In einer Unterhaltung mit einem lieben Freund tauchte neulich das
Thema Heldentum auf. Ich verbinde damit ganz unterschiedliche Dinge,
darunter den Stolz und Sinn, den eine Heldengeschichte vermittelt, in
der jemand Großes wagt und Risiken eingeht, um etwas Wertvolles zu
schützen oder zu schaffen. Sie weckt den Wunsch in mir, selbst etwas
Sinnvolles zu tun und das Leben besser oder schöner zu machen. Aber sie
kann auch Überforderung und Selbstentfremdung mit sich bringen, wenn ich
fürchte, an einer Aufgabe zu scheitern und mich zu schämen.
Das Interesse an Heldengeschichten geht bis an den Beginn der
aufgezeichneten Menschheitsgeschichte zurück und scheint auch in der
modernen und postmodernen Kultur unserer Zeit nicht abzureißen, trotz
Aufklärung und rationaler Weltanschauung. Allein die Menge und
Popularität der Superheldenfilme, die mit den zunehmenden technischen
Möglichkeiten immer beeindruckender darstellen können, was sonst nur in
Fantasie und in Form von Tusche darstellbar war, reichen als Hinweis
darauf. Und auch ich liebe diese archetypischen Geschichten, bei denen
die Ordnung am Anfang einer Geschichte durch ein chaotisches Element von
außen bedroht wird und die Heldin oder der Held ihren/seinen Weg
findet, die eigene Kraft zu finden und mit Mut das Chaos zu bezwingen.
In den Superheldenfilmen sind das dann meistens irgendwelche
Superschurken, Aliens, Monster, Gottheiten, die z.B. einen finsteren
Racheplan hegen und alles vernichten wollen, wie etwa Sauron im Herrn
der Ringe oder Thanos in „Avengers: Infinity War“, der mit Hilfe der
Unendlichkeitssteine die Bevölkerung der Galaxis halbieren will, damit
eine abstrakte Balance wiederhergestellt wird. Ein Grund, warum diese
Geschichten mir so reizvoll erscheinen liegt darin, dass die Struktur so
simpel wie tiefgängig ist: Es ist klar, was die Aufgabe ist, was es zu
beschützen gilt, wer der Böse ist und wo es lang geht. Und in der Frage,
wie der Held es schafft, ist immer noch genug Spannung, um dabei zu
bleiben. Aber wie sieht das in unserem Leben aus? Was können wir in der
komplexen Welt der Postmoderne noch als heldenhaft verstehen, ohne ein
schlechtes Gewissen zu bekommen? Was darf als Bedrohung gelten, ohne
dass wir selbst zur Bedrohung werden? Wie lösen wir Probleme, ohne auf
dem Weg selbst zum Problem zu werden? Auch das sind gewissermaßen
archetypische Fragen, die so alt sind wie die Menschheit, deren
Antworten jedoch in jeder Situation wieder neu gefunden und definiert
werden wollen.
Chaos und Ordnung
Ich habe Professor Jordan B. Peterson
den Hinweis auf die mir sehr nützlich erscheinende Perspektive zu
verdanken, unsere Realität als ein Zusammenspiel von Chaos und Ordnung
zu verstehen. Damit ist gemeint, dass wir Zeit unseres Lebens Bereiche
haben, die uns bekannt sind, für die wir innere Landkarten haben, in
denen wir uns bewegen und zurechtfinden können und Bereiche, die neu,
unstrukturiert, möglicherweise auch überwältigend und verwirrend oder
gefährlich, aber auch aufregend und lebendig sein können. Das Yin/Yang-Symbol
bildet diese Konzeptualisierung wunderbar ab. Leben können wir hierbei
vor allem auf dem schmalen Streifen in der Mitte, bei dem wir einen Fuß
in der Ordnung haben und einen im Chaos. Dieser Ort fühlt sich sicher
und stabil genug an, um nicht vor Angst zu vergehen und herausfordernd
und lebendig genug, um nicht in Langeweile zu ersticken.
Wo dieser Punkt im konkreten Leben eines Menschen oder einer
Gesellschaft ist, ist nicht festgelegt, denn es hängt vor allem vom
inneren Wachstum und der inneren Ordnung und Orientierung ab, wie viel
Chaos jemand braucht, um sich lebendig zu fühlen, ohne dabei überwältigt
zu werden. Menschen, die wissen, wo sie stehen, die einen stabilen
Rahmen haben und im Grunde genommen versorgt sind, werden einen Drang
spüren, sich selbst neuen Herausforderungen auszusetzen, zu lernen,
Aufgaben zu übernehmen und Verantwortung zu tragen, um zu spüren, dass
ihr Leben sinn- und bedeutungsvoll ist. Carl Rogers
nannte das die „Selbstaktualisierungstendenz“, die in meinen Augen
fundamental darin besteht, dass wir Freude daran haben, die eigenen
Fähigkeiten und Talente zu nutzen um Ordnung in’s Chaos zu bringen. Ich
wage die Behauptung, dass alle Spiele, wie z.B. Solitär oder Schach,
dieses Grundprinzip haben, in einer Situation der Spannung und Unordnung
eine (Rang-) Ordnung zu finden. Und es ist dieser Prozess, in den wir
uns dafür begeben, der sich nach Flow und Lebendigkeit anfühlt, wenn wir
entsprechend gefordert sind.
Das Empfinden von Lebendigkeit hält sich allerdings nur so lange, wie
uns das Chaos nicht überwältigt und wir den Boden nicht unter den Füßen
verlieren. Passiert uns das durch Verlust, Trennung, Verrat, Übergriff
oder Krankheit hört unsere Landkarte auf, wir kennen uns nicht mehr aus,
wissen nicht, wie wir uns zurechtfinden sollen und landen bildlich
gesprochen in der „Unterwelt“. Alles oder einiges was zuvor funktioniert
hat, geht nicht mehr, wir brauchen neue Lösungen zur Erfüllung unserer
Bedürfnisse und haben doch keine Ahnung, wie es gehen soll, keine
Vorstellung, dass irgendetwas Neues entstehen könnte, was uns den
Zustand der Stabilität und inneren Ruhe zurückbringen könnte. Führt uns
ein solches Ereignis in einen extremen Zustand der Angst, Panik und des
Kontrollverlustes, sprechen wir von einem Trauma, das den Glauben an die
Selbstwirksamkeit untergräbt und somit die Hoffnung auf innere Ordnung
und Kohärenz aussichtslos erscheinen lässt. Durch langsames Sortieren,
Spüren, achtsames Ordnen des Erlebten und viel menschliche Wärme und
Zuwendung können wir in einer solchen Lage eine neue Ordnung finden, die
uns den Zugang zu Kraft und Zuversicht wieder erlaubt. Das Ergebnis
eines solchen Prozesses kann sein, dass wir innerlich besser gewappnet
sind, uns der dunklen, chaotischen und brutalen Seite des Lebens
zuzuwenden und das Erlernte auch anderen zur Verfügung zu stellen.
Hierauf passt der Ausdruck „Was mich nicht umbringt, macht mich
stärker.“
Der Heros in tausend Gestalten
In traditionellen Heldengeschichten finden wir oft das Motiv der
ummauerten Stadt, die Ausgangsort und sicherer Hafen des Helden ist.
Dort ist das Leben friedlich, geordnet, jeder hat seinen Platz und so
lange man innerhalb der Stadtmauern bleibt, ist alles sicher. Bei Star
Wars wäre das Tatooine, auf dem Luke Skywalker groß wird, beim Herrn der
Ringe das Auenland, in welchem Frodo Beutlin unter Obhut seines Onkels
Bilbo ein beschauliches Leben führt. Gautama Buddha verbringt sein Leben
bis zum 29. Lebensjahr im Palast seines Vaters und wird von allen
Formen des Leidens ferngehalten, damit er seine Liebe zum Leben nicht
verliert und ein weltlicher Herrscher wird. Jedoch gelingt es nicht,
diese Ordnung aufrecht zu erhalten, denn außerhalb der Stadtmauern gibt
es ein Element des Chaos, eine Bedrohung und eine Herausforderung, die
zu meistern notwendig ist, um die schon anwesende oder kommende Not zu
wenden. Jemand oder etwas dringt von außen in die Stadt ein und stört
die Ordnung, ist Vorbote für weitere Bedrohungen und fordert zum Handeln
auf, trotz großer Zweifel und Ängste, die jeden erreichen, der vor
einer Situation steht, die er noch nie hat meistern müssen.
Wie kann diese Situation in unserem heutigen Leben aussehen? Denn
gerade in Deutschland und der westlichen Welt ist unser Leben sehr
strukturiert, die „Stadtmauer“ umfassend. Haben wir unser eigenes Leben
einigermaßen stabil auf der Reihe, brauchen wir uns weitestgehend keine
Sorgen um Obdach, die körperliche Sicherheit, die Versorgung mit Nahrung
oder den Schutz vor der Natur zu machen. Was sind die Elemente des
Chaos in unserem heutigen Leben?
Das Universum in deinen Augen
Auf der Maslowschen Bedürfnispyramide
folgen auf die Sicherheitsbedürfnisse, die ich als weitestgehend
erfüllt/erfüllbar betrachte, die sozialen Bedürfnisse. Im Prinzip finde
ich auf dieser Ebene schon wieder genug Chaos für ein ganzes Leben, denn
schon ein anderer Mensch kann so kompliziert sein, dass eine wirklich
authentische, ehrliche Begegnung mit jemandem mein Herz vor Aufregung
schneller schlagen lässt. Ich schlage vor, sich jemanden Vertrautes zu
schnappen und sich gegenseitig mindestens eine Minute lang in die Augen
zu schauen, um zu spüren, was ich meine. Wir haben Regeln, Sitten,
Bräuche und Gewohnheiten um uns gegenseitig genug Sicherheit und
Vorhersehbarkeit zu geben, um es miteinander auszuhalten und nicht vor
Angst davon zu laufen, wenn wir uns begegnen. Aber wenn wir genau
hinschauen, merken wir, dass eine authentische Begegnung zu allem
Möglichen führen kann, auf das wir Lust oder vor dem wir Angst haben
können, je nach innerer Stabilität oder Grad der Verbundenheit mit der
anderen Person. Und wenn ich in einer stabilen Beziehung oder
Freundschaft ein konflikthaftes Thema ansprechen will, weil es mir Druck
macht, merke ich, wie viel Mut ich brauche, um dem potenziellen Chaos
in’s Auge zu blicken, das darauf folgen kann. Deswegen machen wir es
vermutlich oft auch nur, wenn es wirklich nicht mehr anders zu gehen
scheint.
Dienst an der Gemeinschaft
Diese Erfahrung kann ich von der individuellen Ebene auch auf die
kollektive Ebene übertragen, denn wenn schon eine Person kompliziert
ist, wie gehen wir dann mit einer ganzen Gruppe oder unüberschaubaren
„Masse“ von Menschen um, zu denen wir nicht mal eine persönliche
Beziehung haben? Eine Herausforderung unserer Zeit scheint mir die
Prognose zu sein, dass sich das Klima drastisch erwärmen wird, wenn es
uns nicht gelingt, die Treibhausemissionen zu reduzieren. Das verspricht
ein Chaos zu werden, gegen welches unsere aktuelle „Stadtmauer“ nicht
halten kann. Aber wie kann eine umfassende Aufgabe wie diese von der
Position des Individuums aus angegangen werden? Und wie können wir uns
dem zuwenden, ohne vor Verzweiflung gelähmt zu sein, wie es in vielen
Fällen von Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen, der Fall ist?
Für einen Aspekt dabei halte ich, als Individuum öffentlich sichtbar
zu werden und meine Gedanken und Ansichten zur Verfügung zu stellen, in
der Hoffnung, sie mögen anderen bei ihrer Orientierung dienen, ganz im
Bewusstsein, dass ich damit angreifbar werde. Neben der Angst vor
Krankheit und Tod stellt nämlich auch die Angst vor dem Exil und der
Beziehungslosigkeit ein unbedingtes Element des inneren Chaos dar. Wir
sind soziale Wesen, deren Überleben und langfristiges Wohlergehen in
fundamentalem Maß von Beziehungen und gegenseitiger Zuwendung abhängig
ist. Dementsprechend braucht es Mut, sich emotional zu exponieren und
potenzieller Kritik und Ablehnung auszusetzen. Diese Art von
Verletzlichkeit ist vermutlich jedem bekannt, der je für eine ihm oder
ihr wichtige Sache eingestanden ist. Ich bin dankbar für einige
Menschen, die sich öffentlich äußern und offen über Themen nachdenken,
die mich beschäftigen. Das kommt mir gar nicht so einfach vor, weil
offen zu denken erfordert, dass ich meinen Standpunkt bereit bin
anzupassen, wenn im Gespräch neue Perspektiven auftauchen, an die ich
noch gar nicht gedacht habe. Mich als jemand zu zeigen, der fundamental
daran interessiert ist, was ein nützlicher Weg ist, die Welt zu sehen
und zu ordnen, bedeutet, dass ich meine Position bereit bin zu
korrigieren und aufgebe, im Recht sein zu wollen. Gerade der letzte
Punkt kann einen mit Scham in Kontakt bringen und der Angst, von anderen
nicht mehr respektiert oder geschätzt zu werden, wenn sich meine
Perspektive als unzulänglich erweist. Sich dennoch zu zeigen und das
Wagnis eines öffentlichen und offenen Dialoges einzugehen, empfinde ich
aus diesem Grund als heldenhaft.
Klarheit und Mut
Die Voraussetzungen, die ich für diese Art von Heldentum sehe, liegen zum einen in innerer Klarheit,
damit ich weiß, wovon ich spreche, wofür ich kämpfe und warum es mir
wichtig ist. Habe ich diese Klarheit nicht, kann ich gegenüber Angriffen
und Kritik nicht bestehen, da ich zu schnell verunsichert werde,
vergesse, warum mein Anliegen eigentlich wertvoll ist und mich von
anderen in Ecken stellen lasse, in denen sie mich und meine Stimme
ignorieren können, sollte meine Position zu lästig sein. Wirkliche
Veränderung ist unter Umständen alles andere als willkommen, da sie eben
dazu auffordert, haltgebende Ordnung aufzugeben und sich neu zu
orientieren, mit allen Ängsten und Unsicherheiten, die das mit sich
bringt.
Zum anderen braucht es Mut, denn die Angst vor Blamage und
Scheitern gehört inhärent zur Konfrontation des Chaos dazu und ist ab
einem gewissen Punkt nicht reduzierbar, egal wie gut ich mich
vorbereite. Mut jedoch schöpfe ich aus der Einsicht, dass mein Bemühen
Sinn hat, egal ob ich dabei scheitere. Dass es etwas Wichtigeres für
mich gibt, als die Sicherheit, dass es gut ausgeht. In Notsituationen
orientiere ich mich auch an dem Spruch „Wenn ich mit dem Rücken zur Wand
stehe, stärkt mich die Wand.“ – ich weiß, dass jede Alternative mein
Leid vergrößert, also gehe ich das Risiko ein und betrete unbekanntes
Territorium.
Genau das ist der Schritt, den Helden machen, wenn sie einsehen, dass
es letztlich nur zu mehr Leid führt, wenn sie innerhalb der Stadtmauer
bleiben und sich nicht der Herausforderung stellen, die das Element des
Chaos ihnen stellt.