Übersicht zu behalten, tröste mich mit den Möglichkeiten der Entwicklung und Heilung und hoffe auf Besserung über die Zeit hinweg. Aber im gegenwärtigen Moment bin ich manchmal überwältigt.

Das mitzubekommen finde ich gar nicht so einfach. Zuweilen merke ich es erst nach Wochen, manchmal schon direkt nach einer Stunde, in der etwas sehr Intensives zur Sprache kam. Es kann sich anfühlen, als sei die Welt etwas weiter entrückt, meine Sinne benebelt oder verschlossen. Innerlich sage ich mir, das zu halten sei meine Rolle, dafür sei ich ausgebildet und würde dafür bezahlt. Ich sage mir, ich dürfe nicht davor einknicken. Damit einher kann die bange Frage gehen, wie ich diese Aufgabe erfüllen sollte, wenn ich mir eingestünde, dass mich der Schmerz so einnimmt. Solch ein Zweifel kann nicht nur mein Einkommen bedrohen, sondern auch das Sinn-Erleben in der Arbeit, für das ich im Allgemeinen sehr dankbar bin.

Aber zuweilen nimmt der Schmerz mich ein. Und wie soll er das auch nicht tun, wenn ich wirklich offen für das bin, was meine KlientInnen mir erzählen? Es prallt nicht an mir ab, wenn ich erfahre, wie einsam, wütend, traurig und verletzt Menschen sein können. Wie festgefahren in Situationen, die unbefriedigend oder existenziell bedrohlich sind. Wie Menschen ein Leben führen können, bei dem der Tod wie eine Erleichterung erscheint: endlich Freiheit von der Last des Schmerzes über innere und äußere Konflikte und der Verantwortung, sie lösen zu müssen, wenn etwas anderes, besseres passieren soll. Zuweilen erfahre ich, wie erbarmungslos Menschen einander (und auch sich selbst) benutzen, um ihre eigenen Abgründe, tiefsten Ängste und Verletzungen nicht fühlen zu müssen. Wie eingeschränkt die Sicht sein kann, völlig entrückt von jeglichem Mitgefühl, weder für sich selbst noch andere. All dies kann schwer auf meinem Herzen liegen und fragt nach einem reifen Umgang.

Im Artikel zum Thema Auftrag habe ich beschrieben, wie wichtig ich es in helfenden Berufen wie dem meinen finde, klar zu unterscheiden, was meine KlientInnen in der Therapie erreichen möchten und können, gegenüber dem, was ich für möglich oder richtig halten könnte. Dass es zum einen zu einem ethischen Umgang, aber auch zur Selbstfürsorge gehört, zu erkennen, ob ich als Therapeut meine Kindheitserfahrungen auf mein Gegenüber projiziere und versuche, den Jungen, der ich war, stellvertreten durch eine Klientin oder einen Klienten, indirekt zu trösten. Erkenne ich das nicht, kann ich mich in diesem Versuch verausgaben und sowohl meinen Klienten als auch den Jungen in mir verfehlen. Denn wirklich trösten kann ich mich nur, wenn ich Kontakt zu mir habe. Und mein Gegenüber braucht vielleicht etwas ganz anderes, als der Junge, der ich war.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich darüber schreiben, dass zur Selbstfürsorge noch etwas anderes gehört: Raum für den Schmerz, der im Mitgefühl und in der Anteilnahme am Schicksal anderer in mir selbst ausgelöst werden kann, ganz ohne dass es direkt etwas mit meiner Biographie zu tun hätte. Pro forma will ich erwähnen, dass an dieser Stelle im Psycho-Jargon von „Psycho-Hygiene“ die Rede ist. Diesen Begriff mag ich jedoch nicht, da er etwas sehr Steriles hat und die Seele damit wie zum Badezimmer wird, welches man mit Meister Proper zum Glänzen kriegen könnte. Bei der Selbstfürsorge, von der ich spreche, geht es eben nicht darum, dass etwas glänzt, sondern dass es beachtet wird, genau wie es gerade ist – egal wie unordentlich, durcheinander, schmutzig oder bedrohlich es wirken mag.

Die Macht der Aufmerksamkeit

Dieser Raum für den Schmerz, von dem ich dabei spreche, hat etwas sehr einfaches, etwas sehr herausforderndes und auch etwas sehr mysteriöses und wunderbares. Ich erinnere mich an einen Klienten, der in einer Gruppentherapiesession sagte „Der Schmerz ist im Leben nicht vermeidbar, aber es ist die Solidarität miteinander, die ihn erträglich macht.“ Und genau dieses Erleben von bewusster Beachtung für das, was so weh tut, macht diesen Raum aus. Dabei ist heraufordernd dafür zu sorgen, dass es keinen Druck gibt, dass die Dinge anders sein sollten, als sie sind – kein Ziehen, Verzerren, Aufhübschen oder Dramatisieren. Da wir Druck-machen in der Regel unbewusst gewohnt sind, bedarf dies oft einiger Bewusstwerdung und Übung. Reines Gewahrsein für das, was ist, wirkt wie Sonnenstrahlen bei einer Blüte: Die Wärme kann die Lust in ihr wecken, sich von innen her zu öffnen und das Licht zu empfangen.

Wenn ich darüber schreibe, spüre ich, wie mir die Qualität dieses Raumes mit jedem Wort zu entrinnen droht. Es ist ein körperlich sinnliches Gewahrsein dessen, was in genau diesem Moment in meinem Erleben und in meinem Körperempfinden geschieht. Worte können wie Boten sein, die meine Aufmerksamkeit an den Platz schicken, der genau jetzt lebendig ist. Wenn ich diesen Raum in mir aufsuche, geht es jedoch nicht darum, die richtige Sprache zu finden. Es geht um die reine Aufmerksamkeit. Beachte ich mein lebendiges Empfinden genau dort, wo es gerade wahrnehmbar ist, können Worte auch im Weg sein.

Diese Präsenz mit einem anderen Menschen zu erleben, der in dieser Weise anwesend, interessiert und offen ist, ist ein großes Geschenk und kann sehr heilsam sein. Es war Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), der mir darin das erste Vorbild war. Er sprach von Empathie, Mitgefühl, dem Fokus auf dem, was in unserem Inneren lebendig ist und davon ausgehend kreative Ideen darüber, was das Leben wundervoll machen könnte. Und wenn ich ihn in diesem Sinne mit anderen Menschen arbeiten sah und hörte, ist mein Herz sehr schnell warm geworden. Er war sehr treffsicher darin, intuitiv einzuschätzen, worum es seinem Gegenüber gerade gehen könnte, was es wohl fühlen mag und was ihm wichtig sein könnte. Und selbst der intensivste Schmerz konnte auf diese Weise Raum bekommen, sich ausdehnen und dann einer körperlich spürbaren Erleichterung weichen.

Überflutet

Auch Rosenberg hat mit vielen Menschen gearbeitet, die tiefes Leid erlebten oder in bedrohlichen Konflikten steckten. Dabei kam er mit dem gleichen Elend in Berührung, das auch mich immer wieder mal einzunehmen droht: Gewalt, Grausamkeit, Einsamkeit, Verzweiflung, Leere, Hoffnungslosigkeit. An einem bestimmten Punkt auf seinem Weg wurde er auf Joanna Macy aufmerksam, die mit der Entmutigung von politischen Aktivisten befasst war, die aufkam, wenn die Sache, die ihnen am Herzen lag, auswegslos und der Schmerz über die Lage der Welt unüberwindbar zu sein schien. Sie prägte den Begriff der Verzweiflungsarbeit, die anerkennt, dass unser Herz Raum für das Erleben und den Ausdruck von dem Schmerz braucht, den wir fühlen, wenn wir mit schwierigen Problemen und Leid befasst sind. Wenn wir von diesem Schmerz nicht beherrscht werden wollen, brauchen wir einen Bewusstseinsraum, der größer ist, als der Schmerz darin. Der Unterschied lässt sich mit der Frage beschreiben: „Habe ich den Schmerz oder hat der Schmerz mich?“

Ohne diesen Raum für Beachtung und Empathie mit dem Schmerz, kann er sehr mächtig und handlungsleitend werden. Meistens taucht er zunächst unbewusst auf, in passiver Aggression und ich spüre einen Widerstand dagegen, wirklich für jemanden da zu sein oder bürokratische Aufgaben zu erledigen (mehr noch als sonst). Vielleicht spüre ich in Sitzungen auch Druck, etwas erreichen zu müssen und werde ungeduldig mit KlientInnen, wenn sich augenscheinlich nichts bewegt. Wenn ich nicht in Kontakt mit meiner eigenen Lebendigkeit bin, fällt es mir schließlich auch schwer, konzentriert und offen für die Lebendigkeit in meinen KlientInnen zu sein. Der Schmerz kann sich aber auch in Leere äußern, an Stellen, an denen ich mich normalerweise freue. Diese Leere ist das Resultat von Depression, also wortwörtlich das unbewusst aktive Wegdrücken von Schmerz.

Auch der Begriff des Traumas verweist auf einen Zustand, in welchem der Schmerz eher mich hat, als dass ich den Schmerz habe. Einfachere Mechanismen, die wir gegen intensive Bedrohungen mobilisieren können, haben Vorrang vor bewussten, feinsinnigen Antworten auf komplexe Situationen. Wenn ich den Drang spüre, zu kämpfen oder zu flüchten, wenn ich von innen her Nebel spüre, der mich (manchmal angenehm) betäubt oder wenn ich alles in mir mobilisiere, um Frieden in eine Beziehung zu bringen, koste es was es wolle, hat der Schmerz eher mich, als dass ich ihn habe. In seltenen Fällen mag das eine rettende Antwort sein, aber meistens richten wir damit mindestens ebenso viel Schaden an.

Auftauchen und Auftauen

Rosenberg schuf einen Rahmen für den Bewusstseinsraum, der größer als der Schmerz ist, indem er von „Feiern und Bedauern“ sprach und dafür in seinen Intensiv-Workshops ein Ritual vorstellte, das jeden Tag ein fester Programmteil war. In vielen Trainings, Seminaren und Festivals für Gewaltfreie Kommunikation gibt es dieses Ritual auch heute noch. Es lädt dazu ein, ganz im Einklang mit dem eigenen Erleben auszudrücken, was mich heute gefreut und was mich geschmerzt hat. Dabei geht es nicht um eine Veränderung des Zustandes oder der Situation, um eine Wiedergutmachung oder Lösung eines Problems, weil all diese Absichten von dem gegenwärtigen Erleben wegführen können. Es geht darum, dass ich es fühlen und ausdrücken kann und mein Bewusstsein für die Gefühle dadurch größer in mir wird, als meine Gefühle selbst es sind. Auf diese Weise komme ich aus einem Zustand des „überflutet-seins“ heraus, wie als wenn ich endlich den Kopf über Wasser strecken und atmen könnte. Ich werde weiter unten konkrete Hinweise darauf geben, wie das gehen kann.

Rosenberg sprach dabei nicht nur vom Bedauern und von Schmerz, sondern auch vom Feiern, also der Beachtung erfüllenden Erlebens. Ich denke hierbei an das Buch Verletzlichkeit macht stark von Brené Brown, in dem die Autorin darauf hinweist, wie verletzlich wir sind, wenn wir Freude empfinden. Ich bin ihr dafür dankbar, weil ich zuweilen übersehe, wie schwierig ich es finde, ganz bewusst wahrzunehmen, wie wertvoll mir bestimmte Menschen, Dinge und Umstände sind. Und wie schrecklich es wäre, sie zu verlieren! Ich schätze, mehr oder weniger leben wir alle nach dem Motto „Wer auf dem Boden schläft, kann nicht aus dem Bett fallen.“ und meiden von daher die Intensität schöner Gefühle genauso, wie die Wahrnehmung von Schmerz. Nehme ich die Einladung zum Feiern und Bedauern aber wirklich an, werde ich mir bewusst, wie sensibel, feinfühlig, genau, berührbar und verletzlich ich bin. Und die Intensität dieser Erkenntnis kann überwältigend sein.

Gehe ich dieser Überwältigung bis zum tiefsten Grund nach, komme ich fast immer bei der Frage an, wie ich überleben soll, wenn ich wirklich so sensibel bin. Wie soll ich irgendetwas hinbekommen? Ist es nicht offensichtlich, dass ich nur unter der Brücke landen kann, wenn es mir wirklich so geht? Bis zum Ende verfolgt komme ich bei diesem Strang also bei einer Angst vor dem Sterben an – was ihre Intensität erklärt. Aber genau genommen ist das kein Gefühl, sondern ein Gedanke, eine Geschichte, Befürchtung oder Einschätzung meiner Situation. Vielleicht haben andere Menschen mir das vermittelt, vielleicht habe ich es auch selbst einmal so erlebt, daraus diesen Schluss gezogen und ihn verallgemeinert.

Bei vollem Bewusstsein habe ich noch nie erlebt, dass die Intensität von Gefühlen mich wirklich bedroht oder außer Gefecht setzt. Es ist eher das unbewusste Erleben, bei dem ich nicht erkenne, welche Bedeutung die Intensität hat, die mich und meine Fähigkeit, für mich zu sorgen, bedroht hat. Auch darum ist der Bewusstseinsraum, den Feiern und Bedauern schaffen können, so kostbar: er stabilisiert ohne zu betäuben.

Empathie und Selbst-Empathie

Wie schon erwähnt kann es sehr kostbar sein, wenn ich mit jemandem sprechen oder sein kann, der in dieser interessierten und offenen Art präsent mit mir ist. Der GFK-Trainer Kelly Bryson verglich es in seinem Buch Sei nicht nett, sei echt! mit folgendem Bild: Möchte ich wahrnehmen, was in meinem Inneren passiert, sitze ich am Steuer eines Segelbootes, das über das Meer der inneren Erforschung fährt. Kommt jemand in präsenter Haltung hinzu, ist er wie eine leichte Brise, die mir die Bewegung erleichtert. Ich kann es auch alleine machen, aber der erweiterte Bewusstseinsraum kann enorm dabei helfen, so lange kein Druck von diesem Wind ausgeht und ich nach wie vor das Steuer in der Hand habe. Ist letzteres der Fall, macht es eher Stress. Aber eine sanfte Brise kann wie Rückenwind beim Fahrradfahren sein.

Ich erinnere mich, wie ich zu meiner Studienzeit oft einsam war, ebenso oft jedoch eine dumpfe Taubheit darüber lag. Betrat ich einen öffentlichen Bus mit vielen Menschen konnte es sein, dass ich meine Traurigkeit direkt viel deutlicher wahrnahm. Mir kam es vor, dass allein die Anwesenheit von Menschen das Gefühl intensivierte, ganz ohne, dass sich irgendwer mit mir beschäftigt hätte. Ich glaube, dass es mein eigenes Inneres war, das sich regte und angesichts der Anwesenheit eine Chance sah, zum Ausdruck zu kommen und gesehen zu werden.

So wertvoll das Geschenk von Empathie auch sein mag, einfordern können wir es nicht. Selbst bei einer Therapeutin, einem Therapeuten haben wir keine direkte Macht darüber, dass wir diese Art der Begleitung bekommen. Es gibt zwar Netzwerke in der Subkultur der GFK, in denen Menschen über Messenger-Gruppen um Empathie bitten können und nur antwortet, wer gerade wirklich kann und möchte. Auch hat Marshall Rosenberg dazu ermutigt, Beziehungen zu kultivieren, in denen der Austausch von Empathie zum festen Bestandteil gehört – eine Empathie-Hotline sozusagen. Denn Empathie ist ein Bedürfnis, das wir täglich haben. Aber dennoch kann es sein, dass gerade keine Unterstützung zur Verfügung steht, oder dass ich mich selbst um mich kümmern möchte.

In diesem Fall hilft es, das eigene Gewahrsein als Rückenwind erfahren zu können. Dies geht vor allem dann gut, wenn das, worum es gerade geht, einigermaßen bewusst ist. Oft ist es auch teilbewusst und die aufmerksame Wendung nach innen kann es aufdecken.

Feiern und Bedauern

Das Ritual schafft durch die Art der Fragen eine geistige Orientierung, die auch bei teilbewussten Prozessen weiterhelfen kann. Ich kann mich dafür mit jemandem verabreden, mit dem ich im Wechsel teile, was mir wichtig ist. Oder ich kann es auch alleine für mich machen, entweder schriftlich oder geistig im Kopf. Zu schreiben hat den Vorteil, dass ich nicht zu viele Inhalte auf einmal im Kopf behalten muss. Wie auch immer das Setting ist, die Fragen sind folgende:

  • Was genau ist geschehen? Beschreibe eine Handlung, Situation, Wahrnehmung, die heute wichtig für dich war. Sei dabei möglichst genau und unterscheide zwischen konkreten Beobachtungen und deiner inneren Verarbeitung. Das erhöht die Realitätsschärfe.
  • Was spürst und fühlst du dabei in deinem Körper? Dabei ist nicht das „richtige“ Wort entscheidend, sondern ob du mit der Aufmerksamkeit ganz an der Stelle in deinem Körper bist, wo es intensiv und lebendig ist. Bleibe dabei, bis es ruhiger wird.
  • Mit welchem Wert und welcher Lebensqualität verbindest du das Erlebte? Hierbei geht es um das Bewusstsein dafür, wie wir leben wollen, was das Leben wundervoll macht bzw. wie traurig es sein kann, wenn die Qualität in der erlebten Situation gefehlt hat.
  • Nun, da dir Werte und Qualitäten in Bezug auf das Erlebte bewusst sind, wie nimmst du deinen Körper jetzt wahr? Kannst du eine Veränderung, einen Wechsel bemerken?

Ob ich alles erfasst habe, was mit der Situation zu tun hat, merke ich daran, dass ich ruhiger werde und sich ein gewisser Trost und Erleichterung einstellen. Ist das nicht der Fall, habe ich etwas übersehen.

Zur Demonstration möchte ich zwei Dinge aufschreiben, ein Beispiel zum Feiern und eines zum Bedauern, bei denen ich die Fragen in dem Sinne beantworte, wie ich sie meine. Zunächst das Bedauern.

  • Beschreibung der Situation, des Kontextes: Ich erinnere mich daran in einer der letzten Sitzungen erfahren zu haben, dass eine Klientin mit dem Wunsch zu tun hat, sich das Leben zu nehmen. Sie wüsste auch, wie sie das machen könnte, auch wenn sie aktuell keine konkreten Pläne dazu hat. Grundsätzlich wolle sie leben, aber die aktuellen Konflikte in ihrem Leben kämen ihr überwältigend und unlösbar vor.
  • Gefühle im Körper: Ich empfinde dabei Anspannung und eine Art Schrecken. Meine Brust fühlt sich schwer an. Auch eine Betroffenheit macht sich breit. In meinem Kopf bemerke ich Geschichten darüber, welche Verantwortung ich gerade trage. Damit verbunden sind auch Ängste um meine eigene Existenz. Was, wenn sie das wirklich tut? Was geschieht dann mit mir und meiner Zulassung? Ganz abgesehen davon, wie es mich persönlich treffen würde und was mit meiner Freude am Beruf passieren könnte. In meinem Herzen spüre ich Angst um mein Leben und die Art, wie ich es jetzt führe.
    Nach einem kleinen Moment taucht aber auch Traurigkeit auf, tiefe Traurigkeit. „Wie kann das sein!?“ möchte ich fragen. Wieso müssen Menschen so leiden, dass ihnen der Tod wie eine Erleichterung vorkommt? Was ist das für eine Welt, die Menschen in solche Einsamkeit und Verzweiflung treibt?
  • Werte und Lebensqualitäten: Wende ich mich der dritten Frage zu, taucht der Wert auf, Menschen mögen in ihrem Leid nicht alleine sein. Ich möchte, dass Menschen wissen, dass sie von einer tiefen Verbundenheit untereinander getragen sind. Und ich wünsche mir, dass Menschen das ausdrücken und einander wissen lassen. O wie schlimm ich es finde, wenn das fehlt! Und wie kostbar und lebensrettend es sein kann, wenn wir jemanden haben, der in dieser Weise da ist! Auch bemerke ich, dass mir die Unversehrtheit des Körpers kostbar ist. Dass ich möchte, dass der Körper liebevoll gesund erhalten wird. Und dann spüre ich, dass ich gerne meine Arbeit in dieser Weise weitermachen können möchte. Dass ich gerne weiterhin das Vertrauen genießen mag, mit welchem Menschen zu mir kommen, ohne mich zu kennen, nur aufgrund des Titels.
  • Veränderung im Körper: Mit diesen Werten im Bewusstsein spüre ich eine Weite in der Brust. Ich kann wieder schwingen. Ich nehme die Kostbarkeit des Lebens wahr und auch der Gelegenheit, für diesen Menschen in dieser Situation genau das zu sein, was mir so wertvoll ist: ein Botschafter der Verbundenheit und Anteilnahme. Die damit einhergehende Gefahr überrollt mich nicht mehr, sondern ist Ausdruck eben dieser Kostbarkeit. Ich spüre die Intensität, aber sie bedroht mich nicht mehr.

Der letzte Punkt bedeutet nicht, dass die Situation nicht dennoch eine Herausforderung sein kann. Aber ohne die Überflutung ist es mir möglich, damit eine spielerische Haltung einzunehmen, das Herz zu spüren und ihm entsprechend anwesend zu sein. Ich weiß dann noch nicht, was ich im Weiteren tu, aber das Vertrauen, dass aus meinem Inneren schon etwas Passendes kommen wird, ist wieder da. Und das ist sehr beruhigend.

Und nun zum Feiern:

  • Beschreibung der Situation, des Kontextes: Ich erinnere mich daran, wie mir bei einer kürzlich erlebten Sitzung mit einem Paar die Klientin sagte, dass sie nun nach ein paar Sitzungen ausdrücken will, wie überraschend gut ihr die Paartherapie gefalle. Sie habe schon einige Therapieerfahrung und arbeite außerdem in einem Institut für Verhaltenstherapie in der Verwaltung. Sie kenne es so, dass viele TherapeutInnen eine Diagnose stellten, das für die Diagnose passende Manual herauskramten und dies dann abarbeiteten. Das erlebe sie als Abstempeln, in einer Schublade feststecken und nicht wirklich wahrgenommen werden. Genau dies sei mit mir jedoch nicht passiert. Im Gegenteil, es seien ihr sehr viele neue Aspekte ihres Erlebens mit sich und ihrem Partner aufgefallen, sie fühle sich wohl und wolle sagen, dass ich das gut mache.
  • Gefühle im Körper: Bei der Erinnerung empfinde ich zunächst einen Anflug von Überwältigung. Ich bemerke den Widerstand, das Gesagte in all seiner Bedeutung wirklich anzuerkennen. Bleibe ich damit präsent, fällt mir auf, dass es mir Angst macht, solch einer Beurteilung ausgesetzt zu sein. Erkenne ich sie an, gehört auch die Möglichkeit dazu, dass dieselbe Klientin oder jemand anderes, meine Arbeit ganz anders bewertet. Ich spüre diese Angst, halte sie im Gewahrsein und werde damit langsam ruhiger.
    Als die Angst in den Hintergrund tritt, kommt ganz organisch eine Freude zum Vorschein, die sich verletzlich anfühlt. Ich erkenne an: ich habe diese Klientin bis hierhin wahrhaftig gut begleiten können! Und sie hat etwas artikuliert, das mir bezogen auf mein Berufsfeld selbst schmerzlich bewusst ist. Ich erkenne den Impuls, mich arrogant über meine Kollegen erheben zu wollen, wohl auch um mich vor Abwertung und Gefahr meiner Existenzgrundlage in Sicherheit wähnen zu können. Ich nehme die Angst noch einmal in meine Mitte, bis sie sich wieder beruhigt.
    Dann bemerke ich die aufrichtige Berührtheit und Dankbarkeit der Klientin. Und jetzt bin auch ich berührt. Ich spüre Tränen in den Augen.
  • Werte und Lebensqualitäten: Mit der dritten Frage im Sinn wird mir bewusst, wie wertvoll ich die Offenheit finde, mit der Menschen im Kontakt fein und sinnlich erspüren, wer gerade da ist und was gerade wirklich passiert – auch und gerade wenn es sich nicht von alleine direkt zeigt. Diese Qualität der Präsenz und Wahrnehmung, die uns ermöglicht uns wahrlich nicht alleine zu fühlen, ist wohl einer der ersten Gründe, warum ich das Leben lange überhaupt als lebenswert empfunden habe. Es macht mich wach, so einen Kontakt zu erleben, weckt meine Sinne, macht die Lebensenergie spürbar, die mich und alles Lebende durchströmt. Ich spüre, wie sehr das zu erleben mich nährt, wenn es da ist und wie leer und sinnlos alles wirken kann, wenn es fehlt.
    Mir bewusst zu machen, dass ich derjenige in dem bin, was die Klientin berichtet, der dieser Qualität eine Form gegeben und sie für die Klientin erlebbar gemacht hat, erweckt schon fast Ehrfurcht in mir. Ungläubig schaue ich mich an und frage „Wie bitte? Ich?“ Mir fällt der Spruch aus dem Kurs in Wundern ein, der mich daran erinnert, dass es das Licht ist, nicht die Dunkelheit, die mir am meisten Angst macht. Denn wenn ich solche Macht habe, das Leben eines anderen Menschen zu berühren und zu bereichern… müsste ich dann nicht viel mehr damit tun? Verpflichtet mich das nicht dazu, dieses Geschenk so viel und oft zu teilen, wie es nur geht? Hat Superman Freizeit? Darin wird mir auch bewusst, dass das Geschenk nicht erzwungen sein kann, auch nicht durch mich. Es war in diesem Moment mit der Klientin möglich und auch ich empfinde Dankbarkeit, dass diese Kraft durch mich Gestalt annehmen konnte, wo immer sie auch hergekommen sein mag.
  • Veränderung im Körper: Während die Wucht dieser tiefen Bedeutungen noch in meinem Körper hallt, nehme ich wahr, wie tief verbunden und lebendig ich mich fühle. Ja, Energie strömt durch mich durch und findet durch mich Ausdruck. Darin spüre ich auch etwas beruhigendes, denn das heißt ja, dass auch ich von ihr genährt werde. Es muss nicht aus mir herauskommen. Gerade finde ich es phänomenal in dieser Form auf der Welt zu sein.

Schlussbetrachtungen

Ich möchte zum Schluss noch zwei Dinge zum Thema bemerken, die mir wichtig erscheinen. Zum einen habe ich das Ritual des Feierns und Bedauerns lange gemieden, da ich in der Zeit, in der ich es kennenlernte, noch große Angst davor hatte, was an rohen Gefühlen und Zuständen in mir auftauchen könnte, wenn ich diese Fragen ernst nähme und sinnlich erforschte. Stattdessen bin ich die Fragen aus der sicher wirkenden Distanz im Kopf durchgegangen, was entsprechend unergiebig war. Das heißt, es braucht auch Mut, sich in dieser Tiefe darauf einzulassen. Vorbereitend dafür empfinde ich unter Anderem meine Meditationspraxis, in welcher ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf das nicht-sprachliche Gewahrsein von sinnlich erfahrbarem Körpererleben richte. Darin kann es durchaus vorkommen, dass mein Empfinden sehr intensiv wird und mir Impulse kommen, jetzt möglichst schnell etwas zu tun, um die Flutwelle aufzuhalten. Beispielsweise können meine Gedanken zu einer bedrohlichen Situation wandern und ich spüre vor allem Angst bis hin zu Panik. Gerade dann ist es eine neue Erfahrung, wenn ich die Gefühle zulasse und still bleibe, obwohl unfassbar viel passiert. Zu wissen, dass ich das überlebe und die Intensität von alleine auch wieder nachlässt, wenn sie Beachtung findet, ist eine kostbare Erfahrung.

Zum anderen möchte ich noch auf etwas hinweisen, was euch beim Lesen evtl. auch aufgefallen sein könnte: zwar steht vorne Feiern und Bedauern dran, aber es gibt Punkte, an dem die beiden Modi nicht so klar voneinander unterscheidbar sind. Stoße ich beim Bedauern auf die Werte, spüre ich in jedem Fall, wie kostbar mir das Leben ist, was hinter meinen Empfindungen zum Vorschein kommen kann. Und diese Kostbarkeit wahrzunehmen hat auch etwas vom Feiern. Setze ich mich hingegen beim Feiern auch mit den Gefühlen auseinander, die mit der Verletzlichkeit der Freude zu tun haben, kann ich auch auf Traurigkeit, Wut und Angst stoßen. Auch die Wahrnehmung der Werte kann überwältigend sein. Letzten Endes kann ich beides mit dem Satz „Kontakt mit der Energie des lebendigen Lebens aufnehmen“ zusammenfassen, bei dem ab einem bestimmten Punkt gleich-gültig ist, ob es um Erfüllung oder Fehlen derselben geht: beides ist mit dem Herzen spürbar und belebt. Und wenn es gelingt, regelmäßig diesen Kontakt wiederherzustellen, ist im Umgang mit dem Schmerz in der Welt erstaunlich viel erreichbar, ohne dafür auf die Selbstfürsorge verzichten zu müssen.

„Wasch mich, aber mach mich nicht nass“

Neben der Klärung des Auftrags, gibt es einen weiteren wichtigen Maßstab, den ich prüfe, wenn sich Psychotherapie anstrengend und zäh anfühlt: gibt es unbewussten Widerstand? Das heißt, tut der/die KlientIn trotz klarem Wunsch, sich besser zu verstehen, unbewusst Dinge, die den Verstehensprozess hemmen oder verhindern?

Unter Widerstand verstehe ich grundsätzlich eine Abwehr von inneren Erfahrungsbereichen, die die unbewusste Absicht und den Sinn hat, für psychologische Stabilität zu sorgen. Stabilität erlaubt uns, in einem betimmten Rahmen und auf einem bestimmten Niveau relativ gleichmäßig für uns zu sorgen. Wir wissen ungefähr, wer wir sind, was wir wollen, was unser Lieblingsessen ist und wie wir uns in einer Woche oder einem Monat wahrscheinlich fühlen werden, wenn wir uns zu einem Ausflug oder Urlaub verabreden. Auf diese Weise sind wir für uns selbst und andere vorhersehbar und können relativ stabile Beziehungen führen. Da wir jedoch inhärent komplexe Wesen sind und Stabilität im Dienste der Ordnung oft eine Vereinfachung dessen erfordert, wie wir uns selbst sehen, hat diese Stabilität in den meisten Fällen einen Preis: wir nehmen bestimmte Aspekte unseres Selbst gar nicht oder nicht so genau wahr.

Zuweilen besteht die psychotherapeutische Arbeit vor allem darin, diese Abwehr zu greifen und bewusst zu machen, weil alles Weitere an seinen Platz fallen kann, sobald das gelingt. Wenn wir Abwehr als Verzerrrung der Wahrnehmung verstehen, die die für den gesamten Organismus stimmige Orientierung im Leben verhindert, wird klar, warum Bewusstsein so einen Unterschied im Leben macht. Wird die Verzerrung nämlich bewusst, können wir sie in unserer Wahrnehmung berücksichtigen und die Perspektive entsprechend korrigieren. Die resultierende Klarheit kann sich sehr ermächtigend, aber auch sehr herausfordernd anfühlen. Dieser Aufdeckungsprozess kann schnell gehen oder lange dauern, abhängig davon wie versteckt die Abwehr ist, wie viele Schichten und verschiedene Wechselwirkungen die Arten der Abwehr haben und wie intensiv die abgewehrten Gefühle sind.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich vor allem auf die Situation zu Beginn der Therapie eingehen, wenn die Beziehung zwar noch frisch, aber nicht mehr komplett am Anfang ist und basale Prinzipien des Widerstands bewusst werden dürfen.


Beginn der 15. Sitzung, Dienstags 9 Uhr. Die Klientin, 35 jahre alt, setzt sich, der Therapeut sitzt ihr gegenüber. Er sagt nichts und schaut sie aufmerksam an.

Nach ein paar Sekunden beginnt die Klientin verlegen zu kichern und sagt: „Jetzt machen Sie das schon wieder!“

Therapeut: „Was mache ich denn?“

Klientin: „Sie durchdringen mich. Als könnten Sie direkt in meine Seele schauen.“

Therapeut: „Ok… wie mache ich das denn?“

Klientin: „Keine Ahnung, Sie sind doch der Experte.“

Therapeut: „Ich kann Ihnen sagen, dass ich schon sehr verschiedene Menschen so angeschaut habe und bei Weitem nicht alle so reagieren wie Sie. Das heißt, ich vermute, dass Sie da schon irgendwie mitmachen. Können Sie das erkennen?“

Klientin: „Hm… ich weiß nur, dass ich mir schutzlos vorkomme, wenn Sie mich so ansehen. Als gäb’s keine Möglichkeit mehr, mich ich vor Ihnen zu verstecken.“

Therapeut: „Vor mir oder vor sich selbst?“

Klientin: „Wie meinen Sie das?“

Therapeut: „Naja, Sie sind ja hier, weil Sie etwas über sich erfahren wollen. Und Sie wissen auch, dass Sie sich dafür zeigen müssen, sonst habe ich keine Chance, Sie darin zu unterstützen, sich zu verstehen. Wenn Sie sich aber zeigen, sehe nicht nur ich Sie, sondern Sie sehen sich auch. Und unter Umständen gehen Sie nicht unbedingt liebevoll mit sich um, wenn Sie sich sehen.“

Klientin: „Hmmm… so habe ich darüber noch nicht nachgedacht.“

Therapeut: „Das heißt, es könnte sein, dass Sie bei dem, was Sie ‚Durchdrungen werden‘ nennen, vor allem Ihren eigenen Wunsch spüren, sich zu zeigen, während Sie gleichzeitig Angst fühlen, was Sie mit sich anstellen könnten, wenn Sie sich sehen. Und damit das alles nicht ganz so offensichtlich ist, schieben Sie es unbewusst mir und meinem Blick zu.“ Er zwinkert ihr amüsiert zu.

Klientin: „Sie meinen, Sie durchdringen mich gar nicht?“

Therapeut: „Genau. Ich mache Ihnen nichts weiter als ein Kontakt-Angebot. Mir ist bewusst, dass dieses Angebot mächtig sein und unter Umständen viel bewirken kann. Aber dennoch ist es nicht mehr als ein Angebot, das Sie annehmen oder ausschlagen können. Alles weitere verstehe ich als Konflikt in Ihnen: einerseits wollen Sie gerne den Kontakt, andererseits haben Sie Angst vor Verletzung, Missachtung oder Urteil. Natürlich könnte es theoretisch sein, dass ich Sie verletze, aber in diesem Setting ist es wahrscheinlicher, dass Sie das selber tun.“

Klientin: „Wie meinen Sie das?“

Therapeut: „Die meisten Menschen, die in die Psychotherapie kommen, wollen verstanden werden. Das klingt zunächst mal einfach und geradlinig, ist es aber oft überhaupt nicht. Verstanden zu werden erfordert nämlich, sich zeigen und sichtbar werden zu müssen. Ohne Sichtbarkeit ist Verständnis unmöglich, aber sichtbar zu sein öffnet eben auch die Möglichkeit, verletzt zu werden. Und wenn es Anteile in Ihnen gibt, die grob, verurteilend und verachtend mit anderen Anteilen in Ihnen umgehen, dann bekommen diese damit eine Gelegenheit. So kann es sein, dass Sie mir erzählen, wie es Ihnen heute geht und Sie sich im nächsten Moment dafür beschimpfen, wie schwach und unzulänglich Sie sich finden. Und wenn das so ist, kann ich das nicht verhindern, da Sie mit Ihren inneren Urteilen in jedem Fall schneller sind, als ich mit meinem Verständnis je sein könnte.“

Klientin: „Mist, ja… das scheint zu stimmen… was mache ich denn da jetzt?“

Therapeut: „Das kommt darauf an, was Sie wollen.“

Klientin: „Naja, wie Sie ja sagen, ich bin hier, weil ich mich gerne verstehen würde. Aber wenn sich das so brutal anfühlt, habe ich davor ziemliche Angst. Und wenn Sie mich so anschauen, dann spüre ich das sofort. Dann wäre mir manchmal lieber, Sie würden das nicht tun.“

Therapeut: „Was wäre denn dann?“

Klientin: „Dann könnte ich mich wieder vor mir verstecken und es würde etwas ruhiger in mir werden.“

Therapeut: „Ok. Und dann?“

Klientin: „Hmm… dann wäre es ruhig… aber dummerweise würde dann auch nicht viel passieren.“ Sie grinst und schaut zur Seite.

Therapeut: „Merken Sie, dass Sie grinsen?“

Klientin grinst weiterhin: „Ja…“

Therapeut amüsiert: „Was erheitert Sie denn so?“

Klientin: „Naja, ich sehe schon, dass ich mich selber fragen muss, ob es mir das Risiko der Verletzung wert ist, wenn ich hier wirklich weiterkommen will. Und wenn es stimmt, was Sie sagen, dass ich es selber bin, die mich verletzt, dann können Sie mir dieses Risiko auch nicht abnehmen.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen.“


An diesem Punkt ist es den beiden gelungen, bewusst wahrzunehmen, bei wem welche Verantwortung liegt. Für die Klientin ist es zwar unangenehm zu merken, welche Rolle sie selber dabei spielt, aber es ist der einzige Weg, etwas zu ändern, weil nur sie Einfluss auf ihren Widerstand hat und nur ihr Bewusstsein dafür sorgen kann, dass andere Möglichkeiten sichtbar werden. Der Therapeut spiegelt ihr das und bezeugt mit ihr, was passiert, aber außer Hinweisen und Benennen kann er nichts tun. Diese Ohnmacht auszuhalten ist manchmal das wichtigste, was er tun kann, weil er nur so in Kontakt mit der realen Situation der Klientin bleibt. Und angesichts dessen, dass so viele wichtige Handlungsmöglichkeiten unbewusst sind, ist das dazu passende Gefühle wirklich die Ohnmacht. Ohne die bewusste Bereitschaft, das mit zu tragen, läuft er Gefahr, am Widerstand gegen die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit zu wirken und die Therapie dreht sich im Kreis.

Im zweiten Abschnitt der Sitzung soll deutlich werden, welchen Sinn die Abwehr hat und wie man ihr so begegnen kann, dass sie weder gebrochen wird, noch alles beherrscht. Zur Demonstration ist es in diesem Fall relativ einfach und zugänglich. In anderen Fällen kann dieser Prozess sehr lange dauern und oft hin und her gehen, bevor etwas greifbar wird. Auch hier braucht es vom Therapeuten die Bereitschaft, Ohnmacht auszuhalten, denn Verwirrung, Betäubung, Wegdriften und Druck können immer wieder auftauchen, auch im Erleben des Therapeuten, wenn die Abwehr noch nicht deutlich ist.


Klientin: „Ok, soweit verstehe ich es…“ Sie wird still und scheint nachzudenken. Dann schaut sie den Therapeuten an. Sie wirkt aufgebracht und sagt: „Wenn ich das an mich heranlasse, frag ich mich, warum ich so mit mir umgehe! Das ist doch totaler Mist! Ich will mich nicht so behandeln!“

Therapeut: „Ich halte das für eine gute Frage und bin froh, dass Sie sich dafür interessieren. Und ich verstehe, dass Ihnen das nicht gefällt. Ohne den entsprechenden Hintergrund wirkt Ihre Haltung wahrscheinlich wie sinnlose Quälerei.“

Klientin: „Ja, genau! Was soll das denn? Ich meine, ich merke gerade, wie sehr mir das weh tut. Und wenn ich genau darüber nachdenke, würde ich mich von jedem fernhalten, der mich so behandelt.“

Therapeut: „Meiner Erfahrung nach entwickeln Menschen derlei Umgangsweisen mit sich in der Regel, um Schlimmeres zu verhindern oder in Schach zu halten.“

Klientin: „Noch schlimmeres?!?“

Therapeut: „Ja. Viele Menschen versuchen, sich und ihr Leben nach dem Prinzip ‚Wer auf dem Boden schläft, kann nicht aus dem Bett fallen.‘ zu stabilisieren. Der Boden mag hart sein, aber die Fallhöhe ist reduziert.“

Klientin: „Sie meinen… bevor andere mich verurteilen können, mache ich das lieber selber?“

Therapeut: „Ja, zum Beispiel. So weit ich sehen kann, leben Sie quasi nach dem Motto ‚Bevor ich jemandes Lieblosigkeit ohnmächtig ausgesetzt bin, behandel ich mich lieber selber so. Das ist zwar auch nicht schön, aber zumindest habe ich die Kontrolle.‘ Würden Sie sich außerdem spüren lassen, dass Sie einen liebevolleren Umgang mit sich möchten, würde Ihnen vielleicht auffallen, wie kalt es in Ihrem Leben eigentlich ist bzw. war, als Sie klein waren. Und dass Sie evtl. den Weg nicht kennen.“

Klientin: „Puh… ja, da könnte was dran sein.“

Der Therapeut nickt und wartet kurz, bevor er fragt: „Und wie fühlt sich das an?“

Klientin: „Ziemlich heftig… mir wird ein bisschen schwindelig… und flau im Magen.“

Der Therapeut lässt ein paar Sekunden Raum, bevor er sagt: „Ja, das kann ich mir vorstellen. Lassen Sie uns da einen Moment bleiben.“

Klientin: „Muss das sein? Es ist wirklich sehr sehr unangenehm.“

Therapeut: „Wenn es zu intensiv wird, wäre es wahrscheinlich gut, langsamer vorzugehen. Aber die Gefühle, die Sie da gerade wahrnehmen, halte ich für wertvolle Botschafter Ihres Inneren. Ohne die haben wir keine Chance zu verstehen, wo Sie stehen und was Ihnen gut täte.“

Klientin: „Ich weiß gerade nicht, ob ich das überhaupt wissen will, wenn sich das so anfühlt.“

Therapeut: „Ja, es kann heftig sein, wahrzunehmen, wie es wirklich ist. Ich nehme es Ihnen auch wirklich nicht übel, dass Sie davor zurückschrecken. Ohne guten Grund würde das wahrscheinlich niemand in Kauf nehmen.“

Klientin: „Was soll denn daran gut sein? Ich will ehrlich gesagt lieber meinen Frieden…“

Therapeut: „Ja, das verstehe ich. Wenn Sie möchten, sag ich Ihnen etwas dazu, aber ich möchte auch achten, dass Sie sich gerade überfordert fühlen.“

Klientin: „Ja, danke… es geht schon… im Moment zumindest.“ Sie lacht nervös. „Aber ich würde gerne wissen, wie Sie das meinen.“

Therapeut: „Ok, gut. Also ich verstehe, dass Sie den Frieden mögen, aber leider hat er auch seinen Preis. Sie zahlen nämlichn unter Umständen damit, dass Sie sich darin nicht wirklich orientieren können. Das ist so, als würden Sie sagen: ‚Google, bitte entferne alle Seen und Flüsse auf der Landkarte. Die sind mir zu kompliziert, verwirren mich und machen mir Schwindelgefühle.‘ Wenn Sie dann einen Ausflug machen, kann es sein, dass Sie nass werden und absolut nicht verstehen, wie das sein kann.“

Die Klientin lacht, halb amüsiert, halb nervös: „Hmm… das wäre natürlich blöd. Sie meinen also, dass ich verhindern kann, dass ich nass werde, wenn ich diese Gefühle aushalte?“

Therapeut: „Es wäre ein notwendiger Anfang. Die Gefühle auszuhalten verschafft Ihnen Zeit, sich der Gefühle lange genug bewusst zu sein, dass Sie verstehen können, was sie bedeuten könnten. In der Karten-Analogie müssten Sie die Überwältigung aushalten, um Flüsse und Seen erkennen und entsprechend Ihre Ausflüge planen zu können.“

Klientin: „Ok, aber was sollen diese Gefühle denn bedeuten?“

Therapeut: „Naja, ich glaube ein bisschen wissen Sie schon darüber…“

Die Klientin atmet tief durch, wippt mit dem Fuß und greift sich nervös an die Stirn. „Ich find das gerad alles total schwierig. Sie haben ja Recht… aber ich stell mir gerade vor, wie ich nachher nach Hause gehe und mir wieder alle möglichen Gedanken darüber mache, was wir hier besprochen haben und dann…“ Sie wird still und birgt ihr Gesicht in ihren Händen.

Der Therapeut spürt die Betroffenheit. Er merkt, wie berührt er selber ist und ihm sanft die Augen feucht werden. Er kann das Dilemma der Klientin spüren und nachfühlen, wie zerrissen sie sich fühlen muss. Er sagt: „Ich nehme wahr, wie schmerzhaft das gerade für Sie sein muss.“

Die Klientin fängt an zu weinen, still und tief. Es ist, als dürfte sich etwas im Raum ausbreiten, was lange verborgen und weggedrückt war. Und auch wenn noch schwer zu sagen ist, was genau es ist, fühlt es sich dicht und greifbar an.

Die Klientin putzt sich die Nase und sagt: „Ich weiß gar nicht, wann ich das zuletzt so gefühlt habe…“

Therapeut: „Möchten Sie beschreiben, was das ist?“

Klientin: „Ich versuch’s… Sie haben ja vorhin gemeint, es könnte sein, dass ich mich selbst so grausam behandel, um nicht zu merken, wie kalt mich die Menschen behandeln, die in meinem Leben sind… Ich spüre gerade den Schrecken darüber, wie wahr das sein könnte. Und auch wenn ich das am liebsten weghaben möchte, habe ich gerade eine ganz leise Ahnung davon bekommen, wie schön es wäre, wenn ich so leben könnte… also, so, dass das, was ich da mit mir mache, gar nicht nötig wäre.“

Therapeut: „Ich bin froh, dass Sie das sehen können… ja, das wäre sicher eine große Erleichterung…“

Klientin, unter Tränen: „Ja, das wäre es… und ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ich dahin kommen soll.“

Therapeut: „Ja… und die Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, die Sie wahrscheinlich dabei fühlen, sind ja auch der Grund, warum Sie unbewusst dafür sorgen, dass Sie nicht einmal mitbekommen, dass Sie das wollen könnten.“

Klientin: „Ja, die sind auch echt nicht lustig, ey…“

Der Therapeut hält inne und lässt der Wucht in der letzten Äußerung Raum. Dann sagt er: „Das glaube ich Ihnen. Aber vielleicht wird jetzt klarer, was ich mit Orientierung meine. Erst wenn Sie sich vorstellen können, dass der Umgang mit Ihnen liebevoller sein könnte, haben Sie überhaupt nur eine Ahnung, worum es in Ihrer Situation gehen könnte. Das gibt Ihnen zwar keinen 12-Schritte-Plan dafür, wie Sie weiter vorgehen könnten, aber zumindest eine generelle Richtung und einen groben Maßstab.“

Die Klientin sagt amüsiert: „Ja, ich weiß, Sie sind planlos.“

Der Therapeut antwortet ebenso amüsiert: „So isses.“

Klientin: „Können Sie mir nicht irgendwas sagen? Ich halte das so schwer aus!“

Therapeut: „Was finden Sie denn so schwer aushaltbar?“

Klientin: „Naja, wenn ich ernst nehme, was ich da gerade gefühlt habe, finde ich mein Leben total furchtbar! Meine Eltern gehen genau so missachtend mit mir um, wie ich selbst, mein Job fühlt sich sinnlos an und meine Freunde… die sind schon ok, aber ich weiß nicht, ob die verstehen würden, worüber wir hier reden. Und das kann’s doch nicht sein, oder? Ich bin jetzt Mitte 30 und komme überhaupt nicht klar!“

Therapeut: „Ich kann sehen, wie viel das für Sie ist.“

Klientin: „Jawoll! Und ich will das eigentlich keinen Tag länger ertragen müssen. Aber wenn ich das ändern will… da kriege ich einfach nur Panik!“

Auch hier hält der Therapeut inne, damit die emotionale Wucht Raum bekommt. Nach einigen Sekunden Stille sagt er: „Ich kann den Druck spüren und verstehen… Verstehen Sie die Panik?“

Klientin: „Naja… nicht ganz, aber ich denke mir gerad, dass mir dann ja gar nichts mehr bleibt.“

Therapeut: „Sie meinen, Sie wissen dann nicht mehr, welche Form des Lebens zu Ihnen passt?“

Klientin: „Ja… und vielleicht finde ich ja nie eine passende…“

Therapeut: „Es könnte sein, dass Sie diese Form erfinden müssen und sich dafür nur an sich selber orientieren können.“

Klientin: „Oh Gott… das wird hart.“

Therapeut: „Ja, das kann sehr schwierig sein. Vor allem, wenn Sie dafür gewohnte Rollen aufgeben und Konflikte mit Menschen angehen müssen, die Ihnen wichtig sind.“

Klientin: „Das kann ich nicht!“

Therapeut: „Ich kann sehen, dass es im Moment unüberwindbar erscheint. Aber ich bin guten Mutes, dass wir genug über Ihre Angst verstehen können, wenn wir Ihre frühen Erfahrungen mit Ihren Eltern besser kennen.“

Klientin: „Auweia… ich hab’s befürchtet… darüber denke ich überhaupt nicht gerne nach… Wie soll das denn helfen? Können Sie mich nicht lieber hypnotisieren oder igendsowas?“

Therapeut: „Ich glaube leider nicht, dass es wirklich irgendeine Abkürzung darum herum gibt, auch nicht durch das, was Sie unter Hypnose verstehen mögen. Und manchmal wäre es auch mir lieber, man könnte daraus eine OP mit Narkose machen, bei der man als KlientIn aufwacht und alles ist anders, ohne die dunklen und schmerzhaften Ecken beleuchten zu müssen.“

Klientin: „Ja genau, das will ich! Das hätte ich gerne!“ Sie seufzt und fügt hinzu: „Aber gut, ich hab schon verstanden, dass das nicht geht. Trotzdem würde ich gern wissen, was das Wühlen in der Vergangenheit Gutes bewirken soll.“

Der Therapeut hält einen Moment inne und sammelt sich, bevor er fortfährt: „Schauen Sie, Ihr Nervensystem ist ja gerade auf 180. Das heißt, Sie kommen sich sehr bedroht vor und können sich nicht gut schützen, ohne wieder die Wahrnehmung Ihrer tatsächlichen Lebenssituation aus Ihrem Bewusstsein zu drängen. Daraus schließe ich, dass Anteile Ihres Nervensystems berührt werden, die sich strukturiert haben, als Sie sehr jung waren. Und ohne zu wissen, auf was für eine Situation die sich eigentlich beziehen, können Sie nicht unterscheiden, ob Ihre Angst berechtigt ist oder nicht. Es ist, als würden Sie ein Foto von damals über Ihre Wahrnehmung von heute legen und so reagieren, als sei das Foto die Wahrheit.“

Klientin: „Also, Sie meinen, die Angst davor, mein eigenes Leben zu leben, bedeutet gar nicht, dass das so schwierig ist?“

Therapeut: „Das weiß ich nicht. Es ist sicher nicht einfach. Aber wahrscheinlich ist es nicht lebensgefährlich. Deswegen glaube ich, dass die Intensität Ihrer Angst zu anderen Umständen gehört, die Ihnen noch nicht bewusst sind. Wenn Sie herausfinden, welche das sind, können Sie sich wahrscheinlich an Stellen trösten und beruhigen, an denen Sie aktuell nur weg wollen.“

Die Klientin wirkt überfordert: „Ok… das klingt sehr schwierig, aber es ergibt schon Sinn.“ Sie birgt ihr Gesicht noch einmal in ihren Händen. „… und es ist auch ziemlich viel gerade.“

Therapeut: „Ja… das sehe ich. Ich schlage vor, dass Sie das, was wir heute besprochen haben erstmal verdauen. Wir werden noch genug Gelegenheiten haben, uns dem Hintergrund dieser intensiven Gefühle zuzuweden. Wichtig finde ich für den Moment, dass Sie und ich merken, wie Sie sich aus Angst vor Ihren eigenen Urteilen nicht zeigen. Und dass Ihre Urteile, so unangenehm sie sein mögen, eine stabilisierende Funktion haben, die jedoch Ihre Warhnehmung verzerrt und damit eine stimmige Orientierung in Ihrer heutigen Lebenssituation sehr schwer macht. Über alles Weitere würde ich mir im Moment keine Gedanken machen, da es meiner Einschätzung nach ohnehin von selbst auftauchen wird.“

Klientin: „Ja… das ist gut. Darauf werde ich auch erstmal eine Weile herumkauen müssen…“

Therapeut: „Das glaube ich auch. Und wie gesagt, es eilt nicht und Sie müssen sich jetzt auch nichts überlegen. Bewusstsein reicht für den Moment. Ich wünsche Ihnen erstmal gutes Verdauen und eine gute Woche. Und nächste Woche können wir schauen, was aufgetaucht ist.“

Klientin: „Danke… ok, ja… Ihnen auch.“

Die Klientin verlässt hiermit den Praxisraum und der Therapeut schaut noch eine Weile aus dem Fenster, bevor er Folgendes in seine Notizen schreiben: „Projektion des Wunsches angesprochen, sich zu zeigen, Widerstand teilweise bewusst. Klientin mit dem Aggressor identifiziert, behandelt sich unbewusst ebenso lieblos wie ihre Familie, um die Ohnmacht nicht zu spüren. Intensiver, tiefer Schmerz spürbar, wirkt überwältigend, Hinweis auf Trauma. Zusammenhang mit Orientierung erläutert, große Angst vor Konflikten und der Notwendigkeit, sich eigenständig zu vertreten. Gleichzeitig wirkt der Weg alternativlos, da sie alles andere schon ausprobiert hat. Die Intensität fühlt sich nach längerer Arbeit mit einigen Rückfällen an. Ich bin berührt und optimistisch gestimmt.“

Zufrieden steht er auf und geht in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Er hört die Türklingel und der nächste Klient betritt die Praxis.