Corona – Wir haben Einfluss darauf, was wir uns vorstellen

Deutschland, Bayern, 05.04.2020

Seit etwa einem Monat ist Corona großes Thema, seit etwa 14 Tagen gelten Ausgangsbeschränkungen in Deutschland. Ich bemerke viele verschiedene Gefühle und Perspektiven dazu, die ich zum Teil in mir trage, zum Teil von anderen höre, mit denen ich offen darüber spreche. Und mir macht Sorge, dass das Gespräch im öffentlichen Raum sehr angespannt wirkt, wir verschiedene Lager haben, die sich sowohl öffentlich, als auch privat gegenseitig anfeinden. Darum möchte ich mit diesem Artikel für Überblick und Möglichkeiten sorgen, etwas in Worte zu fassen, das auch andere Menschen fühlen könnten, ohne so recht zu wissen, wie sie es sagen oder in’s Gespräch bringen sollen.

Wir sind inmitten der Ausgangsbeschränkungen, die hier in Bayern ganz besonders streng sind. Nicht einmal zwei Menschen dürfen sich besuchen oder zusammen spazieren gehen, wenn sie nicht Lebenspartner oder Eltern und Kind sind. Viele Menschen arbeiten von zu Hause aus und wenige begegnen sich noch von Angesicht zu Angesicht. Ich weiß zu schätzen, dass ich als Psychotherapeut noch Menschen sehe und Arbeit habe. Wie die Situation sich entwickelt, kann niemand vorhersehen. Wir bekommen zwar täglich Meldung dazu, aber es ist noch kein Trend erkennbar. Die Umgangsweisen mit dieser Situation sind verschieden, aber es zeichnen sich Muster ab, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Die Ungewissheit des Lebens, die in gewisser Weise immer da ist, ist jetzt besonders deutlich. Und da es keine Konsens-Realität mehr gibt, auf die wir uns berufen könnten, wird deutlich, wie viel Einfluss und Verantwortung jeder einzelne für seine eigenen Vorstellungen und deren innerpsychische Wirkung hat. Eckhart Tolle weist hier auf einen Umgang damit hin, den ich für das eigene Innere nützlich und beruhigend finde.

Der Gewinn

Neben der Gefahr krank zu werden und evtl. daran zu sterben, stelle ich an vielen Punkten fest, dass Menschen aus dieser Situation Gewinn ziehen. Menschen, die Tag für Tag mit Ungewissheit leben und keine langfristigen Pläne haben, fühlen sich derzeit entlastet, weil sie keinen Druck mehr haben, sich etwas aufzubauen oder an etwas zu arbeiten, was im Moment ohnehin nicht geht. Menschen, die Mühe haben, sich abzugrenzen, freuen sich über die aktuellen Bestimmungen, da sie ihnen Legitimation für Abstand und Ruhe geben. Außerdem wirkt es belebend, Verantwortung für etwas Größeres zu übernehmen, wie es der Schutz von Risiko-Personen und des Gesundheitssystems derzeit sein kann. Paare und Familien, die sonst im Alltag kaum Zeit für Präsenz und Zweisamkeit haben, können miteinander zur Ruhe kommen. Lang aufgeschobene Projekte zu Hause können angegangen werden. Außerdem ist diese Situation Gelegenheit, lang gehegte Vorurteile gegenüber der Online-Kommunikation auf den Prüfstand zu stellen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat Videosprechstunden als Standardleistung zugelassen (zuvor durften 20% einer psychotherapeutischen Behandlung per Video abgerechnet werden), Theaterstücke, live-Seminare und Chorproben finden per ZOOM statt, viele Menschen bauen ihr Online-Angebot aus und selbst der Bundestag findet Wege, Ausschüsse und Abstimmungen über Gesetze per Onlinekonferenz stattfinden zu lassen – was in Zukunft Vielfliegerei reduzieren könnte. Ich bin immer wieder dankbar dafür, wie gut unser Internet in weiten Teilen von Deutschland inzwischen ausgebaut ist, dass das weitgehend Störungs- und Verzögerungsfrei möglich ist. Auch freue ich mich über Meldungen darüber, wie Luft, Wasser und Pflanzenwelt sich durch die Pause erholen können und das wesentlich schneller, als ich erwartet hätte. Schon hörte ich Ideen darüber, nach der Bewältigung der Pandemie regelmäßig ein oder zwei Monate „Corona-Ferien“ einzuführen, um die erholenden Effekte zu einem Bestandteil der Post-Corona Normalität zu machen. Ich bin der Idee nicht abgeneigt, auch wenn ich nicht sicher bin, ob es neben den Schutz von Menschleben eine andere Legitimation für die Herausforderungen gibt, die sich aus dieser Situation auch ergeben.

Die Herausforderung

Denn gleichzeitig gibt es viele Menschen, die existenziell in Not kommen, da ihr Einkommen wegfällt. Diese spüren die Entlastung auch, müssen jedoch damit rechnen, im nächsten Monat Miete und Essen nicht bezahlen zu können. Menschen, die single sind und alleine leben, drohen zu vereinsamen und vermissen den nährenden Körperkontakt schon von freundschaftlichen Umarmungen. Ich hatte neulich Gelegenheit einen Hund zu knuddeln und hab darüber gemerkt, dass mich das auch betrifft. Außerdem hat die Anwesenheit von sozialen Kontakten Einfluss auf gesamte Wohlergehen und das Immunsystem. Andere Menschen leben nun auf engem Raum mit ihren Familien zusammen und werden enorm in ihrer Konflikt- und Haltefähigkeit herausgefordert, was häusliche Gewalt und Übergriffe gegenüber Kindern begünstigt. An dieser Stelle werden Fragen der Verhältnismäßigkeit laut. Ab wann wird der Schutz zur Gefahr? Und wie könnte die Rechtfertigung aussehen, die die Wiederaufnahme des öffentlichen Lebens erlaubt, bevor wir sicher genug sind, dass wir die Pandemie unter Kontrolle haben? Was bedeutet „sicher genug“? Außerdem werden Befürchtungen laut, dass die Situation für andere Zwecke missbraucht wird, die weniger mit der Gesundheit der Bevölkerung als mit der Kontrolle über Meinungs- und Bewegungsfreiheit und dem Gewinn von Pharmakonzernen zu tun hat, die an einer Impfung hoffen zu verdienen. Ich mag diese Perspektiven nicht komplett von der Hand weisen, da jede Krise auch Gelegenheit ist – nicht nur für jeden Einzelnen, sondern auch für Menschen und Konzerne, die davon monetär profitieren können. Ich bemerke, dass ich es verführerisch finde, diese Perspektiven schon nur deswegen glauben zu wollen, weil sie meine Befürchtungen besänftigen und mir die Legitimation dafür geben, mich wieder freier zu bewegen und die soziale Isolation zu beenden. Ich wünsche mir dennoch, dass der öffentliche Diskurs pluralistischer wird, als er derzeit ist. Ich vermute, dass die Bundesregierung sehr bemüht ist, die Glaubwürdigkeit der Gefahr, die von Covid-19 ausgeht, nicht durch zu viele alternative Perspektiven zu durchlöchern und somit die Bereitschaft der Bevölkerung zu schützen, sich an die Schutzmaßnahmen zu halten. Gleichzeitig würde die Bundesregierung an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn Bemühungen um Zensur sichtbar würden.

Wie wollen wir damit umgehen?

Ich plädiere für Besonnenheit im Diskurs. Das bedeutet, dass wir zunächst einmal allen Standpunkten eine Absicht unterstellen, die für irgendetwas gut ist, für einen Wert und das Wohl von Menschen eintritt, welches prinzipiell unser Aller Interesse ist. In vielen Debatten über dieses Thema geht die Besonnenheit verloren, weil die Beteiligten die Welt und die anderen Menschen durch die Brille ihrer (zumeist unbewussten) Befürchtungen sehen. Dann werden aus Politikern, die für Klarheit und Struktur sorgen wollen, schnell machtgierige Despoten und aus Bürgern, die ihre Existenz, Bewegungs- und Meinungsfreiheit erhalten wollen, Verschwörungstheoretiker und unverantwortliche Demagogen, die das Leben von Menschen aufs Spiel setzen. Allein die Anspannung, die durch so ein unbewusstes Ausagieren von Befürchtungen entsteht, macht eine umfassende Sicht und Maßnahmen, die dieser entsprechen, unmöglich. Damit meine ich nicht, dass diese Befürchtungen nicht stimmen könnten. Aber mit bewusster Verantwortungsübernahme wird klar, dass es Befürchtungen sind, also Vorstellungen einer Zukunft, die so noch nicht eingetreten ist. Und wie wir damit umgehen, kann zu den berühmten sich selbst erfüllenden Prophezeiungen führen, wie z.B. die allgemeine Knappheit von Klopapier erst dann entsteht, wenn genug Menschen davon ausgehen, dass sie entsteht und entsprechend mehr kaufen, als sie brauchen. Sind wir uns unserer Befürchtungen bewusst, halten sie und schaffen wir Innenraum zur Selbstberuhigung (z.B. durch Meditation) statt daraufhin zu handeln, können wir mit diesem Bewusstsein entspannt genug miteinander sein, um kreativ-konstruktive Lösungen zu finden, ohne uns in Feindbildern und Vorwürfen zu verlieren.

Recht auf Leben = Recht auf Klage?

Um dem Diskurs einen Impuls zu geben, möchte ich auf folgende Schwierigkeit der Entscheidungsträger hinweisen: Wer Verantwortung für die Regeln der Gesellschaft hat und den Auftrag, Leben zu schützen bzw. zu retten, befindet sich in einer Situation, in der sie oder er nur Teile dessen unter Kontrolle hat, womit er beauftragt wurde. Keine Ärztin und kann wirklich garantieren, dass die Patientin nicht stirbt. Und dennoch gibt es das Gebot, dass Ärzte alles Erdenkliche tun müssen, um das Leben zu erhalten. Kommt ein Arzt diesem Gebot nicht nach, macht er sich für Klagen angreifbar. Als potentieller Patient finde ich das beruhigend, jedoch führt es auch zu Situationen, in denen Ärzte Maßnahmen durchführen, die neben dem juristischen Selbstschutz der Ärzte keine Funktion haben und entsprechend kosten. Übertragen auf die Situation der Politik in dieser Zeit stellt sich hiermit die Frage, ab welchem Punkt die Ausgangsbeschränkungen mehr der juristischen Absicherung dienen, als dem allgemeinen Wohl der Menschen. Würden wir auf dieser Basis entscheiden, die Beschränkungen zu lockern, müssten wir aber auch darauf verzichten, Menschen anzuklagen, wenn wir dennoch krank würden. Sind wir bereit, diese Verantwortung zu tragen? Ich bin gespannt auf Gedanken, Perspektiven, Ideen dazu.